Meine Freundin Gabi kommt oft zu Besuch und stellt immer ihre Schuhe vor meiner Zimmertür ab, worüber sich die Reinigungskraft amüsiert. Täglich wird das Zimmer gründlich gereinigt und gewischt. Die Reinigungskraft heißt Marina und gehört auch zu dieser Station. So ein Krankenhaus ist wirklich eine eigene Welt und viele Menschen tragen zum täglichen Ablauf bei. Die Ärztinnen und Ärzte, die Schwestern und Pfleger, die Küchenkräfte, die Reinigungskräfte, die Zivis, die Verwaltungskräfte und noch viele andere sind am Geschehen beteiligt. Und dann gibt es noch die „Grünen Damen“. Sie arbeiten ehrenamtlich im Krankenhaus und machen für die Patienten, die dazu nicht selbst in der Lage sind, kleine Besorgungen. Ich mag die grünen Damen. Eine ist besonders lebhaft und aufgeschlossen. Sie kommt zweimal in der Woche und ich unterhalte mich sehr gern mit ihr.
02.12.2010:
Liebe Beate, körperlich geht’s mir soweit ganz gut, toi toi toi. Trotzdem habe ich heute Morgen das Gefühl durchzudrehen. Achim meinte vorhin, ich sollte mich mal zusammenreißen! Wir sind zusammen über den Flur getapert, hin und her. Dann kam eine der grünen Damen. Mit ihr habe ich mich noch in meinem Zimmer sehr nett unterhalten. Sie hat versucht, mich ein bisschen aufzubauen. Gestern Abend sagte die Schwester: „Wenn sie mehr als 1,5 kg zunehmen...." und ich dachte, na, was kriege ich dafür und war ganz gespannt, und sie sagte mit ihrem ukrainischen Akzent: „Dann krriegen Sie eine Entwässerungsspritze!" Na super. :-) Die grüne Dame meinte, man gewöhnt sich daran, hier eingesperrt zu sein. Na hoffentlich! Vor der Tür steht die Visite. Es sind schon wieder Studenten dabei. Dann dauert´s länger. Erstmal liebe Grüße...gleich kommen die Ärzte. Na, jetzt klingt es so, als wenn sie erst ins Nebenzimmer gehen. Gaby
Eines Morgens gehe ich in die Küche, es ist Dezember und draußen tobt immer noch der Schnee. Ich stehe am Kühlschrank, um mir noch einen Becher Milch (leider nur H-Milch) zu holen. Schwester Sandra befindet sich ebenfalls in der Küche. Plötzlich erscheint eine vermummte Gestalt in der Tür. Schwester Sandra fragt locker: „Na, schneit´s schon, Ronny?“
Ich bin kurz vorm Losprusten, belasse es aber bei einem Grinsen und schweige ansonsten. Als Herr Jost einige Tage später allein zum Blutabnehmen kommt, sage ich: „Sie heißen ja tatsächlich Ronny mit Vornamen“ und er fragt erstaunt: „Ja, wieso?“ Und ich erzähle ihm von meiner Freundin Simone, die er im Aufklärungsgespräch kennen gelernt hatte. Er ist ganz begeistert und kann sich noch gut an seine Kindergärtnerin erinnern! „Die fuhr doch immer so einen Käfer“, sagte er. Wir stellen fest, dass die Welt klein und Kiel sowieso ein Dorf sei.
Abends rufe ich Simone an, und sie findet das Ganze auch sehr witzig. Sie möchte auf jeden Fall noch mal mit ihm sprechen, vielleicht ergibt es sich bei einem ihrer nächsten Besuche. Vorerst kann sie mich jedoch nicht besuchen, weil der Schneefall für sie noch mehr Probleme bedeutet als für die Gesunden. Mit dem Rollstuhl ist es bei dieser Wetterlage extrem schwierig, zudem ist auch die Parkplatzsituation nicht optimal.
Auch meine Eltern klagen häufig darüber, dass die Straßenverhältnisse ungünstig seien. Und auf den Parkplätzen fahren sich die Autos fest. Ich sehe diesen verschneiten Winter nur aus dem Fenster und wünsche mir oft, ich könnte draußen sein.
Ich bekomme häufiger Post und eines Tages bringt mir eine Schwester ein kleines Päckchen. Neugierig öffne ich es sofort und finde – einen Ipod! Mein Onkel aus Singapur hat ihn mir geschickt. Ich freue mich total darüber, da ich sehr gern Musik höre und mein MP3-Player nur eine geringe Kapazität hat. Und jetzt ein Ipod! Achim ist auch ganz beeindruckt von diesem Geschenk. Meine Cousine hat die Musik meines Onkels auf seinen Wunsch hin vorher auf dieses Gerät überspielt. Und ich versuche jetzt, meine Musik aufzuspielen. Irgendwann begreife ich, dass ich die Musik meines Onkels wieder „runterschmeißen“ muss, bevor das funktioniert. Aber dann klappt es, meine ganze Musik vom Laptop wird auf den Ipod übertragen, und somit kann ich Musik in bester Qualität hören! Ein Trost in dieser Zeit.
Überhaupt, mein Onkel…seit vielen Jahren hatte ich kaum Kontakt zu ihm und seiner Familie. Jetzt, da ich krank bin, ruft er öfter aus Singapur an und auch meine Cousinen und mein Cousin melden sich nach und nach bei mir. Die Familie rückt wieder näher zusammen und das ist wirklich ein tröstliches Gefühl!
An diesem Samstag kommt meine irische Freundin Laura abends zu mir. Wir wollen zusammen im Fernsehen „Wetten, dass…“ anschauen. Ich freue mich darauf. Ich bin Wetten, dass…- und Gottschalk-Fan. Nach kurzer Zeit stürzt ein Wettkandidat schwer, und die Sendung wird unterbrochen! So etwas ist bislang zum Glück noch nie passiert. Nach einiger Zeit wird die Sendung endgültig abgebrochen, was ich sehr vernünftig finde. Offenbar geht es dem Kandidaten sehr schlecht. Einige Tage später erfahren wir, dass er gelähmt ist und sich kaum noch bewegen kann. Schockierend.
Darüber hinaus besucht mich zweimal in der Woche die Klinikpastorin. Die Ärzte haben mir ihre psychologische Begleitung angeboten, was ich gerne annehme. Ich kann mit ihr ganz offen über meine Ängste und Sorgen sprechen, denn meine Familie und Freunde möchte ich damit nicht immer belasten. Sie machen sich schon selbst genug Sorgen.
07.12.2010:
Liebe Inga, heute bin ich total frustriert, mir ist dauernd übel, ich kann nichts essen. Jeden Tag brauche ich eine Beruhigungstablette. Ab heute Abend bekomme ich wieder mein Antidepressivum. Vielleicht geht es mir dann ein bisschen besser. Die Ärzte sind sehr zufrieden mit mir. Die Blutwerte entwickeln sich wohl sehr gut. Ein genaues Ergebnis bekommt man aber erst mit der Punktion, die wohl um den 21. Dezember gemacht wird. Vorhin bin ich in Tränen ausgebrochen. Heute Morgen hatten sie einen Herpes im Mund entdeckt. Heute Mittag kam der Pfleger und brachte fünf Riesentabletten, von denen ich wusste, dass ich sie niemals schlucken kann. Er nahm sie dann auch wieder mit. Wie geht´s Dir, meine Liebe? Hier sind die Tage recht lang. Heute kommt noch Beate vorbei. Sie wechselt sich mit meinen Eltern jetzt ab. Ich denke, meine Eltern brauchen auch mal eine Pause. Und zu viel Besuch ist auch anstrengend. Ich frage mich, ob mein Leben noch mal glücklich werden wird. Ich hoffe es einfach sehr! Erstmal...liebe Grüße! Gaby
Und so wechselt die Stimmung von Tag zu Tag. Die Chemo ist sehr anstrengend, und manchmal liege ich nur völlig erschöpft im Bett, wenn meine Familie oder Freunde kommen. Ständig bekomme ich Medikamente gegen Übelkeit, die bei mir aber selten gut wirken. Insofern ist mir fast immer übel.
Aber eines Tages schmeckt mir das Essen wieder, wie man an folgendem Text vom 13.12.2010 erkennen kann:
Liebe Inga, wie viel Inga ich abkann? 100%! Die Frage ist eher, wie viel Gaby Du in diesem Zustand abkannst. Ich habe gerade festgestellt, dass ich nur ein Knäckebrot bestellt habe...in der Annahme, dass meine Eltern mir heute Brot mitbringen. Das Haferbrot, was ich gern mag, gibt’s aber nur dienstags beim Bäcker. Insofern bekomme ich das erst morgen. Aber Gott sei Dank hatte ich meine Eltern gebeten, mir zwei hart gekochte Eier mitzubringen, außerdem haben sie Käse mitgebracht. Insofern werde ich nicht verhungern. Das Essen hier kann man nicht wirklich essen. Die Pizza, die ich heute Mittag bestellt hatte, schmeckte allerdings. Für morgen warten Rouladen, Kartoffeln und Rotkohl im Kühlschrank, das mache ich mir morgen Mittag warm. Ich freue mich schon drauf! Und morgen macht meine Mutter für mich Gemüselasagne und bringt sie mit. Davon werde ich auch ein/zwei Tage essen können. Meine Schwester kocht bestimmt mal Nudeln für mich. Ich beneide Dich, dass Du einfach so schwimmen gehen kannst. Und dass bei Euch Sommer ist. Obwohl ich froh bin, dass hier gerade kein Sommer ist, denn dann wäre alles noch viel schwerer zu ertragen. Ich beneide im Moment alle Leute, die gesund sind und frei. Und Du erscheinst immer noch ein Stück freier, als alle anderen, die ich kenne. Also, meine Liebe, mach´s gut, und vielleicht schnacken wir morgen. LG,, Gaby
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