Und jetzt: Leukämie? Ich kann das nicht glauben.
Dr. Graf äußert dann noch so etwas wie: „Sie werden heute nicht sterben:“ Und ich antworte: „Na, heute vielleicht nicht…“, und er sagt: „Das wusste ich, dass Sie das jetzt sagen.“
Er verlässt schließlich das Zimmer, und ich bemerke erstaunt: „Ich kann nicht mal heulen.“ Tatsächlich, ich bin im Schockzustand, keine Träne fließt. Ich gehe dann zu meinen Eltern, die draußen warten, und überbringe ihnen diese schreckliche Nachricht. Sie sind natürlich auch völlig geschockt und entsetzt.
Wenig später wird eine Knochenmarkpunktion durchgeführt, die ich gar nicht so schlimm finde, aber meine Bettnachbarin wird schon beim Zuschauen bleich. Noch am selben Vormittag werde ich auf die Leukämiestation (M24) verlegt.
Dort bittet mich die Schwester, zunächst im Aufenthaltsraum Platz zu nehmen, da mein Zimmer noch nicht hergerichtet ist. Ich sitze hier mit meiner Tasche, und plötzlich kommen mir dann doch die Tränen. Es ist alles so entsetzlich!
Die Schwester holt mich schließlich und bringt mich in mein Zimmer. Ich bin positiv überrascht. Es ist ein großes Einzelzimmer mit zwei großen Fenstern und hohen Fensterbänken. Nebenan befindet sich ein Badezimmer. Ich packe langsam meine Sachen aus und setze mich aufs Bett. Am ersten Tag passiert noch nicht viel. Es wird eine Braunüle gelegt, denn ab sofort wird mehrfach täglich Blut abgenommen.
Die Schwestern und Pfleger sind sehr nett. Ich sehe auch andere Patienten, die auf dem Flur spazieren gehen. Die meisten haben keine Haare mehr. Die Frauen tragen im Gegensatz zu den Männern meist Tücher.
Am nächsten Tag scheint die Sonne, auf der Station ist es hell. Ich habe Glück, in mein Zimmer scheint die Sonne, und das ist sehr angenehm. Als ich mein Handy aufladen will, finde ich mein Aufladegerät nicht. Da ich sicher bin, dass ich es dabei hatte, muss es auf der letzten Station liegen geblieben sein. Daher mache ich mich auf den Weg. Da ich noch keine Chemotherapie bekomme, darf ich die Station verlassen. Ich steige in den Fahrstuhl, und dort steht schon Dr. Graf Er fragt: „Na, wo wollen Sie denn hin?“, und ich erzähle ihm, dass ich auf der Station M21 was vergessen habe. Ich sage nachdenklich: „Das war gestern alles ein bisschen viel für mich.“ Er blickt mich an, als wenn er sagen will: „Und heute nicht mehr?“, aber er sagt nichts. Ich steige schließlich aus, gehe auf die Station und entdecke tatsächlich, dass in der Schublade in meinem Nachtisch noch einige Dinge von mir liegen geblieben sind, u. a. auch mein Aufladegerät. Das ist sehr gut, denn ich darf mit meinem Handy auf der Station telefonieren. Das Telefonieren ist ansonsten auch übers Festnetz möglich, aber dazu muss man zuerst eine Karte an einem Automaten aufladen, und dieser Automat befindet sich am anderen Ende der Klinik. Ich gehe trotzdem in den nächsten Tagen zu dem Automaten und richte das entsprechend ein. Es ist allerdings erschreckend, wie schnell diese Karte wieder leer ist! Ich beschließe daher, mich nur noch anrufen zu lassen oder vom Handy aus zu telefonieren.
In den ersten Tagen warte ich darauf, dass ein Arzt erscheint und mir mitteilt, dass sie sich geirrt haben. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass das Antidepressivum diese schlechten Blutwerte verursacht. Ja, ich bete darum, dass es so sein möge! Schließlich besucht mich der Oberarzt. Er erklärt mir ganz klar, dass es sich eindeutig um eine Leukämie handeln würde, und zwar um eine so genannte AML. Er weiß nur zu diesem Zeitpunkt noch nicht, um welche Unterart es geht. Offensichtlich gibt es bei dieser Krankheit viele mögliche Varianten. Einige sind aggressiv, andere sind es weniger.
Diese endgültige Aussage ist wiederum ein Schock! Jetzt gibt es kein Entrinnen mehr. Ich frage den Oberarzt, ob mir bei der Chemo zwingend die Haare ausfallen. Er antwortet: „Ja, die Haare werden Sie bei uns auch los, aber ich verspreche Ihnen, die kommen alle wieder!“ Das tröstet mich im Moment nicht so richtig! Der größte Horror war für mich immer, dass meine Haare nach einer Chemo ausfallen. Vor einigen Jahren wollte mir eine Friseurin weismachen, dass ich kreisrunden Haarausfall hätte. Ich habe einige sehr unruhige Nächte verbracht, bis eine Hautärztin mich schließlich beruhigte und sagte, es sei alles ok!
Viel schlimmer ist aber jetzt, dass ich nicht weiß, wie gefährlich diese Krankheit für mich werden wird. Diese innere Unruhe macht mich ganz krank bzw. noch kränker als ich eh schon bin! Ich maile einer Mitsängerin aus meinem Gospelchor:
30.11.2010:
Hallo Maria… mir geht´s schlecht. Bei mir wurde Leukämie diagnostiziert. Bitte sprich noch nicht darüber, Heiko wird es am Samstag bei der Probe bekannt geben. Ich bin im Städtischen Krankenhaus und werde die nächsten acht Wochen hier bleiben. LG, Gaby
Am nächsten Tag bringt meine Schwester Beate mir meinen Laptop mit. Ich habe gehört, dass man in der Klinik W-LAN nutzen kann. Ich frage die Schwestern danach, aber keiner kennt sich so richtig aus. Schließlich rät mir eine Schwester, zu einem anderen Patienten, nämlich zu Herrn K. zu gehen. Dieser nutzt bereits das Internet. Er hat sich bereit erklärt, mir das Prozedere zu erklären. Ich gehe also zu seinem Zimmer und klopfe an. „Herein“, ertönt es von drinnen. Ich öffne die Tür und sehe einen sympathisch aussehenden ca. 60 Jahre alten Mann auf seinem Bett liegen. Er lächelt mich freundlich an und bittet mich, mich zu setzen. Wir unterhalten uns. Er meint, wir könnten ruhig „Du" sagen, da wir doch in einem Boot säßen. Er heißt Achim. Ich frage ihn, wie das mit dem Internet funktioniert, und dabei stellt sich heraus, dass ich mit Windows Vista W-LAN hier nicht nutzen kann. Er hatte das gleiche Problem und hat sich daraufhin einen Internet-Stick gekauft. Das klappt inzwischen problemlos. Ich beschließe, meine Schwester zu bitten, mir einen solchen Stick zu besorgen.
Achim und ich sprechen auch über die Leukämie. Ich erzähle ihm, dass sich in meinem Blut 30% kaputte Zellen befinden, dass ich aber noch auf das endgültige Ergebnis der Untersuchung warten muss. „30%?“ fragt er, und meint, das wäre ja nix, er hätte 85%. Viel später stellt sich heraus, dass wir von zwei verschiedenen Werten reden. Ich rede von den kaputten Zellen im Blut, er redet über die kaputten Zellen im Knochenmark. In meinem Knochenmark befinden sich zu diesem Zeitpunkt 80% unreife Zellen, aber das erfahre ich erst später.
Achim erzählt jetzt, dass er auch unter AML leidet und dass er bereits die zweite Chemo durchläuft. Die erste hat perfekt angeschlagen, und die unreifen Zellen sind jetzt unter 5%, und das ist normal. Weiter berichtet er, dass er die Chemo bislang gut überstanden hat. Und er macht mir Mut. „Na klar schaffen wir das!“, sagt er so entschlossen, dass sogar ich das einen Moment lang fest glaube. Er erzählt auch, dass es bei den anderen Patienten gut läuft. Als ich sein Zimmer verlasse, fühle ich mich besser.
In den nächsten Tagen lerne ich Dr. Jost kennen. Meine Familie und Freunde halten ihn zunächst für einen Pfleger, weil er einen Zopf trägt, aber er ist der Stationsarzt. Und ein sehr netter noch dazu. Wie sich herausstellen wird, ist er äußerst einfühlsam und motivierend. Rückblickend muss ich sagen, dass die erste Zeit ohne ihn sehr viel schwieriger hätte sein können. Diese Diagnose muss man erst einmal verarbeiten, und das ist ein längerer Prozess.
Dr. Jost kommt zu mir, um Blut abzunehmen, und ich sage „Hallo, Dr. Jost!“. Er meint, das „Doktor“ sei zu viel, da er keinen Doktortitel hätte. Das wäre ihm nie wichtig gewesen. Und dann fragt er mich: „Haben Sie noch Nerven für eine gute Nachricht?“ Und ich antworte: „Immer!“ Und er erzählt mir, dass meine Variante der Leukämie eine günstige sei! Ich habe eine gute Mutation, wie er es ausdrückt. Eine, die man mit Vitamin A bekämpfen kann. Das Vitamin A zwingt diese mutierten Zellen zu reifen. Dr. Jost. sagt: „Es gibt Fälle, da fragt man sich, wie soll man das nur in den Griff kriegen? Und in Ihrem Fall denkt man, wenn nicht das, was dann?“ Und dann sagt er noch: „Es klingt zwar makaber, aber Sie sind die ideale Patientin.“ Das klingt wirklich makaber unter diesen Umständen. Er erklärt mir, dass ich insofern gute Voraussetzungen habe als dass ich jung bin (Danke! Immerhin bin ich 41) und keine Vorerkrankungen habe. Dadurch besteht eine gute Chance, die Chemo möglichst unbeschadet zu überstehen. Ich bin erleichtert und rufe sofort meine Eltern an, um ihnen diese gute Nachricht zu übermitteln. Auch sie sind froh, dies zu hören!
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