Man kann also festhalten, dass, auch wenn sich Fawcetts Spuren im Mai 1925 im Mato Grosso verlieren, ein Hauch von ihm in unsere Zeit geweht worden ist.«
Unter dem Wort »Ende« erschien ein großes rotes Fragezeichen an der Wand.
Die Runde am Tisch kniff kurz die Augen zusammen, als Cameron das Licht wieder hochregelte und Prof. Jones Beamer und Laptop in den Stand-by-Modus schaltete.
»Nun«, übernahm Jones händereibend das Wort, »so viel also zur Vergangenheit. Wenden wir uns aber jetzt der Gegenwart zu.« Als Jones merkte, dass sich Unruhe in der Gruppe breitmachte, hob er beschwichtigend die Hände. »Bitte hören Sie mir noch einen Moment zu. Dann wird sich ein Teil Ihrer Fragen von selbst beantworten.«
Als wieder Ruhe eingekehrt war, fuhr Jones fort: »Also, wie wir gehört haben, ist Fawcett vor nunmehr achtundachtzig Jahren am 30. Mai 1925 verschwunden. Vor einem halben Jahr hätte ich an dieser Stelle noch gesagt spurlos verschwunden, aber das stimmt nicht mehr.
Vor ziemlich exakt sechs Monaten fand niemand anderes als Dr. Andrea Braun …«, lächelnd deutete Prof. Jones auf Lennards Nachbarin, »in einem Antiquariat in Manaus eine Kiste mit alten Dokumente, Zeichnungen und so weiter. Inmitten dieses Durcheinanders entdeckte sie ein Tagebuch. Ein Tagebuch von Percy Fawcett. Das Tagebuch, welches er auf seiner letzten Reise schrieb und«, Jones machte eine dramatische Pause und ließ seinen Blick von einem zum anderen wandern, bevor er erneut anhob, »welches in der Tat weit über den 30. Mai 1925 hinausgeht.«
An den Gesichtern am Tisch konnte Lennard erkennen, dass tatsächlich nur Andrea Braun, Prof. Schmidt und Cameron Bescheid wussten. Alle anderen waren genauso überrascht wie er selbst.
»Die National Geographic Society hat Sie, meine Damen und Herren, ausgewählt, um sich anhand des Tagebuchs erneut auf die Spur von Percy Fawcett zu begeben«, strahlte Jones über den Tisch.
Das Stimmengewirr der Teilnehmer erfüllte sofort den Raum.
»Ins Mato Grosso also«, murmelte Lennard vor sich hin.
»Tief ins Mato Grosso, sehr tief«, bestätigte ihm Andrea, die ihn trotz des Gemurmels verstanden hatte.
»Warum die Geheimniskrämerei?«, fragte jemand. Lennard vermutete Dr. Velmer und wurde durch den Blickkontakt, den Jones mit der Ärztin aufnahm, bestätigt.
»Dafür gibt es einige Gründe, Dr. Velmer«, begann Jones. »Wenn wir frühzeitig bekanntgegeben hätten, dass wir Fawcetts Tagebuch haben und eine Expedition ausrüsten, hätten sich Abenteurer, Glücksritter und andere Expeditionsteams wohlmöglich an Ihre Fersen geheftet. Gewaltsame Konfrontationen wären dann nicht ausgeschlossen gewesen. Zudem führt die Expedition auch in Gebiete, in denen Indianerstämme leben, die noch nie Kontakt zu unserer Zivilisation hatten. Deshalb begleitet ja auch Mr Ruiz als Experte für indigene Völker und als Vertreter der FUNAI-Behörde die Expedition. Er wird sicherstellen, dass ein Kontakt mit den Ureinwohnern, soweit es eben möglich ist, vermieden wird und dass die Rechte der Ureinwohner von der Expedition und jedem einzelnen Teilnehmer jederzeit respektiert und geachtet werden. Bezüglich der Ureinwohner ist seinen Anweisungen unverzüglich Folge zu leisten. Und nun stellen Sie sich mal eine Horde verrückt gewordener Glücksritter vor, die in die Welt der Indios einfällt.«
Prof. Jones machte eine kurze Pause, um dann fortzufahren: »Durch die Geheimhaltung wurde der brasilianischen Regierung Zeit gegeben, die Zahl der Ranger, die ein unbefugtes Eindringen in diese Reservate verhindern sollen, entsprechend zu erhöhen. Nun, da so schnell keine weitere Expedition ausgerüstet werden kann und genügend Ranger eingestellt worden sind, um Ihnen den Rücken freizuhalten und die Indios zu schützen, kann die Society endlich an die Öffentlichkeit gehen. Schließlich brauchen wir auch Geld«, fügte Jones verschwörerisch lächelnd hinzu.
Dr. Velmer erschien etwas irritiert, aber Lennard war klar, dass Prof. Jones über die Vermarktung der Expedition sprach. Rechte für die exklusive Berichterstattung, Rechte für den Abdruck von Fotos, Filmrechte, Werbeeinnahmen et cetera.
»Wundern Sie sich also nicht, wenn morgen die Zeitungen voll mit Berichten über unsere Expedition sind«, wandte sich Jones nun wieder an die gesamte Gruppe. »Eine entsprechende Mitteilung werden Mr Cameron und ich noch heute Abend an die wichtigsten nationalen und internationalen Medienkonzerne verschicken. Bitte schenken Sie mir noch einmal ihre Aufmerksamkeit für einige abschließende Anmerkungen«, beeilte sich Jones anzufügen, bevor sich die Teilnehmer wieder in ihre Zweier- oder Dreierdiskussionen vertiefen konnten.
»Das Hotel«, begann Jones, »hat die Society komplett und ausschließlich für Sie gemietet. Die Familie, die das Hotel betreibt, ist absolut vertrauenswürdig. Sie können miteinander also vollkommen offen über die bevorstehenden Aufgaben sprechen. Da die Expedition erst in drei Tagen beginnt, hoffen wir, dass Sie die Zeit auch nutzen, um sich gegenseitig besser kennenzulernen. Heute Abend haben wir für Sie ein get-together-Buffet geplant, welches in wenigen Minuten hier direkt nebenan in der Hotelbar für Sie eröffnet wird.«
Während er sprach, hatte Jones auf eine Tür an der aus Lennards Sicht gegenüberliegenden Seite gedeutet. Zwischenzeitlich war Cameron nach vorne gegangen und hatte sich den zweiten Schwung Mappen geschnappt, die er jetzt an die Teilnehmer ausgab. Lennard hatte sich sofort in die Unterlagen vertieft und hörte nur noch mit einem Ohr zu, als Jones erklärte, dass die Mappen alle wesentlichen Informationen zur Expedition sowie das entsprechende Kartenwerk enthielten. Dann bat er die Teilnehmer, diese doch gründlich zu studieren.
Der offizielle Teil ist also durch, dachte Lennard, als Prof. Jones zum obligatorischen Teil kam und betonte, wie gerne die Society eine solch einmalige Expedition finanzieren würde. Und als Gegenleistung sämtliche Vermarktungsrechte erhielt, fügte Lennard im Gedanken an.
Darauf folgte die traditionelle Zepterübergabe, als Prof. Jones der Runde mitteilte, dass für alle weiteren Fragen die wissenschaftlichen Leiter der Expedition, Prof. Schmidt und Dr. Braun, gerne zur Verfügung stünden. Er selbst, so verabschiedete sich Jones, würde am Abend vor dem Aufbruch noch einmal im Hotel vorbeischauen, um mit den Teilnehmern auf ein gutes Gelingen der Expedition und eine glückliche Heimkehr anzustoßen.
Jones stand bereits mit der Laptoptasche unter dem Arm und Mr Cameron im Schlepptau in der Tür, die zum Empfang führte, als Lennard seine Mappe zuknallte und sich in Jones‘ Richtung drehte.
»Professor Jones?«
»Mr Larson?«
»Hat Fawcett Manoa gefunden?«
Jones zögerte kurz und fixierte Lennard. Dann nickte er bedächtig. »Nun ja«, sagte Prof. Jones nachdenklich und als er die Tür hinter sich und Cameron schon fast geschlossen hatte, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu, »irgendwas hat er zumindest gefunden.«
Dann verschwanden die beiden endgültig durch die Tür. Einen Moment lang herrschte andächtiges Schweigen in der Runde, bevor sich alle Blicke auf Andrea und Prof. Schmidt richteten, der sich mit einem Taschentuch hektisch den Schweiß vom Nacken tupfte.
Kapitel 2
Am nächsten Morgen wachte Lennard um kurz nach halb acht auf. Trotz des Umstands, dass er erst um zwei Uhr ins Bett gekommen war, fühlte er sich frisch und ausgeruht.
Wahrscheinlich lag das daran, dass ihn sein spezieller Traum in dieser Nacht verschont hatte. Er schlurfte zur Dusche und stellte das Wasser auf gut fünfunddreißig Grad ein. Dann legte der den Kopf in den Nacken und ließ seine Gedanken zurück zum vergangenen Abend schweifen, während das warme Wasser auf seinen Kopf prasselte.
Natürlich war die Runde sofort über Andrea und Prof. Schmidt hergefallen, um zu erfahren, was Jones mit seiner mysteriösen Aussage meinte. Prof. Schmidt lachte nervös auf und räusperte sich.
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