So ging die Unterhaltung weiter. Ich weiß nicht, unter welchem Vorwand Osborne das Zimmer verließ oder warum Amelia sich wenig später entfernte – wahrscheinlich doch, um das Zerteilen der Ananas zu überwachen; Joe blieb jedenfalls mit Rebekka allein zurück, die wieder zu ihrer Arbeit gegriffen hatte, und die grüne Seide sowie die glänzende Nadel zuckten unter ihren weißen, dünnen, flinken Fingern.
„Was für ein schönes, ein schööönes Lied Sie uns gestern Abend gesungen haben, liebe Miss Sharp“, sagte der Steuereinnehmer. „Ich hätte beinahe geweint, wirklich, Ehrenwort.“
„Weil Sie ein gutes Herz haben, Mr. Joseph; alle Sedleys haben ein gutes Herz, glaube ich.“
„Es hielt mich die ganze Nacht wach, und heute Morgen habe ich versucht, es im Bett zu summen, wirklich, Ehrenwort. Gollop, mein Arzt, kam um elf Uhr zu mir (denn ich bin, wie Sie wissen, äußerst leidend, und Gollop besucht mich täglich), und, bei Gott, da sang ich gerade wie ein Rotkehlchen.“
„Oh, Sie drolliges Geschöpf! Singen Sie es doch einmal vor!“
„Ich? Nein, Sie, Miss Sharp; Sie müssen es singen, meine liebe Miss Sharp!“ „Nicht jetzt, Mr. Sedley“, seufzte Rebekka. „Ich bin nicht in Stimmung; auch muss ich die Börse fertigmachen. Wollen Sie mir helfen, Mr. Sedley?“ Und ehe er noch wie? fragen konnte, saß Mr. Joseph Sedley, Beamter der Ostindischen Kompanie, tête à tête mit einer jungen Dame, warf ihr mörderische Blicke zu und streckte ihr flehend die Arme entgegen, die Hände waren ihm mit einer Lage grüner Seide gefesselt, die sie aufwickelte.
In dieser romantischen Stellung fanden Osborne und Amelia das interessante Paar, als sie hereinkamen und verkündeten, dass das Frühstück bereit sei. Die Seide war gerade fertig aufgewickelt, aber Mr. Joe hatte keine Silbe gesprochen.
„Bestimmt wird er sich heute Abend erklären, meine Liebe“, sagte Amelia und drückte Rebekkas Hand; und auch Sedley war mit seinem Herzen zu Rate gegangen und hatte sich gesagt: Bei Gott, in Vauxhall will ich die große Frage stellen.
Cuffs Kampf mit Dobbin und der unerwartete Ausgang dieser Schlägerei werden allen Zöglingen aus Doktor Swishtails berühmter Schule noch lange im Gedächtnis haften. Dobbin (den die Knaben auch Dös-Dobbin, Hottehü-Dobbin nannten und mit vielen verächtlichen Spitznamen bedachten) war der ruhigste, schwerfälligste und, wie es schien, dümmste von allen jungen Herren bei Doktor Swishtail. Sein Vater hatte einen Kramladen in London, und man munkelte, er sei in Doktor Swishtails Schule nur unter der Bedingung „gegenseitiger Verbindlichkeit“ aufgenommen worden, das heißt, sein Vater bezahle für Lebensunterhalt und Ausbildung mit Waren anstatt bar, und der junge Dobbin stand nun – einer der Letzten der Schule – in schäbigen Kordhosen und einer Jacke, deren Nähte seine groben Knochen sprengten, als Verkörperung von soundso vielen Pfund Tee, Kerzen, Zucker, billiger Seife und Rosinen (wovon nur eine sehr geringe Menge für den Schulpudding geliefert wurde) und anderer Waren. Es war ein fürchterlicher Tag für den jungen Dobbin, als einer der Zöglinge, von einem Jagdzug durch die Stadt auf Zuckerwerk und Würstchen zurückgekehrt, erspähte, wie vor des Doktors Tür ein Frachtkarren von Dobbin und Rudge, Spezerei- und Delikatessenhandlung, London, Thames Street, voller Waren, mit denen die Firma handelte, entladen wurde.
Von da an hatte der junge Dobbin keine ruhige Minute mehr. Fürchterliche und grausame Neckereien wurden mit ihm getrieben. „He, Dobbin“, verkündete einer der Witzbolde, „da stehen gute Nachrichten in der Zeitung; Zucker wird teurer, mein Junge.“ Ein anderer stellte ihm eine Rechenaufgabe: „Wenn ein Pfund Kerzen siebeneinhalb Pence kostet, wieviel kostet dann Dobbin?“ Und jedes Mal folgte ein schallendes Gelächter der jungen Schurken, in das der Hilfslehrer und alle anderen einstimmten, die den Einzelhandel richtig als schandbare, nichtswürdige Tätigkeit verdammten und meinten, er verdiene Spott und Verachtung eines jeden wahren Gentlemans.
„Dein Vater ist doch auch nichts anderes als ein Kaufmann, Osborne“, sagte Dobbin unter vier Augen zu dem kleinen Knaben, der den Sturm gegen ihn heraufbeschworen hatte. Dieser antwortete darauf nur hochmütig: „Mein Vater ist ein Gentleman und hält eine Equipage.“ Mr. William Dobbin aber zog sich in einen Schuppen im Hintergrund des Spielplatzes zurück, wo er den freien Nachmittag in bitterster Trauer und Wehmut verbrachte. Wer unter uns erinnert sich nicht ähnlicher Stunden bitteren, ach, so bitteren Kinderkummers? Wer empfindet eine Ungerechtigkeit so tief, wen kränkt Geringschätzung so sehr, wer hätte ein so feines Gefühl für Recht und Unrecht, wer ist so dankbar für jede Freundlichkeit wie ein edelmütiger Knabe? Und ach, wie viele solcher sanften Gemüter erniedrigt, beleidigt und quält ihr wegen ein paar arithmetischer Formeln und einiger Brocken Küchenlatein!
William Dobbin jedenfalls war stets unter den allerletzten Schülern Doktor Swishtails zu finden, da er sich außerstande sah, auch nur die Anfangsgründe der obigen Sprache, wie sie in der wunderbaren „Etoner Lateinischen Grammatik“ aufgeführt sind, zu erlernen. Er wurde ständig von kleinen rotwangigen Bürschchen, die noch Lätzchen trugen, gehänselt, wenn er mit der untersten Klasse aufmarschierte, ein Riese unter den Kleinen, niedergeschlagenen, erschrockenen Blickes, in seinen engen Kordhosen, die Fibel mit unzähligen Eselsohren unter dem Arm. Alle, vom ersten bis zum letzten, machten sich über ihn lustig. Sie nähten ihm seine sowieso schon zu engen Kordhosen zu. Sie schnitten ihm die Bettgurte entzwei. Sie kippten Eimer und Bänke um, damit er sich daran die Schienbeine breche, was er auch jedes Mal fast tat. Sie schickten ihm Pakete, aus denen er Kerzen und Seife vom väterlichen Laden auspackte. Es gab kein Bürschchen in der Schule, das nicht mit Dobbin seinen Spott und Spaß getrieben hätte; und der Ärmste ertrug alles mit Geduld, sagte keinen Ton und war unaussprechlich unglücklich.
Cuff dagegen war der große Held und feine Pinkel der Swishtailschen Schule. Er schmuggelte Wein ein und schlug sich mit den Stadtjungen herum. Jeden Sonnabend ritt er auf einem Pony heim, das extra für ihn kam. In seinem Zimmer hatte er Stulpenstiefel, in denen er während der Ferien auf Jagd ging. Er besaß eine goldene Repetieruhr und schnupfte Tabak wie der Doktor. Er hatte die Oper besucht und kannte die Vorzüge der ersten Schauspieler, wobei er mehr von Kean hielt als von Kemble. Er konnte in einer Stunde vierzig lateinische Verse aus dem Ärmel schütteln. Er konnte französisch dichten, und was konnte oder wusste er nicht noch alles! Sogar der Doktor selbst fürchte sich vor ihm, hieß es.
Cuff, unbestrittener König der Schule, herrschte über seine Untertanen und drangsalierte sie in großartiger Überlegenheit. Dieser wichste seine Schuhe, jener röstete ihm das Brot, andere wieder mussten ganze Sommernachmittage lang beim Kricket Balljunge für ihn spielen. „Feige“ war der Junge, den er am meisten verachtete und mit dem er sich kaum je herabließ, persönlich zu verkehren, obwohl er ihn stets beschimpfte und auslachte.
Eines Tages hatten die beiden jungen Herren eine Meinungsverschiedenheit. Feige, der allein im Klassenzimmer war, schwitzte über einem Brief nach Hause, als Cuff eintrat und ihm einen Auftrag gab, bei dem es sich höchstwahrscheinlich um Törtchen drehte.
„Ich kann nicht“, sagte Dobbin, „ich möchte meinen Brief fertigschreiben.“
„Du kannst nicht?“ fragte Mr. Cuff und griff nach dem Schriftstück (in dem viele Wörter ausgestrichen oder falsch geschrieben waren und dessen Abfassung den Schreiber wer weiß wie viele mühsame Gedanken und Tränen gekostet hatte, denn der arme Bursche schrieb an seine Mutter, die ihn liebte, obgleich sie nur eine Krämersfrau war und in einem Hinterzimmer in der Thames Street wohnte). „Du kannst nicht?“ fragte Mr. Cuff. „Ich möchte mal wissen, warum nicht. Kannst du nicht morgen an die olle Mutter Feige schreiben?“
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