Wobei der Begriff »Einheimische« für die Bewohner von Manaus irgendwie nicht zutraf. Auch wenn der rasante Aufstieg der Stadt erst Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Kautschuk kam, war sie bereits 1669 gegründet worden und von jeher ein Schmelztiegel für die unterschiedlichsten ethnischen Gruppen gewesen. Der eigentümliche Reiz Manaus‘ hatte sie über die Jahrhunderte hinweg magisch angezogen: Europäische Eroberer, gefolgt von Wissenschaftlern und Forschern, gefolgt von Abenteurern und Goldsuchern, gefolgt von Kaufleuten. Nachfahren der Inkas, ehemalige Sklaven, Einwanderer aus der Karibik, noch mehr Forscher, Kautschukbarone, Kaffee-, Kakao-, Bananen- und Ölexperten, sie alle waren in Manaus heimisch geworden. Und irgendwann natürlich auch die Kriminellen und Ausgestoßenen der europäischen und amerikanischen Gesellschaft. Sie alle suchten und suchen in Manaus ihr Glück.
Und in der Tat sah Andrea sich auch als eine dieser Ausgestoßenen – verraten und ausgestoßen vom deutschen Wissenschaftssystem, betrogen um die ihr zustehende wissenschaftliche Reputation. Dass ihre Stelle mit weit mehr Vergünstigungen ausgestattet war, als jede normale Professur in Deutschland, ließ sie dabei nicht gelten.
Natürlich gehörte Andrea ethnisch betrachtet zur Gruppe der Weißen, die gut ein Drittel der 1,8 Millionen Einwohner der Stadt ausmachten. Die mit Abstand größte Bevölkerungsgruppe stellten die wahren Kinder des Schmelztiegels, die Caboclos, die Mischlinge, mit circa sechzig Prozent. Wenn man in Manaus von Einheimischen sprach, meinte man in erster Linie die Caboclos.
Andrea schob sich gerade an einer langen Reihe von Straßenständen vorbei, das sich überschlagende, laute Anpreisen und Gekobere der Händler ignorierend, als sie auf der anderen Straßenseite ein heruntergekommenes Schild entdeckte, welches auf einen Antiquitäten- und Kolonialwarenladen aufmerksam machen sollte. Eigentlich waren genau dies die Läden, in denen sie gerne stöberte. Nur dass dieser hier einen wirklich verwahrlosten Eindruck machte. Durch die verdreckten Scheiben konnte sie in der Auslage Macheten, Landkarten und altertümliche Feldstecher ausmachen. Expeditionsbedarf, erkannte sie. Allerdings sahen die Sachen aus, als hätten sie auch schon vor hundert Jahren in der Auslage gelegen.
Nach kurzem Zögern entschied Andrea, es trotzdem einmal zu probieren. Die Messingklinke knirschte hörbar, als Andrea sie herunterdrückte und den Laden betrat. Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihr entgegen. Staubflocken begannen, durch die Luft zu tanzen, und trudelten langsam wieder zu Boden, als sie die Tür hinter sich schloss. In dem Laden stand die Luft. Typisch für Manaus, aber alles andere als angenehm. Der sich langsam drehende Deckenventilator war mehr Zierde, als dass er die nach kaltem Rauch und Schweiß stinkende Luft zur Zirkulation brachte.
»Boa tarde, moça«, begrüßte sie ein fetter Caboclo hinter dem Verkaufstresen. Das verschwitzte, schmuddelige Hemd des Kerls war Andrea ebenso wenig entgangen wie sein unverhohlen lüsterner Blick. Beides störte sie nicht weiter.
»Olá«, nickte sie in seine Richtung.
»Precisas de ajuda, moça?« Kam es vom Tresen. Dass er sie jetzt schon zum zweiten Mal »moça«, junge Frau, nannte, gehörte zu den Verkaufsritualen in solchen Geschäften, wie Andrea wusste. Heute war ihr nicht nach diesem Balztanz. Also machte sie ihm freundlich, aber bestimmt klar, dass sie ebenso wenig ein junges Mädchen wäre, wie er ein schlanker Jüngling und nein, er könne ihr nicht helfen, da sie sich erst mal umsehen wollte.
»Sim, Sim«, beeilte der Kerl sich, leicht unterwürfig zu beschwichtigen und fügte dann »tudo puro, tudo barato« hinzu, während er ausladend auf seine Waren deutete.
Natürlich, musste Andrea schmunzeln, alles echt, alles billig, ja, ja.
Als sie sich dem ersten der drei schmalen Gänge zuwandte, die sich durch die bis zur Decke vollgepackten Regale schlängelten, wusste sie, dass der Kerl ihr auf den Hintern stierte. Auch das störte sie heute ausnahmsweise nicht. Im Gegenteil.
Die Regale enthielten Gebrauchsgegenstände. Mehr oder weniger brauchbar. Mehr oder weniger echt. Mehr oder weniger preiswert. Alle dreckig und von einer Staubschicht bedeckt und alle für Andrea absolut uninteressant. An einer Fliegenfalle, die unter der Decke hing, klebten unzählige Moskitos. Ausverkauft, alle Plätze besetzt, ekelte sie sich.
Am Ende des Ganges entdeckte sie einen großen Spiegel. Die Goldlackierung des pseudo-barocken Rahmens war großflächig abgeblättert und Teile des Spiegels waren mit Rostflecken gesprenkelt oder bereits blind geworden. Dennoch konnte sie sich in dem Spiegel komplett betrachten.
Gar nicht so schlecht, moça, dachte sie.
Trotz ihrer fünfundvierzig Jahre hatte sie nach wie vor eine schlanke Figur mit den richtigen Kurven am Hintern. Der enganliegende Rock betonte zudem ihre Beine. Die Blicke des Kerls hinter dem Tresen waren für Andrea ein Indikator dafür, dass ihr Hintern immer noch knackig war. Gleiches galt für ihre Brüste: Fest wie vor zwanzig Jahren, nicht zu groß, aber auf gar keinen Fall klein, füllten sie ihre Bluse aus. Wenn sie in ihren Uni-Veranstaltungen die oberen beiden Knöpfe offen ließ, wurden ihrer männlichen Studenten in den ersten Reihen immer noch nervös.
Vielleicht, überlegte sie, hat mein Busen die Form behalten, weil noch nie ein Kind daran gestillt worden ist. Tja, alles hat seine Vor- und Nachteile, philosophierte sie. Dann betrachtete sie ihr Gesicht.
Ihre Lippen waren voll und sinnlich. Ein echter Kussmund hatte ihr Ex immer gesagt. Eines seiner wenigen ernstgemeinten Komplimente. Ihre Nase war aristokratisch gerade und eher schmal. Ihre braunen Mandelaugen ließen sie irgendwie verletzlich wirken und weckten bei den Männern den Beschützerinstinkt. Ein Umstand, den sie sich außerhalb ihrer akademischen Karriere immer zunutze gemacht hatte. Vielleicht war es aber gerade das, was den Beschützerinstinkt der Männer ansprach, was sie zugleich als zu schwach für eine Professur erscheinen ließ.
Tja, alles hat seine Vor- und Nachteile, fuhr sie mit ihrer Betrachtung fort.
Ihr dunkelblondes Haar – Gott sei Dank war noch kein einziges graues dabei – trug sie in einer modischen Kurzhaarfrisur, was ihre Augen und ihren vollen Mund zusätzlich zur Geltung brachte. Zum Glück. In Manaus hatte man als Frau, insbesondere als Weiße, frisurentechnisch wenige Optionen. Bei Temperaturen, die zu jeder Jahreszeit tagsüber auf über dreißig Grad klettern und nachts nie unter dreiundzwanzig Grad fielen, und einer Luftfeuchtigkeit zwischen achtzig und fünfundneunzig Prozent war man als Frau dazu verdammt, eine Kurzhaarfrisur oder einen Pferdeschwanz zu tragen. Wem das nicht stand, hatte Pech gehabt. Eine offene Langhaarfrisur endete unweigerlich in einer an Nacken, Hals und Wangen klebenden, verschwitzten Katastrophe.
Andreas kurzes Haar stand ihr perfekt. Und auch wenn sich um Augen und Mund einige Falten eingegraben hatten, ging sie locker für Mitte bis Ende dreißig durch. Für Mitte dreißig und sexy, richtig sexy, stellte sie befriedigt fest.
Nach diesem kleinen Höhenflug schob sich wieder die dunkle Wolke in ihre Gedanken, die sie schon den ganzen Tag über zu verdrängen suchte. Am Morgen hatte ihr Ex sie angerufen und ihr angetrunken verkündet, dass er wieder heiraten wolle. Seine Assistentin. Fünfundzwanzig Jahre alt.
Die Frage, ob sie sich denn gar nicht für ihn freuen würde, hatte den Vogel dabei abgeschossen.
Natürlich freue ich mich, dass du jetzt eine Fünfundzwanzigjährige vögelst, du widerlicher Bock, grollte es noch immer in ihr. Das Telefonat hatte sie wütend gemacht. Und noch mehr hatte sie die Erkenntnis aus der Fassung gebracht, dass das Telefonat sie wütend gemacht hatte. Ihr Ex war doch ein abgeschlossenes Kapitel! Was interessierten mich seine Sexeskapaden in Deutschland? Kein bisschen, aber auch nicht das Geringste, stellte sie für sich mit Nachdruck fest.
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