JJ, der mit bürgerlichem Namen Hans-Jakob Klohn hiess, sich aber Jean-Jacques, respektive JJ, nannte, weil das schicker klang, bekräftigte Ruth Biedermann in ihrer Aussage und drückte die Espresso-Taste an der Lavazza-Maschine. «Auf der Herrentoilette fehlen schon wieder die Feuchtigkeitstüchlein! Ich fass es nicht! Jeder hier im Betrieb wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Bestand der Feuchttücher immer aufgefüllt sein muss. Was haben wir nur für bornierte Leute eingestellt! Faul sind sie. Mitdenken ist ein Fremdwort. Schau doch mal in die Runde, die schlafen uns beim Arbeiten noch ein!»
Ruth Biedermann linste aus der offenen Küche ins Büro und bestärkte JJ in seiner Rede. Dies, obwohl sich die beiden Geschäftsleitenden regelmässig zankten. Doch immer wenn es um die Disqualifikation von Mitarbeitern ging, hielten sie wie Pech und Schwefel zusammen.
«Wir müssen was unternehmen, JJ. Die Hälfte der Leute ist unbrauchbar! Das ist unser Geld, das vor den Computern schläft!» Hans-Jakob Klohn nickte und schlich unmotiviert im gewohnten Schlurfgang aus der Küche in den hinteren Teil des Büros, wo sich sein – mit Papierbergen überhäufter – Arbeitsplatz befand.
Ruth musterte gierig die süssen Leckereien in der Küche, die eine Mitarbeiterin mitgebracht hatte. Sie entschied, sich zwei fette Stücke davon zu gönnen. Jedoch erst nach dem Mittag als Dessert, um nicht noch mehr Speck auf ihre Rippen zu lagern. Ruth Biedermann war alles andere als zufrieden mit ihrer Figur. Überhaupt war sie eine frustrierte Frau, bei der die männlichen Attribute dominierten. Weiblich waren an ihr weder das Wesen noch ihr Auftreten und nicht einmal ihr Kleidungsstil. Vielmehr glich sie einer hartgepanzerten Wanze auf der Lauer nach neuem Konfliktpotential, um ihrer inneren Unzufriedenheit Ausdruck verleihen zu können. Sauertöpfisch sah sie aus: ihr kurzgeschnittenes Haar betonte die faltig-bissigen Gesichtszüge rund um die verkniffenen Augen, die in eisigkaltem Blau hervorstachen. Als Geschäftsfrau hielt sie sehr viel auf sich und nur ganz wenig auf das Können und Wissen anderer. Selbst über den Mitinhaber Klohn zog sie bei jeder Gelegenheit runter. Es war ihr ein wichtiges Anliegen, dass alle wussten, dass ohne sie in der Agentur gar nichts ging.
Während Biedermann als leitende Geschäftsführerin für die Zahlenseite zuständig war, lobte sich Klohn für alle künstlerischen, gestalterischen und kulinarischen Belange als Koryphäe in der Schweizer Werbebranche. Er war derjenige, der etwas vom Aufbau und der Führung einer Marke verstand. Kein anderer konnte ihm das Wasser reichen. Zumindest war dies seine tiefe Überzeugung. Immerhin hatte er vor dreissig Jahren einmal ein Buch geschrieben und war in den 80ern Präsident eines selbsternannten Werbeverbandes gewesen. Seither hatte sich bei dem inzwischen über sechzigjährigen Werber nichts Auffälliges weiterentwickelt. Der einstige Macher unter den Kunstschaffenden war zum verbissenen Zyniker mutiert. Kleingewachsen war er, die hellblonden Haare verfärbten sich nun - zumindest die, die noch übrig geblieben waren - und der kleine Anteil an Lebensfreude war verflogen. Seine schöpferische Kraft steckte er voll und ganz in sein neues Projekt: den Umbau des Geschäftshauses an der Stadtgrenze von Zürich.
Mitarbeiter und Kunden interessierten ihn nicht. Werbung langweilte ihn – schliesslich war es seit dreissig Jahren ein und dasselbe und längst keine Herausforderung mehr für einen wie ihn. JJ Klohn interessierte sich nicht für die Menschen, sondern für das, was man ihm bieten konnte: Geld oder Leistung, die ihn natürlich nichts kosten durfte. Seine Vision war also das Haus. Das Haus, das er alleine nicht zu finanzieren vermochte, nur schon die Miete dafür war ein tiefroter Punkt in seiner Buchhaltung. Aber auch das kümmerte ihn wenig. Für die Zahlenseite hatte er die Biedermann einberufen. Er selber hatte keinen Sinn für Bilanzen und fand auch, dass dies für einen Künstler nicht nötig sein. An seinen Visionen liess er schliesslich auch andere teilhaben und die sollten für das Finanzielle aufkommen.
Laura Niederer lief niedergeschlagen und mit verheulten Augen an ihrer Chefin vorbei, schaute verunsichert auf den Boden und hoffte, dass Ruth Biedermann für einmal von ihr abliesse. Kaum war sie an ihr vorbeigezogen, hörte sie die eindringliche Trillerpfeifenstimme ihrer Chefin hinterher rufen: «Laura …!»
«Einen Augenblick, ich komme gleich!», stiess sie hervor. Völlig fertig war sie. Laura Niederer konnte nicht mehr. Der Zusammenstoss von vorhin hatte gesessen. Es war als hätte die Chefin ihr ein Messer ins Herz gestochen und drei Mal umgedreht. Nur schon die giftige Stimme, die ihren Namen aussprach, liess sie am ganzen Körper schlottern. Es ging um ihre Existenz, um ihre Integrität, um alles. Laura ging schnurstracks zurück an ihren Arbeitsplatz. Sie wusste nicht mehr weiter und war erleichtert, dass weder ihr Sparring-Partner David Mischler noch ihr direkter Vorgesetzter, Paul Grassi, der sich Pablo nannte, an ihren Plätzen sassen.
Für kurze Zeit war sie alleine.
Laura Niederer fühlte sich unbeobachtet. «Soll ich… soll ich nicht…?» Wie ferngesteuert öffnete sie die oberste Schublade des Korpus. Sie zitterte wie Espenlaub. Doch sie hatte keine andere Wahl. Langsam holte sie die kleine Schachtel hervor, starrte auf die Verpackung. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Sie wollte es nicht. Doch nur schon die feste Kartonschachtel in ihren Händen zu halten, hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie öffnete die Verpackung, zog das kleine, dunkelbraune Fläschchen heraus. Ihre Augen fanden Halt am Schriftzug: Ricinus communis . Endlich hatte sie die Kontrolle über sich selber. Diese Kontrolle nicht in die Hände der Chefin gelegt zu haben, bedeutete ein Gefühl echter Freiheit. In diesem Moment war sie sich sicher, dass es das einzig Richtige war. Das braune Fläschchen hatte sie sich von einem ehemaligen Arbeitskollegen besorgt, der sich aus der Werbebranche entfernt hatte und nun als Naturheilkundler und Hobbychemiker auf Sinnessuche war. Sie hatte es geschafft - nach einigen Drinks, mit denen sie ihn abgefüllt hatte -, ein Fläschchen aus seinem Schrank zu entwenden. Er würde das Verschwinden später sowieso nicht mehr nachvollziehen können; das Besoffensein hatte sich bei ihm beinahe zu einem Dauerzustand entwickelt. Laura Niederer wusste, was sie tat, davon war sie überzeugt. Es war ihr eigener Entscheid. Sie starrte auf die Etikette, klammerte sich geradezu an die Packung, die sie in ihren Händen hielt. Wärme durchzog ihren Körper. Laura öffnete die Verpackung und wollte das Fläschchen herausziehen.
Markante Schritte näherten sich ihrem Arbeitsplatz. Es war ihr Vorgesetzter, Pablo Grassi. Laura zuckte ängstlich zusammen. Sie steckte die Packung panisch zurück in die Schublade. Niemand durfte davon erfahren. Es war ihr kleines, grosses Geheimnis.
«Ach, schau mal einer an. Na hallo, Laura, hat sich die Dame endlich auch zum Arbeiten bequemt?»
Laura Niederer widersprach Pablo Grassi nicht. Ständig diese Sticheleien. Sie wollte ihn ignorieren. Sie hatte ihn so satt.
«Die Frau Niederer spricht heute nicht mit uns», grinste Grassi höhnisch zu David Mischler hinüber, der gemütlich mit Kaffee und Kuchen aus der Küche zurück kam. Mischler lachte hämisch: «Typisch Frauen, Laura hatte die letzten Wochen selten gute Laune. Echt mühsam, bei derart mieser Stimmung zu arbeiten.»
Grassi lachte über die betrübte Laura und wandte ihr den Rücken zu. Er klopfte David Mischler auf die Schultern und meinte unter Augenzwinkern: «Wir zwei verstehen uns.»
Laura Niederer schossen Tränen in die Augen. Sie wollte auf jeden Fall vermeiden, in der Öffentlichkeit, und schon gar nicht vor den Mitarbeitern, zu weinen. So wollte sie nicht gesehen werden. Es war, als ob es ihr die Kehle zuschnürte. Laura musste raus; raus aus dem Büro an die frische Luft, weg von den Leuten, die sie quälten. Sie rannte durch den Gang und die Treppe hoch auf die Dachterrasse. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Sie war nicht mehr sie selbst. Wortfetzen, Bilder von Fratzen, die bedrohlich auf sie einredeten. Fix und fertig war sie. Im Grunde genommen war sie wütend, nur fehlte ihr jegliche Kraft, sich zu wehren, viel zu sehr nagte der Kummer an ihr. Das einzige, was sie wahrnahm, waren unsägliche Schmerzen. Die Angriffe der Biedermann dröhnten wie ein Echo in ihrem Kopf. Sie konnte an nichts anderes denken. Die Biedermann hatte sie wieder gedemütigt, obwohl Laura so sehr gehofft hatte, dass sie sie wenigstens heute in Ruhe lassen würde. Das Fass war am Überlaufen. So sehr sie darüber nachdachte: Laura wusste nicht, warum ausgerechnet sie im Visier der Chefin stand. Ihre Arbeit war tadellos. Der Kunde lobte sie für ihre Arbeit.
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