„Heute Abend wird nichts daraus“, sagte Joe.
„Na, dann morgen.“
„Morgen bin ich mit eurem Vater zum Essen eingeladen“, sagte Mrs. Sedley.
„Du glaubst doch nicht etwa, dass ich gehe, Mrs. Sed?“ fragte ihr Mann. „Und dass eine Frau in deinem Alter und mit deiner Figur sich an so einem abscheulich feuchten Orte eine Erkältung holen soll?“
„Es muss doch aber jemand die Kinder begleiten!“ rief Mrs. Sedley.
„Joe mag mitgehen“, sagte der Vater lachend. „Er ist gewichtig genug dazu.“ Bei diesen Worten musste selbst Mr. Sambo am Seitentisch lachen, und der arme, dicke Joe verspürte die Neigung, der Mörder seines Vaters zu werden.
„Schnürt ihm das Korsett auf!“ fuhr der alte Herr mitleidlos fort. „Spritzen Sie ihm doch Wasser ins Gesicht, Miss Sharp, oder tragen Sie ihn hinauf, das liebe Geschöpf fällt gleich in Ohnmacht. Armes Opferlamm! Tragt ihn hinauf, er ist federleicht!“
„Verdammt, wenn das jemand aushält!“ brüllte Joseph.
„Lasse Mr. Joes Elefanten kommen, Sambo!“ rief der Vater. „Schick zum Zoo, Sambo.“ Als aber der alte Witzbold sah, dass Joe vor lauter Ärger fast in Tränen ausbrach, hörte er auf zu lachen, streckte seinem Sohn die Hand entgegen und sagte: „Es herrscht ein offener Ton an der Börse, Joe – und du, Sambo, lasse den Elefanten und gib mir und Mr. Joe ein Glas Champagner. Selbst Bony hat nicht solchen im Keller, mein Junge!“
Ein Glas Champagner stellte Josephs Gleichmut wieder her, und noch ehe die Flasche geleert war – er, der Kranke, trank zwei Drittel davon –, hatte er seine Einwilligung gegeben, die jungen Damen nach Vauxhall mitzunehmen.
„Die Mädchen müssen jede einen Herrn haben“, sagte der alte Herr. „Joe verliert Emmy bestimmt im Gedränge, Miss Sharp wird seine Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen. Schickt nach Nr. 96 und fragt bei George Osborne an, ob er mitfahren will.“
Ich weiß nicht warum – aber bei diesen Worten sah Mrs. Sedley lachend ihren Mann an, und Mr. Sedleys Augen zwinkerten unbeschreiblich schalkhaft, wobei er Amelia anblickte; und Amelia ließ den Kopf hängen und errötete, wie nur Siebzehnjährige erröten können und wie Miss Rebekka Sharp in ihrem ganzen Leben nie errötet war – wenigstens nicht seit ihrem achten Jahr, als sie von ihrer Patin beim Marmeladenaschen im Speiseschrank ertappt wurde. „Amelia sollte lieber ein paar Worte schreiben“, meinte der Vater, „damit George Osborne sieht, was für eine schöne Handschrift wir aus Miss Pinkertons Schule mitgebracht haben. Erinnerst du dich noch, Emmy, wie du ihn zum Dreikönigsfest zu uns einludst und Fest mit ß schriebst?“
„Ach, das ist viele Jahre her“, wehrte Amelia ab.
„Es ist, als ob es erst gestern gewesen wäre, nicht wahr, John?“ wandte sich Mrs. Sedley an ihren Mann, und in jener Nacht führten beide noch ein Gespräch. Es fand in einem Vorderzimmer des ersten Stockwerkes statt, in einer Art Zelt aus Vorhängen aus kostbarem Stoff mit phantastischen indischen Mustern, gefüttert mit zartrosa Kaliko. Im Innern dieses Prunkzeltes stand ein Bett, auf dem sich zwei Kissen befanden, und auf jedem lag ein rundes, rotes Gesicht, eins umrahmt von einer spitzenbesetzten Nachthaube, eins von einer einfachen baumwollenen Zipfelmütze. In diesem Gespräch, buchstäblich eine Gardinenpredigt, stellte Mrs. Sedley ihren Mann wegen der grausamen Behandlung des armen Joe zur Rede.
„Es war nicht nett von dir, Sedley“, sagte sie, „den armen Jungen so zu quälen.“
„Meine Teure“, verteidigte sich die baumwollene Zipfelmütze, „Joe ist noch deutlich eitler, als du je in deinem ganzen Leben gewesen bist, und das will schon etwas heißen. Dabei hattest du wahrscheinlich vor etlichen dreißig Jahren, so um siebzehnhundertachtzig, einige Ursache zur Eitelkeit, ich kann's nicht leugnen. Aber Joe mit seiner stutzerhaften Schüchternheit macht mich ungeduldig. Er ist schlimmer als der andere Joseph, meine Liebe, und dabei denkt der Junge doch die ganze Zeit nur an sich selbst und was für ein hübscher Bursche er ist. Ich glaube fast, Madame, wir werden mit ihm noch unsere liebe Not haben. Da ist nun Emmys kleine Freundin, die ihn nach Leibeskräften umgirrt, das ist ganz offensichtlich; und wenn sie ihn nicht kapert, dann kapert ihn eine andere. Dieser Mann ist nun einmal dazu bestimmt, den Frauen zur Beute zu fallen, wie ich, täglich zur Börse zu gehen. Wir können noch von Glück sagen, meine Liebe, dass er uns nicht eine schwarze Schwiegertochter mitgebracht hat. Aber denk an meine Worte, die erste Frau, die nach ihm angelt, fängt ihn auch.“
„Morgen noch soll sie fort, dieses geriebene kleine Geschöpf“, stieß Mrs. Sedley energisch hervor.
„Warum nicht sie ebenso gut wie eine andere, Mrs. Sedley? Immerhin hat das Mädchen ein weißes Gesicht. Mir ist es gleichgültig, wer ihn heiratet. Joe kann tun und lassen, was er will.“
Bald darauf verstummten beide Stimmen und wurden von der sanften, aber unromantischen Musik der Nase ersetzt. Wenn nicht gerade die Kirchenglocken die Stunden schlugen und der Nachtwächter sie ausrief, war es still im Hause von John Sedley, Esquire und Börsenmann vom Russell Square.
Als der Morgen kam, dachte die gutmütige Mrs. Sedley nicht mehr daran, ihre Drohungen gegen Miss Sharp in die Tat umzusetzen; denn obgleich nichts wachsamer und verbreiteter, aber auch nichts mehr zu rechtfertigen ist als mütterliche Eifersucht, so konnte sie es doch nicht glauben, dass die einfache, dankbare, sanfte kleine Erzieherin es wagen würde, zu einer herrlichen Persönlichkeit wie dem Steuereinnehmer von Boggley Wollah aufzusehen. Auch war das Gesuch um Urlaubsverlängerung für die junge Dame bereits abgesandt, und man konnte nicht leicht einen Vorwand finden, sie so plötzlich wegzuschicken.
Und als ob alles sich zugunsten der freundlichen Rebekka verschworen härte, kamen ihr sogar die Elemente zu Hilfe, obgleich sie anfangs nicht geneigt war, deren Eingreifen als günstig für sie zu betrachten. Denn am Abend, den man für Vauxhall bestimmt hatte – George Osborne war zum Essen gekommen, und die beiden älteren Herrschaften waren ihrer Einladung gefolgt und speisten bei Alderman Balls in Highbury Barn -, gab es ein solches Gewitter, wie sie nur an Vauxhall-Abenden vorkommen, und so sahen sich die jungen Leute gezwungen, zu Hause zu bleiben. Mr. Osborne schien über diesen Verlauf der Dinge nicht im mindesten enttäuscht zu sein. Er und Joseph Sedley tranken tête à tête im Speisezimmer ein gehöriges Quantum Portwein, und dabei erzählte Sedley eine Anzahl seiner besten indischen Geschichten, denn in Männergesellschaft war er sehr gesprächig. Später machte Miss Amelia Sedley die Honneurs im Salon, und die vier jungen Menschen verbrachten den Abend so angenehm miteinander, dass sie erklärten, sie seien ganz zufrieden, dass sie wegen des Gewitters ihren Besuch in Vauxhall hätten aufgeben müssen.
Osborne war Sedleys Patenkind und gehörte seit dreiundzwanzig Jahren so gut wie zur Familie. Als er sechs Wochen alt war, hatte ihm John Sedley einen silbernen Becher geschenkt; im Alter von sechs Monaten eine goldene Klapper mit Pfeifchen und Glöckchen und einer Beißkoralle daran; von seiner Kindheit an bekam er regelmäßig zu Weihnachten von dem alten Herrn ein Geldgeschenk; auch erinnerte er sich noch genau, wie er, George, ein frecher zehnjähriger Bengel, einmal, als er zur Schule zurückkehrte, von Joseph Sedley, dem dicken, großtuerischen Tölpel, tüchtig durchgeprügelt wurde. Mit einem Wort, George war mit der Familie so vertraut, wie es solche täglichen Freundschaftsbeweise und Umgangsformen nur mit sich bringen konnten.
„Weißt du noch, Sedley, wie wütend du warst, als ich die Troddeln von deinen Reitstiefeln abschnitt, und wie Miss – hm! – wie Amelia mir den Genuss einer Prügelsuppe ersparte, indem sie auf die Knie niederfiel und ihren Bruder Joe flehentlich bat, den kleinen George doch nicht zu schlagen?“
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