Nachmittags kommt meine Freundin Simone vorbei. Sie leidet unter MS und ist gehbehindert. Für längere Strecken nutzt sie einen Rollstuhl, und in diesem rollt sie in mein Zimmer. Ich freue mich, sie zu sehen! Kurz darauf kommt auch Herr Jost und möchte die Aufklärung bezüglich der anstehenden Chemotherapie durchführen. Ich möchte, dass Simone bleibt, und sie ist einverstanden. Herr Jost erklärt mir genau, was in den nächsten Tagen passieren wird. Vorrangig redet er darüber, mit welchen Risiken die Therapie verbunden ist. „Sie bekommen alles, was wir haben“, sagt er und meint damit, dass alles versucht wird, die Krankheit zu heilen. In diesem Zusammenhang erwähnt er auch, dass ich von jetzt an durchgängig die Antibabypille nehmen sollte. Ich frage erstaunt: „Warum das denn?“, und er antwortet tatsächlich: „Wir wollen verhindern, dass in dieser Zeit ein Kind entsteht.“ Ich bin sprachlos. Sehe mich hier in dieser Atmosphäre in meinem Krankenbett liegen. Der Arzt spürt meine Verwunderung und sagt: „Wir haben hier schon die dollsten Dinge erlebt!“, worüber ich trotz allem doch grinsen muss. Als Single sehe ich da keine „Gefahr“. Die Pille dient aber wohl hauptsächlich dazu, dass in der Zeit der Therapie keine Blutung entsteht, wie mir Herr Jost weiter erklärt.
Dann erzählt er, was in der Chemo alles auftreten KANN, und die Liste ist so lang und unerfreulich, dass mir ganz anders wird! Simone sitzt die ganze Zeit ruhig neben mir und hört aufmerksam zu. Ich bin so froh, dass ich mir das nicht allein anhören muss. Als Herr Jost fertig ist, fragt er, ob ich noch Fragen habe. Ich sage leise: „Lassen Sie mich hier raus.“
Er sagt, dass er mich nicht gegen meinen Willen hier festhalten kann und dass ich natürlich jederzeit gehen könnte. Ich weiß es ja auch, aber die Alternative wäre eben, mein Testament zu machen, und das ist für mich keine Alternative. Insofern ist da die Wahl zwischen Pest und Cholera, und ich entscheide mich für Pest.
Als der Arzt das Zimmer verlassen hat, atmen Simone und ich hörbar durch. Ich muss erst einmal verdauen, was ich gerade gehört habe. Ich frage mich, wie ich das alles schaffen soll. Vieles habe ich schon über Chemotherapien gehört, vor allem, dass einem davon enorm übel wird. Ich bin sowieso sehr dünn und habe immer Mühe, mein Gewicht zu halten. Wie soll ich bloß eine solche Therapie überleben? Und dann die Sache mit den Haaren…meine Haare sind mir so wichtig, sie sind sehr dick, schulterlang und leicht kraus. Ich kann und möchte mir meinen Anblick ohne Haare einfach nicht vorstellen.
Den Schock der Diagnose habe ich noch nicht verdaut. Wie auch, in den paar Tagen? An einem Tag bin ich besonders unruhig und deprimiert. Ich bekomme daraufhin ein Medikament zur Beruhigung, Tavor heißt es. Nie gehört, denke ich. Aber diesbezüglich kenne ich mich auch nicht aus. Ich nehme die Tablette und nach einer halben Stunde bin ich total entspannt und gut drauf! Meine Eltern, die mich gerade mal wieder besuchen, sind völlig irritiert. Aber ich habe das Gefühl: Es ist alles gar nicht so schlimm. In den folgenden Tagen bitte ich öfter um eine solche Pille, aber beim allerersten Mal hat sie am besten gewirkt. Wahrscheinlich hätte man bei mir schon beim zweiten Mal die Dosis erhöhen müssen, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Merkwürdig.
In diesen Tagen telefoniere ich mit Hajo, einem Bekannten, der in der Suchtbetreuung arbeitet und erzähle ihm davon. Er fragt: „Wie heißt denn das Zeug?“ und ich sage: „Tavor oder so ähnlich.“
„Was?“, ruft er entsetzt, „Du nimmst Tavor?“ „Ja“, antworte ich, „das ist die reinste Glückspille!“ „Naa“, sagt er gedehnt, dann kannst Du ja nachher bei mir von Tavor entgiften.“ Bei diesem Gedanken muss ich lachen, warum auch immer! Aber natürlich werde ich auch nachdenklich. Es scheint ein Teufelszeug zu sein. Auch die Ärzte wollen mir das Medikament nach ein paar Tagen nicht mehr geben. Die Schwester erzählt mir, dass man das höchstens zwei Wochen nehmen soll, bevor man abhängig wird. Es wird also Zeit, dass ich damit wieder aufhöre. Ich frage, ob ich nicht wieder mein Antidepressivum nehmen könnte. Schließlich war dies offensichtlich nicht der Grund für meine Beschwerden. Aber die Ärzte zögern.
Ich telefoniere auch mit Dwight, einem Freund in Berlin. Er sagt: „Gaby, iss auf keinen Fall das Essen dort! Das Essen im Krankenhaus ist extrem geringwertig, davon wird kein Mensch gesund. Iss auf keinen Fall das Brot!“ Ich frage: „Sag mal, geht’s noch? Was soll ich denn Deiner Meinung nach machen? Ich bin hier eingesperrt!!“ Er schlägt vor, dass ich mir von meinen Besuchern reihum etwas mitbringen lassen soll. Nachdem Dwight und ich früher häufiger bei Mc Donalds essen waren, ist er inzwischen zum Ernährungs-Apostel mutiert.
In den nächsten Tagen merke ich aber, dass er recht hat. Gerade das Brot schmeckt hier überhaupt nicht. Ich bitte daraufhin doch meine Familie, mir regelmäßig Brot mitzubringen, was sie auch umgehend tut.
Eine meiner besten Freundinnen lebt in Neuseeland. Von ihr erhalte ich am 30.11.2010 folgende Email:
Liebe Gaby, es ist kurz vor Mitternacht und ich hab' einen Flug gebucht!! Am 13. Januar lande ich in Hamburg! Und spätestens am 14. Januar bin ich bei dir!
Bis heute Abend deiner Zeit am Telefon! Take good care xxx Inga
Hey, was für eine tolle Aussicht! Ich schreibe ihr sofort begeistert zurück und kann es nicht fassen, dass sie extra wegen mir aus Neuseeland angereist kommt. Da ich selbst vor einigen Jahren dort war, weiß ich, wie anstrengend und lang die Reise ist.
Am nächsten Tag erscheint Frau Dr. Berger, um den zentralen Venen-Katheter (ZVK) zu legen. Das scheint eine größere Aktion zu sein und wird entsprechend vorbereitet. Es wird eine sterile Fläche geschaffen, und alle notwendigen Instrumente werden darauf angeordnet. Mir ist leicht mulmig zumute. Frau Dr. Berger erklärt mir, dass sie versuchen wird, den ZVK im Arm zu legen. Sollte dies nicht funktionieren, bleibt nur der Hals. Hilfe!
Schließlich beginnt sie und es fängt mit einem schmerzhaften Einstich im rechten Arm an. „So, das war das Schlimmste“, meint sie. Dann versucht sie, diesen dünnen Schlauch durch die Vene in Richtung Herz zu schieben. Eine Weile klappt es auch, aber dann bleibt sie stecken. Trotz aller Bemühungen geht es nicht weiter. „Oh nein“, denke ich. Irgendwann gibt sie auf und sagt, dass wir es am linken Arm probieren werden. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller, als sie es kurz darauf links probiert. Wieder der Schmerz beim Einstich. Ich halte den Atem an, und sie schiebt den Schlauch hoch. Es funktioniert. Hurra! Der Gedanke, dieses Ding am Hals zu haben, ist furchtbar. Da ist der Arm doch die wesentlich angenehmere Alternative.
„So, das muss jetzt erst einmal geröntgt werden“, sagt sie. „Ich bestelle einen Transport und Sie sollten den Arm möglichst nicht bewegen.“ Sie verbindet ihn notdürftig. Der „Transport-Mensch“ erscheint und ich werde in einem Rollstuhl quer durch die Klinik zur Röntgenabteilung gefahren. Er stellt mich mitten im Warteraum ab, wo bereits andere Patienten warten und sagt, dass ich dann aufgerufen werde. Da sitze ich, rechts neben mir liegt eine alte Dame röchelnd in ihrem Bett, links neben mir sitzt ein Mann im Rollstuhl. „Wie bin ich hier nur gelandet?“, frage ich mich verzweifelt. Plötzlich bin ich in einer komplett anderen eigenen Welt, nachdem ich wenige Wochen zuvor noch ganz normal in meinem Job gearbeitet habe. Es fühlt sich nicht gut an. Die Zivis oder sonstigen Mitarbeiter, die für den Transport zuständig sind, stehen in einer Gruppe zusammen an ihrer Station und unterhalten sich. Ich beneide sie. Sie sind gesund und jung und gehen wahrscheinlich noch davon aus, dass ihnen so etwas niemals passieren wird.
Schließlich erscheint die Röntgenschwester und sagt meinen Namen. Ich melde mich, und sie fragt, ob ich ein paar Schritte laufen kann. „Ja, klar“, antworte ich und stehe aus meinem Rollstuhl auf und gehe zu ihr. Als ich Pullover und T-Shirt ausziehe, merke ich, dass der Arm völlig durchgeblutet ist. Die Schwester ist entsetzt. Sie sagt mitfühlend: “Mann, was man manchmal so mitmacht! Unglaublich.“ Sie reinigt den Arm und ich werde geröntgt.
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