Alex schaute demonstrativ auf Kammer: „Los, sagen Sie es ihm.“
Kammer hob seinen Kopf und blickte seinen Chef an. Und schwieg. Praun wartete.
„Los, Herr Kammer, machen Sie den Mund auf,“ befahl ihm Alex.
Im Raum herrschte eine angespannte Stille. Der Minister stand immer noch und schaute seinen Sekretär fragend an.
„Sie haben… sie haben rausgekriegt, dass ich …in Berlin war….“ antwortete er kleinlaut.
Praun biss die Zähne aufeinander, dass es knirschte. Dann bewegte er die Lippen zu einem eindeutigen Ausdruck und nahm langsam wieder Platz.
„Ihr Zeuge Kammer hat einen Meineid geschworen, Herr Praun,“ setzte Oliver noch einen drauf.
Die Sekunden zogen sich in die Länge, bis Praun in einem gemäßigten Ton sagte: „Dann hat er sich im Datum geirrt, dann war er eben am achtzehnten oder neunzehnten Oktober in Berlin.“ Er schien sich äußerlich ein wenig beruhigt zu haben.
„Natürlich.“ Oliver warf die Fachzeitschrift auf den Tisch, und Praun nahm sie und überflog sie.
„Genauso wie sich der Zeuge Very mit seinen Beobachtungen geirrt hat,“ konterte Oliver.
„Siebzehnter Oktober, Hotel ADAGIO in Berlin,“ bemerkte Jana.
„Und warum haben Sie den Zeugen bestechen wollen?“ setzte Oliver das Verhör fort, ohne eine Reaktion von Praun abzuwarten. Er sah, wie Praun schluckte.
„Was kann ich dafür, wenn ein versoffener Penner so einen Mist erzählt? Keiner hat ihn bestechen wollen, keiner, es gab keinen Grund, ihn zu bestechen.“ Praun legte die Zeitschrift zurück, und es entstand der Eindruck, dass er froh war, den Alibivorwurf nicht noch mehr kommentieren zu müssen.
„Und warum haben Sie diesen Zeugen von drei Schlägertypen verschleppen lassen wollen?“
„Was soll nun wieder dieser Blödsinn? Keiner wollte den Penner verschleppen. Und jetzt hören Sie mit den verdammten haltlosen Vorwürfen auf.“
Praun war so erregt, dass er am ganzen Leib zitterte und wieder einen roten Kopf bekam.
Er wechselt die Farben wie ein Chamäleon, dachte Jana in dem Moment.
„Wir wollen eines klarstellen. Wir sind überzeugt, Ihr hättet den Zeugen so lange behandelt, dass er keine Aussage mehr machen kann.“
Der Minister sagte nichts.
„Und weshalb hat Herr Kammer uns auf der Fahrt Geld anbieten wollen?“
„Das hat er bestimmt nicht getan.“ Irgendwie schien der Minister noch immer nicht in der Realität angekommen zu sein, war Alex` Eindruck. Oder er versuchte sinnlos zu pokern.
Kammer wurde immer kleiner in seinem Sessel.
„So? waren seine Worte.“
Praun schaute seinen Freund an, Kammer nickte unauffällig, Praun kratzte sich am Hinterkopf.
„Wie können Sie sich noch im Spiegel anschauen?,“ rief Jana dazwischen.
Der Minister warf ihr einen gefährlich gehetzten Blick zu.
Niemand bemerkte die Gestalt, die leise und langsam von oben die Treppen herunterkam.
Oliver spürte, dass sich der Minister jetzt in einer Phase höchster Erregung befand. Plötzlich stand er auf, stellte sich vor Praun hin und schrie ihn an: „Seien Sie froh, dass Sie nicht noch den anderen kleinen Jungen auf dem Zebrastreifen totgefahren haben, Sie verdammter Idiot!“
Praun sprang vor Schreck wieder auf, jetzt standen sie sich erneut gegenüber, und Praun schrie Oliver an: „Was reden Sie da für einen Scheißdreck, ich weiß, da war kein anderer Junge, nur das kleine Mäd...“
Es hatte funktioniert. Es dauerte einen sehr langen Moment, bis Praun begriff, was er eben in seinem cholerischen Zorn zugegeben hatte. Wie zur Salzsäule erstarrt stand er da.
Kammer starrte ihn mit offenem Mund an.
Oliver nickte nur: „Na also. Warum nicht gleich?“
Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte das kleine Tonband heraus und stoppte es ab.
Praun ließ sich langsam wieder neben Kammer nieder und schaute zur Decke, als ob da die Lösung stand.
„Scheiß Gerechtigkeit, was?“ bemerkte Alex sarkastisch.
„Oh Scheiße….“ flüsterte Kammer leichenblass, …“oh verdammte Scheiße…oh Gott!“ Plötzlich war er sich der ganzen Tragweite seines Meineides bewusst.
Praun stand wieder auf, ging zu einem Wandschrank, öffnete ihn und holte eine Flasche Cognac heraus. Dann dreht er sich um: „Darf ich Ihnen auch einen Cognac anbieten?“
Oliver, Jana und Alex verneinten, Kammer nickte.
„Darf ich?“ fragte er und holte eine Zigarettenschachtel heraus, Praun sagte „ja“ und wandte sich an die drei: „was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“
„Ein Glas Wasser bitte,“ sagte Alex. Als er sah, dass sich Kammer eine Zigarette ansteckte, holte auch er seine Packung heraus. Gleiches Recht für alle.
Oliver setzte sich wieder.
Praun goss zwei Gläser Cognac ein, gab Kammer eins, stellte seins auf den Schreibtisch und verließ sein Arbeitszimmer.
Kammer wagte nicht, den dreien in die Augen zu sehen. Sie hörten die Geräusche von der Küche, wie eine Wasserflasche geöffnet wird. Dann kam er mit drei Gläsern zurück und gab sie ihnen. Er setzte sich abseits von Kammer in einen Sessel und nahm einen großen Schluck Cognac. Dann umfasste er den Cognacschwenker mit beiden Händen.
„Warum treten Sie als Moralapostel auf?“ fragte er leise und hob den Kopf an.
„Sind wir das?“ fragte Oliver. „Ein kleines Mädchen ist durch Sie getötet worden, das das ganze Leben noch vor sich hatte, seine Familie leidet unter einem unsäglichen Schmerz.
Sie selber haben eine Tochter. Stellen Sie sich vor, jemand hätte sie überfahren und wäre abgehauen. Sie hätten Himmel und Hölle bewegt, um den Mistkerl zu kriegen, oder?“
Praun stierte auf den Boden.
„ Wenn wir der Sache nicht nachgegangen wären,“ sagte Jana, „ hätte niemand mehr nach der Schuld gefragt. Warum gerade wir als Moralapostel auftreten, haben Sie gefragt. Nun, die Eltern der Kleinen sind auch mental nicht in der Lage. Sie haben nicht nur das Kind getötet, sondern auch die Seele der Familie schwer geschädigt. Diese Familie ist kein Gegner für Sie, aber wir sind es.“
Praun blickte in sein Cognacglas. Kammer rauchte Kette, sein ganzer Körper bebte.
„Wir wissen, dass Politiker keine Vorbildfunktion ausüben, im Gegenteil. Auf der Beliebtheits- und Vertrauensskala stehen sie ganz unten. Deswegen trauern wir nicht unbedingt, wenn der eine oder andere von der Bildfläche verschwindet. Und zwar so schnell wie möglich.“
Praun schaute auf. Er sah alt aus. Er atmete schwer. Er hatte scheinbar den Wink mit dem Zaunpfahl kapiert.
„Letztendlich ist Ihr Tonband gerichtlich nicht verwertbar, das wissen Sie als Anwalt.“ Ein jämmerlicher Versuch, doch noch die Kurve zu kriegen. Dann stand er auf und ging im Zimmer hin und her, das Cognacglas in der Hand.
Oliver schüttelte den Kopf.
„Du wirst zurücktreten, Heiner, das garantiere ich dir.“
Alle drehten sich zum Treppenabsatz um, dort stand seine Frau. Sie hatte ein Schriftstück in der Hand und gab es ihm. Zu Oliver gewandt sagte sie: „Das Unglück geschah um zwölf Uhr vierzig auf der Berliner Strasse, um zwölf Uhr fünfunddreißig wurde er auf der Berliner Strasse geblitzt, weil er die Geschwindigkeit um dreiundvierzig Kilometer in der Stunde überschritten hatte, fünf Minuten und ein paar hundert Meter, bevor er auf den Zebrastreifen zuraste.“
Praun blieb abrupt stehen und stierte seine Frau an. Er las die Anzeige und setzte sich wieder.
„Was jetzt?“ flüsterte er und schaute Oliver fast flehend an.
„Sie treten zurück.“
Der Minister sagte nichts, Kammer blickte zu seinem Chef. Auch der Staatssekretär sah jetzt sehr alt aus.
„Und bekennen sich schuldig….“ setzte Alex fort.
Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer. Praun saß vorn übergebeugt in seinem Sessel, immer noch das Glas in der Hand. Dann trank er es mit einem Zug aus. Allmählich mussten sich alle Fakten zu einer grausamen Vorstellung zusammenfügen.
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