Danach sitze ich wieder in meinem Stuhl, bis schließlich jemand kommt und mich wieder auf die Station bringt. Als ich am Tresen vorbei geschoben werde, wo Ärzte und Schwestern sich aufhalten, ruft Frau Dr. Berger: „Der ZVK sitzt super!“, was mich freut, denn ansonsten hätten wir die ganze Aktion nochmals durchführen müssen bzw. der ZVK hätte korrigiert werden müssen. Kurz darauf wird der Arm richtig verbunden. Und somit bin ich startklar für die erste Chemotherapie.
Abends bekomme ich Angst: Am nächsten Tag soll es losgehen, und ich fürchte mich vor dem Moment, an dem die Flüssigkeit in mich hineinlaufen wird! Ich warte auf die Nachtschwester. Es handelt sich um die sehr sympathische Schwester Katrin. Schließlich halte ich es nicht mehr aus und suche sie. Ich finde sie einige Zimmer weiter vor der Tür. Und ich frage sie, ob sie noch mal zu mir kommen kann. Ich bin nicht sicher, ob sie normalerweise kommen würde, denn ich bekomme noch keine Therapie, und eigentlich liegt bei mir medizinisch nichts an. Sie verspricht, noch bei mir reinzuschauen, was sie einige Zeit später auch tut. „Ich habe Angst vor der Chemo“, sage ich, und sie meint: „Ja, das ist doch ganz klar!“ Ich fühle mich etwas besser. Sie redet mit mir und sagt, dass es normal sei, dass man davor Angst hat und dass viele gar nicht darüber reden würden, dass es aber besser sei, man tue es! Sie ist wirklich sehr nett und genau im richtigen Job, denke ich. Fragt mich, ob ich noch etwas brauche. Ich nehme eine Schlaftablette, da ich fürchte, in dieser Nacht nicht zu schlafen.
Ich schlafe dann erstaunlich gut, und schon ist der nächste Tag da. Herr Jost kommt und leitet die erste Infusion ein. Er macht mir Mut: „Diese Infusion ist noch wie Wasser, davon merken die meisten Patienten nicht viel.“ Na, ich bin gespannt.
01.12.2010:
„Liebe Inga, der 14. Januar ist ein echtes Ziel! Ich hoffe, dass bis dahin alles gut läuft. Vor einigen Minuten wurde der Schlauch angesetzt, und jetzt kämpft das Medikament gegen die kaputten Zellen, juchuu. Vorher haben sie noch eine Flüssigkeit gegen Übelkeit durchlaufen lassen.
Ich habe jetzt fast Hunger. Nachher kommt Berit, meine Kindergartenfreundin aus Lübeck. Ich muss sagen, dass ist der einzig positive Aspekt an dieser Krankheit, dass alle Leute von nah und fern kommen und mich unterstützen. In den letzten Wochen fühlte ich mich doch manchmal eher allein, viele Leute hatten keine Zeit, und mir ging´s ja auch nicht gut. Im Moment denken alle an mich, ständig ruft jemand an, meine Mutter ruft jeden Morgen an, Beate zwischendurch auch, Du, und noch so einige andere. Das ist ein gutes Gefühl. Die letzten Tage waren der Hammer, weil so viel auf mich einstürmte. Ich war sehr froh, dass gestern Nachmittag Simone hier war und mir beistand. Und wenn Du erst hier sitzt! Oh, da kommt Berit! LG, Gaby“
In diesem Moment klopft es an der Tür, und meine Freundin Berit erscheint. Sie ist trotz der Schneekatastrophe aus Lübeck mit dem Zug angereist. Wir kennen uns bereits seit Kindertagen. Im Kindergarten schlossen wir Freundschaft und das ist bis heute so. Während ich allein lebe, hat Berit früh geheiratet und drei Kinder bekommen. Ich bin froh, sie zu sehen. Sie hat eine große Tüte dabei und fängt sofort an, diese auszupacken. Als erstes baut sie einen monströsen Überraschungsei - Adventskalender auf meiner Fensterbank auf! Sie weiß, dass ich vorerst nur noch Kinderschokolade essen darf. Normale Schokolade ist aufgrund des Nussanteils und eventueller Keime nicht erlaubt. Dann schenkt sie mir ein großes Poster, auf dem folgender Text steht:
„ Spuren im Sand
Eines Nachts hatte ich einen Traum:
Ich ging am Meer entlang mit meinem Herrn.
Vor dem dunklen Nachthimmel erstrahlten, Streiflichtern gleich, Bilder aus meinem Leben.
Und jedes Mal sah ich zwei Fußspuren im Sand,
meine eigene und die meines Herrn.
Als das letzte Bild an meinen Augen vorüber gezogen war,
blickte ich zurück.
Ich erschrak, als ich entdeckte, dass an vielen Stellen meines Lebensweges nur eine Spur zu sehen war.
Und das waren gerade die schwersten Zeiten meines Lebens.
Besorgt fragte ich den Herrn: „Herr, als ich anfing, Dir nachzufolgen, da hast Du mir versprochen, auf allen Wegen bei mir zu sein.
Aber jetzt entdecke ich, dass in den schwersten Zeiten meines Lebens nur eine Spur im Sand zu sehen ist.
Warum hast Du mich alleingelassen, als ich Dich am meisten brauchte?“
Da antwortete er: „Mein liebes Kind, ich liebe Dich und werde Dich nie allein lassen, erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten. Dort, wo Du nur eine Spur gesehen hast,
da habe ich Dich getragen.“
Margaret Fishback Powers
Was für ein schöner Text! Ich werde ihn wochenlang täglich mehrfach lesen, und er wird mir helfen. Es wird noch eine Zeit kommen, in der nur eine Fußspur zu sehen ist, aber das weiß ich in diesem Moment zum Glück noch nicht. Im Moment gibt es mir ein gutes Gefühl, dass da jemand sein könnte, der Einfluss auf mein Leben hat und mich in dieser Situation begleitet.
In unserer Familie sind alle Christen, aber es ist nicht so, dass ich häufig zum Gottesdienst in die Kirche gehe. Vor Jahren fragten mich zwei junge Männer einer Glaubensgemeinschaft, wie ich meinen Glauben lebe, und ich antwortete: „Ich singe!“ Denn das tue ich mit Begeisterung, und zwar seit fast 20 Jahren in einem Kieler Gospelchor. Wir gestalten häufig Gospelkonzerte in Kirchen. Die gesungenen Gospels stehen dabei im Vordergrund, aber es ist immer schön, wenn in den Ansagen der Text kurz erläutert bzw. interpretiert wird.
Berit ist ein positiver und energischer Mensch. Sie sagt: „Gaby, Du schaffst das, und dann kommst Du wieder nach Lübeck, und wir machen alles, was wir uns vorgenommen haben.“ Sie ist selbst Krankenschwester. Plötzlich entdeckt sie einen Blutfleck auf meinem Bettzeug. „Na, ich glaube, ich werde erst einmal Dein Bett beziehen“, beschließt sie. Ich bin leicht entsetzt, weil ich nicht weiß, wie die Schwestern auf diese Einmischung reagieren. Aber Berit lässt sich wie gewohnt nicht irritieren und verlässt den Raum. Kurz darauf kommt sie mit Wäsche zurück. Die Schwestern hatten wohl nichts dagegen. Schnell bezieht sie meine Bettdecke neu und alles ist wieder sauber.
Dann kommt das Mittagessen. Es gibt gefüllte Paprikaschote. Nachdem ich in den letzten Tagen kaum etwas gegessen habe, habe ich jetzt erstaunlicherweise Appetit. Den Infusionsständer muss ich von jetzt an mitnehmen, denn die Infusion läuft sieben Tage fast durchgängig. Sie wird einmal täglich ausgetauscht, dann kann man eine Pause von etwa 30 min machen, wenn man möchte.
Ich sitze also neben dem Infusionsständer beim Essen und es erscheint die Oberarztvisite. Das heißt, der Oberarzt kommt mit den weiteren Ärzten und mindestens einer Schwester. Er ist wieder sehr freundlich und sagt u. a.: „Im Moment kann man wohl noch nicht sagen, ob Sie die Chemo vertragen, sie läuft erst seit zwei Stunden.“
Die Oberarztvisite findet einmal wöchentlich statt, und später merke ich, dass die Atmosphäre ganz anders als in einer normalen Visite ist. Alle sind angespannter, auch ich als Patientin bin es.
Kurz nach der Visite verlässt mich auch Berit, denn sie muss sich wieder durch den Schnee zum Bahnhof kämpfen und dann nach Lübeck zurückfahren. Sie deutet noch mal auf den Kalender und trägt mir auf, um Gottes Willen jeden Tag ein Überraschungsei zu essen. „Ja, ja“, sage ich und grinse.
In den nächsten Tagen und Wochen bekomme ich reichlich Besuch. In den ersten Tagen kommt auch Wiebke und schenkt mir einen Schutzengel, dem noch viele folgen werden. Er heißt „Angel of healing“. Na, wenn das nicht passend ist! Auch Berit schenkt mir einen Engel, er gehört zu den „Himmlischen Schwestern“. Dann besuchen mich Freunde meiner Eltern und schenken mir einen weiteren Engel. Es ist eine sehr schlanke Frau mit ganz dünnen langen Beinen und einer Marienkäfertasche. Dieser Engel trägt ein hellgrünes Kleid und wirkt so fröhlich! Von der Figur her erinnert er mich an mich selbst. Er überragt die anderen Engel um einiges. Ich überrage auch viele mit meiner Größe von ca. 1,80. Ja, ich muss sagen, dieser Engel ist sofort mein Lieblingsengel und wird es auch bleiben, auch wenn noch diverse sehr schöne Engel zu meiner Sammlung hinzukommen.
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