Außerdem haben sie ein sehr soziales Verhalten. „Was heißt das?“ fragte sie ihren Großvater. „Sie leben nur in Gruppen zusammen und haben einen engen Körperkontakt mit anderen Fledermäusen.“ Er spürte, dass sie nicht genau wusste, was das bedeutete. „Sie kuscheln sich aneinander an,“ sagte er, „sie verbrauchen dadurch wenig Energie, um ihren eigenen Körper aufzuwärmen.“
Sie kuscheln…. Sie dachte, dass es für sie jetzt ein Fremdwort war.
Jana hatte den Gebäudekomplex 1990 von ihren Großeltern geerbt, nachdem ihre Eltern 1988 durch einen Autounfall verunglückten. Der Hof lag ein paar Jahre brach. Ein Unternehmer hatte sich 1995 gemeldet. Er wollte dort eine Männerstriptease-Show in den umgebauten Stallungen veranstalten und rechnete sich aus, wissbegierige Damen zu Hunderten mit Bussen anzukarren. Aber die Gemeinden lehnten das Unternehmen aus „moralischen Gründen“ ab. Dann kam Jana auf die Idee, sie anderweitig zu vermarkten. Sie vermietete sie an eine Laienschauspielgruppe, die allerdings bald wieder aufhörte. Die umgebauten Stallungen fielen dann einem Brand zum Opfer, der niemals aufgeklärt wurde.
Im Laufe der Zeit wurde das Haupthaus Treffpunkt von Liebespaaren. Jana fuhr ab und zu hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Sie schrubbte die Fußböden, warf herumliegende Kondome weg, putzte Fenster und beseitigte Spinnennetze.
Jana wartete ängstlich im Wohnzimmer des Gehöftes. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und sie betete, dass nichts schiefging. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie tausend Tode sterben würde, wenn Oliver etwas passieren würde.
Draußen regnete es noch immer, und wie der Wetterbericht vorher gesagt hatte, zog ein breites Regenband auch über Bad Homburg und Königstein.
Endlich sah sie zwei Wagen auf das Gehöft zufahren und erkannte, dass es Edelkarossen waren. Zehn Minuten später öffneten Oliver und Alex die Türen und bugsierten die beiden bewusstlosen Banker aus den Autos und brachten sie ins Haus.
Jana atmete einmal kräftig durch und warf Oliver einen glücklichen Blick zu.
„Mir fällt ein ganzer Felsbrocken vom Herzen,“ sagte sie. Oliver nickte und nahm sie spontan in den Arm, als die beiden Banker auf den Stühlen saßen und ihnen Handschellen angelegt wurden.
„Gib ihnen noch ein Quantum Chloroform, bis wir zurück sind,“ meinte Alex. Dann fuhren sie den Mercedes und den BMW zurück nach Frankfurt.
Als die beiden aus der Betäubung erwachten und die drei Entführer sahen, schoss Ebert ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf. Es waren die Ereignisse aus dem Jahre 1977, als der Generalbundesanwalt Buback, der Arbeitgeberpräsident Schleyer und der Dresdner-Bank Chef Ponto von der RAF entführt und ermordet wurden. Er bekam plötzlich Todesangst.
Blüsch stellte noch keine Verbindung zu damals her, er war noch stark benommen.
Oliver und Alex tasteten die beiden nach Waffen ab.
Der kleine Blüsch mit seinem runden, freundlich wirkenden Gesicht, seiner tonsurähnlichen Frisur, seinem gewölbten Bauch, seinen Wurstfingern, erinnerte Alex an einen gemütlichen, Wein trinkenden Mönch; fehlten nur noch die braune Kutte und die Sandalen. So ein Ölgemälde hing in seinem Arbeitszimmer.
Ebert dagegen mit seiner drahtigen Figur, seinen schmalen, sehr gepflegten Fingern, machte den Eindruck eines asketischen Herrenmenschen, der das Befehlen gewohnt war.
Die beiden Banker sahen zwei Männer und eine Frau, die Sonnenbrillen trugen und Elektroschocker in den Händen hielten.
Sie starrten auf die auf sie gerichteten Elektroschocker, während Oliver und Jana ihre Fesseln lösten. Dann war es totenstill im Raum. Das alles hatte für einen Bruchteil von Sekunden den Anschein einer perversen Intimität.
„Was soll das?“ herrschte Ebert Oliver an und massierte sich seine Handgelenke, „seid Ihr die neue RAF?“
Jetzt dämmerte es auch bei Blüsch, und er wurde leichenblass im Gesicht.
Als er begriff, was Ebert meinte, überwältigte ihn die Angst so sehr, dass er seine Blase nicht mehr kontrollieren konnte. Als seine Hosen nass waren, bekam er einen roten Kopf und einen stummen Wutanfall, und ballte die Hände zu Fäusten.
„Wir haben Sie hier her gebracht, weil wir Sie verantwortlich für den Tod von vielen Menschen in Äthiopien machen,“ sagte Alex nach einer Weile, um den beiden Gelegenheit zu geben, sich zu akklimatisieren.
Blüsch erstarrte. Ebert hob die Augenbrauen an.
„Verantwortlich für was?“ stammelte Blüsch und zündetet sich mit zitternden Händen eine Zigarette an und wühlte in seiner Jackentasche. „Mein Handy ist weg!“
Oliver hatte bemerkt, dass Blüschs Hose nasse Flecken hatte und konnte sich den Grund denken. Er würde ihm neue Hosen besorgen müssen.
Auch Ebert fuhr mit einer Hand in seine Jacke. „Meins auch.“ Und an Alex gewandt:
„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr? Was soll der Blödsinn? Verantwortlich für den Tod…?“ raunzte er. Dann stand er von seinem Stuhl auf; sofort war Alex bei ihm und hielt den Schocker hoch. „Hinsetzen!“
Ebert nahm langsam wieder Platz und starrte ihn und den Schocker an.
Dann sprang er wieder hoch. „Seid ihr verrückt? Nehmt das Ding da runter…“
Oliver stellte sich auf die andere Seite. „Setzen Sie sich hin, verdammt noch mal, sonst kriegen Sie eine Ladung ab.“
Ebert sah sich von beiden Seiten eingekreist. Er setzte sich wieder hin und schaute auf seine Armbanduhr, es war kurz nach elf am Vormittag.
„ Sollten Sie versuchen, uns die Sonnenbrille herunterzureißen, und sollten Sie versuchen abzuhauen, kriegen Sie was mit dem Schocker verpasst.“
Der Regen klatschte gegen die zwei Fensterscheiben in dem Raum mit der grün gemusterten Tapete aus den 70er Jahren, den alten Stühlen, dem durchgesessenen Sofa, dem großen Eichenschrank. Die Bilder waren abgehängt, an den Wänden blieben graue Schatten, nur nicht das große Kruzifix mit dem Christus ganz oben an der Wand.
Vor den beiden Stühlen, auf denen die Banker saßen, stand ein alter Holztisch mit einer Tischlampe. An der Decke hing eine Schirmlampe. Auf der gegenüber liegenden Seite des Tisches standen 3 Stühle und daneben auf einem fahrbaren Untergestell ein Fernsehapparat mit einem sehr großen Bildschirm, zur Rechten eine Videokamera auf einem Stativ.
„Wer wir sind, ist zunächst uninteressant. Was wir wollen, werdet ihr beide im Laufe der Zeit noch erfahren.“
„Was ist mit der Kamera? Was soll das?“ Blüsch inhalierte tief, und seine Hände zitterten.
Er erinnerte sich, als damals ein Foto im Fernsehen gezeigt wurde, auf dem Hanns Martin Schleyer in Gefangenschaft abgebildet war. Er assoziierte das damalige Bild mit der jetzigen Situation, und Angstschweiß lief ihm am Nacken herunter.
„Was ist mit der Kamera?“ fragte Blüsch noch einmal.
Er bekam keine Antwort.
*
Oliver wählte in einer öffentlichen Telefonzelle die Nummer des Senders, den sich die drei ausgesucht hatten.
„Radio Television, guten Tag.“ Im Hintergrund vernahm er die typischen Geräusche einer Redaktion, Stimmengewirr, Faxe, Telefonklingel, Tippen auf der Tastatur, Lachen einer Frauenstimme, Schritte.
Oliver bat die Telefonistin, mit dem Redaktionsleiter vom Dienst verbunden zu werden.
Eine dumpfe Stimme meldete sich, nachdem er eine Weile in der Warteschleife hing. „Brinkmann.“
„ Guten Tag, Herr Brinkmann. Mein Name ist Oliver.“
„Guten Tag, Herr Oliver…“
„ Auch Sie haben ganz kurz über die Frankfurter Weltfinanzbank berichtet, die die Spendengelder noch nicht an die Bedürftigen in Äthiopien weiter geleitet hat.“
„Ja, “ sagte er nach einem kurzen Moment. „Das haben wir, und…?“
„Das, was ich Ihnen jetzt sage, dürfte Sie sehr stark interessieren.
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