Glanz hatte ihn vorgestern angerufen und über seine Mitteilung vorab informiert. Dann wies er ihn auf die Pressekonferenz hin, die im Fernsehen im Regionalsender übertragen wird. Alex hatte schon geahnt, dass sich kaum jemand für die Angelegenheit interessieren wird. Kein Stoff für Top-Meldungen, kein Stoff für Schlagzeilen, keine Rede wert.
Insofern war er nicht einmal enttäuscht, was seinem Zorn jedoch mehr Power gab.
Er steckte sich eine Zigarette an und erinnerte sich an seine Reportage über Äthiopien vor 3 Jahren. Er war damals schockiert über das Elend der Menschen, über die Armut, über den Hunger, den sie erlitten. Er sah immer wieder diese ungeheure Diskrepanz: Dort verhungern Menschen, hier verschwenden welche mit unglaublicher Dreistigkeit Wasser und Lebensmittel. Und er wollte in seiner infantilen Naivität nicht begreifen, dass und wie das möglich war und warum.
Er verfiel damals in eine kurze und heftige Depression angesichts der Aussicht, nicht genügend helfen zu können. Hinzu kam die Tatsache, dass seinerzeit von den laufenden Spendengeldern nur ein Teil ankam, der Rest verschwand in diffuse Kanäle, die "Bearbeitungsgebühren", "Bankspesen", "Provisionen" genannt wurden.
Später setzte er sich mit seinem Freund, dem Veranstalter Hubert Franklin zusammen und schlug ein Benefiz für die hungernden und kranken und hoffnungslosen Menschen in Äthiopien vor. Franklin war einverstanden; und nach entsprechender Organisation wurde sie am 2. April in der Frankfurter Commerzbank Arena veranstaltet.
Im Geiste sah Alex Riemek wieder dunkelhäutige, bis auf das Skelett abgemagerte Menschen. Aus den in tiefen Höhlen liegenden Augen warfen sie Blicke von unendlicher Leere in die Kamera. Mütter sahen auf ihre Kleinkinder, die in ihren Armen lagen. Eine vor Hunger geschwächte Frau torkelte mit einem toten Baby im Arm durch das Dorf.
Dann kam ein anderes Bild: Er sah ein Büfett voller Fleischberge, Hummer, Kaviar, Lachs, erlesenes Obst, Champagner, Weine, Kanapees. Um das Büfett standen Männer und Frauen, in den Händen hielten sie Teller mit den Köstlichkeiten und Champagner-Kelche. Es war die Fernsehberichterstattung über die 100-Jahrfeier der "Frankfurter Weltfinanzbank" am 30. April.
Diese komprimierten gegensätzlichen Bilder lösten in ihm wieder eine unbeschreibliche Wut aus; und diese Wut wurde immer größer und wuchs zu einem Buschfeuer. Sie war ein Gefühl, das in seinen Eingeweiden brannte und nach einer Reaktion schrie.
Er wusste, dass Glanz nie das Ergebnis seiner Recherche veröffentlichen würde, wenn irgendein Zweifel bestand. Glanz hatte überall seine Quellen, natürlich auch bei den Banken.
Er hatte ihm gesagt, dass Ebert und Blüsch die Verwaltung der Spendengelder „höchstpersönlich“ in die Hand genommen haben. Heinrich Michels hatte ihm das mit der Bitte um absolutes Stillschweigen gesteckt.
Am Abend würde Alex mit Saskia darüber sprechen. Zunächst aber fuhr er in die Stadt, um noch mal mit Glanz zu reden.
Dann fuhr er nach Hause, stellte seinen BMW vor der Loftwohnung ab, schaute zum Fenster und sah, wie Saskia ihm zuwinkte.
Dann aßen sie eine aufgewärmte Kleinigkeit.
„Was gibt es Neues?“ fragte sie, als sie fertig waren und er das Geschirr in die Geschirrspülmaschine stellte. Sie blieben am Esstisch sitzen.
„ Ich hab so einen Zorn auf das, was sich diese beiden Banker geleistet haben.“
„Ja,….“ sagte sie. „Und du gehst wirklich davon aus, dass sie die Spendengelder tatsächlich noch nicht nach Äthiopien transferiert haben?“
„Ja. Überleg doch. Am zweiten April war das Benefiz, an diesem Tag haben die Leute angerufen und ihre Kontendaten und Beträge durchgegeben. Ein paar Tage später sind die Beträge per Lastschrift eingegangen. Es sind fast acht Wochen vergangen, und die da unten haben noch keinen Cent.“
Er steckte sich eine Zigarette an und stemmte die Ellenbogen auf den Tisch.
Saskia schüttelte den Kopf. „ Es ist diese maßlose Gier nach Geld. Ich glaub, die können gar nicht anders, es sitzt ihnen im Blut. Wenn es zum Beispiel hunderte von Millionen wären, könnte man es noch nachvollziehen, das würde sich bei dieser Raffgier-Mentalität lohnen, aber das hier sind doch Peanuts für die. Geld, das für die Armen der Ärmsten bestimmt ist. Denen noch das bisschen wegzunehmen, ist unfassbar. Unsere Kultur geht langsam vor die Hunde.“
Er schüttelte resigniert den Kopf.
„ Langsam…?“ fragte er sie und sich selber.
Alex besprach am nächsten Tag die Sache mit seinem alten Freund Oliver, einem eigensinnigen Zeitgenossen von einem Rechtsanwalt, der unter anderem die Opfer und Angehörigen von Gewaltverbrechen vor Gericht vertrat, manchmal auch kostenlos. Sie hatten sich vor zirka zehn Jahren kennen gelernt, als er einen Rechtsanwalt brauchte.
Und er sprach mit Jana Johansson, der Schriftstellerin.
Sie hatten sich dann in Olivers Wohnung im Frankfurter Stadtteil Sindlingen getroffen. Auch seine beiden Freunde waren erwartungsgemäß enttäuscht, als sie die Pressekonferenz mitverfolgten.
„Ich glaub den beiden kein Wort,“ argwöhnte Oliver.
„Und ich glaub dasselbe, was du glaubst,“ sagte Jana.
„Und weshalb haben die anderen Journalisten nicht nachgehakt?“ fragte Oliver in Anspielung auf die sarkastische Bemerkung von Glanz.
„Weil das keine Schlagzeilen ergibt,“ vermutete Jana.
„Betrachten wir zunächst mal die Fakten,“ begann Alex und zündete sich eine Zigarette an, „…die Bank hat seit dem achten April oder ein paar Tage später sieben Komma sieben Millionen Euro auf dem Spendenkonto. Glanz hat herausgefunden, dass die " Deutsch-Äthiopische-Hilfsorganisation" am siebenundzwanzigsten Mai angefragt hat, wo das Geld bleibt. Mir kann keiner erzählen, dass ein Geldtransfer so lange dauert. Das geht heute innerhalb von Sekunden.“
„Es sei denn, der Bote ist immer noch unterwegs…“ grinste Oliver.
„Dann behaupten die Kerle, das Geld wäre überwiesen worden,“ setzte er die Aufzählung fort.
„Lächerlich,“ sagte Jana, „ …bei diesem Betrag. Sieben Komma sieben Millionen für ein paar Tage, was bringt das? Für eine Bank doch nur Peanuts, wie dieser Kopper sagen würde.“
Es entstand eine Pause, die drei saßen da und tranken. Dann meldete sich Oliver wieder: „Muss das nicht alles auch von einem Notar überwacht werden?“
Alex nickte: „Sicher.“
„ Die Pressemeldung hatte keinen Sensationswert. Wollen wir dafür sorgen, dass sich das ändert? Wäre ja auch Material für dein künftiges Magazin „Transparent“, nicht wahr, Alex!“
„Schon sehr eigenartig und untypisch, dass die zwei die Geldüberwachung und Verwaltung an sich gerissen haben. Vermutlich teilen die sich den Profit, wenn sie das Geld erst mal gewinnbringend anlegen. Vermutet Glanz.“
„Das ist eine kleinere Privat-Bank mit 15 Angestellten– und Ebert und Blüsch sind die Chefs.“
Es trat eine längere Pause ein. Alex holte ungewöhnlich bedächtig und in Gedanken versunken eine Zigarette aus der Packung, Oliver nahm langsam einen Schluck Kaffee und Jana schaute aus dem Fenster. Gleich einem Brainstorming waren diese Minuten der Stille die Initialzündung, für gewaltige Schlagzeilen zu sorgen. Gläubige Christen würden sagen, dass der Heilige Geist über die drei gekommen ist und ihnen einen Auftrag gegeben hat.
Das ganze Drama für die beiden Banker Ebert und Blüsch begann mit Olivers Frage:
„Was machen wir mit den beiden Herren im feinen Zwirn? Ich denke, die sollte man nicht mit Samthandschuhen anfassen“.
„Das werden wir auch nicht,“ sagte Alex spontan.
Jana sah Oliver direkt in seine Augen und erwartete, dass er ihren Blick erwiderte, was er auch tat. Blitzschnell tauchte bei ihr die Szene wieder auf, als er wie selbstverständlich seinen Arm um ihre Schulter gelegt hatte.
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