1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Er wirkte erleichtert, als Andrea das Wort ergriff: »Also, was Prof. Jones meint, ist, dass Fawcett zwar die Ruinen einer Stadt entdeckt hat, nur leider endet sein Tagebuch dort. Herauszufinden, ob es sich bei den Ruinen tatsächlich um Manoa handelt, liegt bei uns und ist natürlich eins der zentralen Ziele der Expedition.«
Sollte dies tatsächlich die profane Erklärung für Jones‘ rätselhafte Worte sein, fragte sich Lennard. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihm, dass sie die Erklärung geschluckt hatten. Lennard selbst war nicht so leicht zu überzeugen. Klar, Andreas Worte waren einleuchtend, aber hätte Jones diese einfache Erklärung nicht auch selbst geben können? Vielleicht wollte Jones aber auch einfach nur die Autorität von Andrea und Prof. Schmidt herausstellen, mutmaßte Lennard, als ihn Andrea ansprach. »Na Lennard, sind deine Fragen nun beantwortet?«
»Teils, teils. Ich weiß, wo es hingeht, und ich weiß, warum so ein Geheimnis aus der Sache gemacht wurde. Aber das ist eigentlich nur die Spitze des Eisbergs.«
»Wieso?«, fragte sie lächelnd und hakte sich bei ihm ein. Lennard war von der körperlichen Geste überrascht, ließ sie aber widerstandslos zu. Gemeinsam schlenderten sie in Richtung Hotelbar. Ein Hotelangestellter hatte die Tür mittlerweile geöffnet und erwartete die Expeditionsteilnehmer mit einem Tablett voll alkoholischer und nicht-alkoholischer Cocktails am Eingang der Bar.
»Nun, ob eine Expedition ihr Ziel erreicht oder nicht, hängt normalerweise nicht vom Ziel ab, sondern von der Ausrüstung, der Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Teilnehmers, dem Funktionieren als Team und der gewählten Route. Ganz zu schweigen von der Begleitmannschaft.«
»Ich verstehe, aber ist das nicht alles unglaublich faszinierend?«
»Ja, unglaublich faszinierend und unglaublich gefährlich«, kommentierte Lennard ihre Bemerkung.
»Risiko und Chance sind immer die beiden Seiten einer Medaille, Lennard.«
»Tja, und manchmal sind die beiden Seiten unterschiedlich groß.«
Andrea rollte lächelnd die Augen. »Lennard, du Miesepeter, ich werde mir von dir nicht die Vorfreunde verderben lassen und außerdem wollen Prof. Schmidt und ich morgen Vormittag mit dir zur Rita, unserem Amazonas-Flussschiff, damit du die Ausrüstung überprüfen kannst. Wenn etwas fehlt, sagst du einfach Lucas, dem Kapitän, Bescheid. Er wird dann bis zu unserem Ablegen alles besorgen. Zufrieden?«
»Nö, aber durstig«, grinste Lennard und griff sich zwei Caipirinhas von dem angebotenen Tablett. Eins der Gläser hielt er fragend Andrea hin.
»Danke«, nahm sie das kühle Glas entgegen. »Auf eine erfolgreiche Fawcett-Expedition 2013«, prostete sie Lennard fast schon verschwörerisch lächelnd zu.
»Auf unseren Erfolg und eine glückliche Heimkehr«, stieß er sein Glas nun ebenfalls lächelnd leicht gegen das ihre. Beim ersten Schluck schauten sie sich in die Augen. Vielleicht eine Sekunde zu lang.
»Entschuldigen Sie, Mr Larson, aber ich muss Ihnen Dr. Braun mal kurz entführen«, gesellte sich Prof. Schmidt zu den beiden und beendete so ihren Blickkontakt.
»Aber bitte«, grinste Lennard den älteren Herrn freundlich an und schaute sich dann in der Hotelbar um, während Schmidt mit Andrea wieder im Konferenzraum verschwand. Die ganze Bar war im Kolonialstil eingerichtet.
An fünf kleinen runden Tischen, die scheinbar aus Mahagoni waren, standen jeweils drei Korbsessel. Am oberen Ende des Raums befand sich die eigentliche Bar mit dem Tresen. In den Regalen hinter dem Barkeeper konnte Lennard eine beeindruckende Zahl hochprozentiger Getränke ausmachen.
Der hölzerne Deckenventilator, der gemächlich seine Runden drehte, erinnerte Lennard irgendwie an Rick’s Café Americain in Casablanca. Die gegenüber liegende Frontseite der Bar wurde von großen Fenstern und zwei Flügeltüren dominiert, wie man sie in einem Western-Saloon erwarten würde. Die Türen führten auf eine überdachte Veranda, an die der Garten des Hotels angrenzte. Durch die Fenster konnte Lennard erkenne, dass unter dem Vordach kleinere Tische und Schaukelstühle standen, die zum Ausspannen einluden. Nicht schlecht, dachte Lennard und sah sich wieder im Inneren der Bar um.
Das Buffet war an der Wand zum Konferenzraum auf einer länglichen Anrichte aufgebaut worden. Auch nicht schlecht, stellte Lennard fest. Die Society war wirklich nicht knausrig gewesen. Neben Fleisch und Fisch in allen Varianten gab es einen eigenen Bereich für die unzähligen Früchte Amazoniens. Landestypische Gemüsegerichte und Salate rundeten die reichhaltige Palette an Speisen ab. In Anbetracht der Köstlichkeiten spürte Lennard, dass er tatsächlich einen Bärenhunger hatte. Er leerte seinen Cocktail und brachte das Glas zum Tresen. Dabei glitt sein Blick über die lange Wand gegenüber der Fensterfront. Historische Musketen, Macheten, Indianerschmuck und verzierte Masken hingen überall an der hellen Holzvertäfelung. Gestecke aus in allen Farben schillernden Papageienfedern und getrockneten Orchideen verliehen dem Arrangement einen lebendigen, bunten Touch. Ja, die Bar gefiel Lennard ausgesprochen gut. Also, dann wollen wir mal, beendete Lennard seine Betrachtung, nahm sich einen Teller und trat ans Buffet.
Sein Plan war einfach. Er wollte mit jedem der Teilnehmer ins Gespräch kommen und zwar nicht nur, um sie einfach kennenzulernen. Nein, oftmals konnte ein lockerer Plausch wichtige Hinweise über die Stärken und Schwächen eines Expeditionsteilnehmers offenbaren. Wer verfügte über welche Tropenerfahrungen? Wer war schon auf Expeditionen unterwegs gewesen? Wer beherrschte den Umgang mit einer Schusswaffe. Hatte jemand – außer der Ärztin – medizinische Grundkenntnisse und so weiter ging die Liste der Fragen, die Lennard interessierten.
Jetzt dachte Lennard, der gerade unter der Dusche die Wasserhähne zudrehte und sich ein großes Frotteehandtuch schnappte, dass der restliche Abend recht positiv verlaufen war.
Als Erstes hatte er sich zu Olaf Helbig und Martina Wenger gestellt, den beiden Assistenten von Prof. Schmidt. Um von vorneherein ein möglichst gutes, kameradschaftliches Verhältnis zu den beiden aufzubauen, hatte Lennard ihnen umgehend das Du angeboten. Ein Vorschlag, dem die beiden sofort begeistert zugestimmt hatten.
Helbig hatte strohblondes Haar und war mittelgroß. Mit seiner kräftigen Figur hätte er auch als Preisboxer durchgehen können.
Martina Wenger war sehr groß. Sie überragte Helbig bestimmt um einen halben Kopf. Da ihr rotes Haar scheinbar nur schwer zu bändigen war und in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf abstand, wurde der Eindruck sogar noch verstärkt. Genau wie Helbig war sie Archäologin, allerdings mit einem weiteren Schwerpunkt auf Ethnologie und Kulturgeschichte. Zudem war sie mit siebenundzwanzig Jahren das Küken der Expedition.
»Ist dies eure erste größere Expedition?«, erkundigte sich Lennard.
»Für mich schon. Für Martina nicht wirklich«, antwortete Olaf und schaute sie lächelnd an.
Sie erwiderte das Lächeln und wandte sich dann an Lennard: »Ich habe während meines Studiums drei Jahre lang als Entwicklungshelferin in den ärmsten Ländern Afrikas gearbeitet. Wenn das als Erfahrung gilt, bin ich tatsächlich kein Frischling mehr.« In ihrem hübschen Gesicht hatte sich ein offenes Lächeln breitgemacht, herzlich aber auch ein bisschen nachdenklich.
»Ich denke schon, dass das als eine ganze Menge Erfahrung gilt.« Lennard nickte ihr anerkennend zu.
Olaf hatte Martina die ganze Zeit über angestrahlt. Man spürte sofort, dass die beiden mehr verband als ihr Arbeitsplatz und dass Martina, obwohl zwei Jahre jünger, die Reifere von beiden war. Lennard vermutete, dass es daran lag, dass sie bei ihren Auslandsaufhalten auch und vielleicht sogar gerade die schlechten Seiten der Welt gesehen hatte. Am meisten aber beeindruckte ihn die ruhige Art, mit der die junge Frau sprach. Trotz ihres Alters wirkte sie gelassen und selbstbewusst ohne jegliche Spur von Überheblichkeit.
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