1 ...8 9 10 12 13 14 ...55 Joe erinnerte sich dieser denkwürdigen Begebenheit zwar genau, beteuerte aber, dass er sie vollkommen vergessen habe.
„Nun, weißt du noch, wie du mich vor deiner Abreise nach Indien in einer Gig bei Doktor Swishtail besuchen kamst und wie du mir eine halbe Guinee gabst und mir dabei den Kopf tätscheltest? Es schien mir immer, als seist du mindestens zwei Meter groß, und ich war daher bei deiner Rückkehr aus Indien ganz erstaunt, dass du nicht größer warst, als ich selbst bin.“
„Wie lieb war es von Mr. Sedley, in Ihre Schule zu kommen und Ihnen Geld zu schenken!“ rief Rebekka, mit dem Ausdruck des äußersten Entzückens.
„Ja, noch dazu, wo ich doch die Troddeln von seinen Stiefeln abgeschnitten hatte. Knaben vergessen solche Geschenke, die sie während ihrer Schulzeit erhalten, nie und ebenso wenig die Geber.“
„Ich liebe Reitstiefel“, sagte Rebekka. Joe Sedley, der seine Beine außerordentlich bewunderte und stets hochwertige Schuhe trug, war über die Bemerkung höchlich erfreut, wenn er auch seine Beine dabei unter den Stuhl zurückzog.
„Miss Sharp“, schlug George Osborne vor, „Sie als geschickte Künstlerin müssen uns ein großartiges historisches Gemälde von der Stiefelszene liefern. Sedley muss in ledernen Hosen dargestellt sein, mit einem der beschädigten Stiefel in einer Hand; mit der andern muss er mich an der Hemdkrause halten, und Amelia kniet mit erhobenen Händen neben ihm. Das Gemälde soll einen großartigen allegorischen Namen tragen, wie die Titelblätter in der Medulla und in der Abc-Fibel.“
„Hier werde ich aber keine Zeit dazu haben“, sagte Rebekka. „Ich will es machen, wenn – ich fort bin.“ Und sie ließ die Stimme sinken und sah so traurig und elend aus, dass jedermann fühlte, wie grausam ihr Los sei und wie ungern man sich von ihr trennen würde.
„Ach, wenn du doch länger bleiben könntest, liebe Rebekka“, sagte Amelia.
„Warum?“ gab die andere, noch trauriger, zurück. „Damit ich noch unglück ... damit es noch schwerer wird, dich zu verlassen?“ Sie wandte den Kopf ab. Amelia begann, ihrem natürlichen Hang für Tränen, der, wie gesagt, eine Schwäche dieses einfältigen kleinen Dinges war, nachzugeben. George Osborne blickte die beiden jungen Mädchen gerührt und neugierig an, und Joseph Sedley holte aus seinem mächtigen Brustkasten etwas hervor, was einem Seufzer sehr ähnlich war, und ließ seine Augen auf seinen teuren Reitstiefeln ruhen.
„Wollen wir nicht ein bisschen Musik machen, Miss Sedley – Amelia?“ bat George, der in diesem Augenblick eine außerordentliche, fast unwiderstehliche Lust verspürte, das erwähnte junge Mädchen in die Arme zu schließen und vor den Augen der ganzen Gesellschaft zu küssen, und sie sah ihn eine Sekunde lang an, aber wenn ich sagen wollte, dass sie sich in diesem Moment ineinander verliebten, dann wäre das wahrscheinlich nicht die Wahrheit; denn es steht fest, dass die Eltern diese beiden jungen Leute auf dieses Ziel hin erzogen hatten und ihr Aufgebot sozusagen schon seit zehn Jahren in den jeweiligen Familien immer wieder verlesen worden war. Sie begaben sich zum Klavier, das, wie es meist üblich ist, in dem hinteren Teil des Salons stand, und da es ziemlich dunkel war, legte Miss Amelia auf die natürlichste Weise der Welt ihre Hand in die Mr. Osbornes, der selbstverständlich den Weg zwischen den Stühlen und Ottomanen viel besser finden konnte als sie. Das aber ließ Mr. Joseph Sedley tête à tête mit Rebekka am Salontisch, wo das Mädchen mit dem Knüpfen einer grünseidenen Börse beschäftigt war.
„Man braucht dort nach Familiengeheimnissen nicht erst zu fragen“, meinte Miss Sharp. „Diese beiden haben ihres verraten.“
„Sobald er eine Kompanie bekommt“, sagte Joseph, „glaube ich, wird die Sache in Ordnung kommen. George Osborne ist ein so feiner Bursche wie nur je einer.“
„Und Ihre Schwester ist das netteste Geschöpf der Welt“, fuhr Rebekka fort. „Glücklich der Mann, der sie heimführt!“ Bei diesen Worten seufzte Miss Sharp tief auf.
Wenn zwei Unverheiratete zusammen sind und so delikate Themen wie dieses besprechen, so stellt sich bald ein vertrauter und intimer Ton zwischen ihnen ein. Wir brauchen das Gespräch nicht wiederzugeben, das Mr. Sedley und die junge Dame nun führten; denn die Unterhaltung war, wie schon aus der vorangegangenen Probe ersichtlich, weder besonders witzig noch wortreich; in Privatgesellschaften und auch sonst ist sie das selten, außer in überspannten und ausgeklügelten Romanen. Da nebenan musiziert wurde, so sprachen sie natürlich dementsprechend leise, obwohl das Paar nebenan auch durch eine noch so laute Unterhaltung nicht gestört worden wäre, denn sie waren mit ihren eigenen Angelegenheiten vollauf beschäftigt.
Fast zum ersten Male in seinem Leben, so kam es Mr. Sedley vor, sprach er ohne die mindeste Schüchternheit und ohne zu stocken mit einer Person des anderen Geschlechts. Miss Rebekka befragte ihn ausführlich über Indien, was ihm Gelegenheit bot, manche interessante Anekdote über jenes Land und sich zum Besten zu geben. Er beschrieb die Bälle im Regierungsgebäude, erzählte, wie man sich bei heißem Wetter mittels Punkahs, Tattys und anderen Einrichtungen Erfrischung verschaffe, äußerte sich höchst witzig über die Schotten, die Lord Minto, der Generalgouverneur, begünstigte; und dann berichtete er von einer Tigerjagd, wobei eins dieser wütenden Tiere seinen Elefantentreiber vom Sitz heruntergerissen hatte. Wie entzückt war Miss Rebekka von den Regierungsbällen, wie lachte sie über die Geschichten von den schottischen Adjutanten und nannte Mr. Sedley dabei einen schlimmen, mutwilligen Spötter; und wie erschrocken war sie über die Beschreibung von dem Elefanten! „Um Ihrer Mutter willen, lieber Mr. Sedley“, bat sie, „um all Ihrer Freunde willen, versprechen Sie mir, dass Sie sich nie, nie mehr auf ein so schreckliches Unternehmen einlassen!“
„Pah, Miss Sharp“, sagte er und zog den Hemdkragen hoch, „die Gefahr macht ja den Sport erst aus.“ Er hatte erst einmal an einer Tigerjagd teilgenommen, und zwar gerade, als der fragliche Vorfall sich ereignete, und dabei war er beinahe gestorben – nicht durch den Tiger, sondern vor Angst. Als er mit der Unterhaltung fortfuhr, wurde er immer kühner und erdreistete sich tatsächlich, Miss Rebekka zu fragen, für wen sie wohl die grünseidene Börse arbeite? Er war sehr überrascht und entzückt über seine anmutige, vertrauliche Art.
„Für irgend jemand, der eine Börse braucht“, erwiderte Miss Rebekka und blickte ihn äußerst sanft und gewinnend an. Sedley war im Begriff, eine seiner wortreichsten Reden zu halten, und hatte gerade begonnen: „Oh, Miss Sharp, wie...“, als ein Lied, das nebenan gesungen wurde, endete und er seine eigene Stimme so deutlich vernahm, dass er innehielt, errötete und sich in großer Aufregung schnäuzte.
„Haben Sie je so etwas wie Ihres Bruders Beredsamkeit gehört?“ flüsterte Mr. Osborne Amelia zu. „Ich muss schon sagen, Ihre Freundin hat Wunder gewirkt.“
„Umso besser“, sagte Miss Amelia, die, wie fast alle unnützen Frauen, im Innersten eine Kupplerin war und die erfreut gewesen wäre, wenn Joseph eine Frau nach Indien mitgenommen hätte. Sie hatte im Laufe dieser wenigen Tage, in denen sie beständig mit Rebekka zusammen war, eine innige Zuneigung zu dem Mädchen gefasst und hatte an ihr unzählige Tugenden und liebenswürdige Eigenschaften entdeckt, die sie nicht bemerkt hatte, solange sie beide in Chiswick waren. Die Freundschaft junger Mädchen wächst ebenso schnell wie Jacks Zauberbohne und erreicht in einer einzigen Nacht den Himmel. Man kann ihnen nicht übelnehmen, wenn, nach der Heirat diese „Sehnsucht nach der Liebe“ nachlässt. Was sentimentale Leute, die gerne große Worte machen, die Sehnsucht nach dem Ideal nennen, bedeutet einfach, dass Frauen gewöhnlich nicht zufrieden sind, bis sie Männer und Kinder haben, auf die sie ihre Liebe, die sonst gleichsam in kleiner Münze ausgegeben wird, konzentrieren können.
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