Als Lewyn daraufhin mit dem Kopf zu schütteln begann, fügte der Prinz noch verteidigend an: "Hey, ich bitte dich, dafür konnte ich nun wirklich nichts! Sie war neu angestellt gewesen und hatte sich verirrt!" Doch hob der Blonde daraufhin nur tadelnd den Zeigefinger in die Höhe und richtete ohne Gnade über ihn: "Ah ah, keine Entschuldigungen, Freundchen, keine Entschuldigungen! Du hast mich da total mit reingeritten!"
"Jetzt stell dich doch mal nicht so an …!", meinte Sacris ungläubig lachend und schlug seinem Freund locker gegen die Schulter, "Als ob ich dich gezwungen hätte, da mitzumachen!" – "Na, was denkst du denn! Als ob ich damals eine Wahl gehabt hab!", rief Lewyn übertrieben entrüstet und stemmte seine Arme in die Hüfte, "Es hieß doch ständig von allen Seiten, ich soll mir dich zum Vorbild nehmen! Was tut klein Lewyn also? Macht alles nach, was klein Sacris ihm vormacht!", und er begann, wild um sich zu gestikulieren, "Fleißig lernen. Mercurio piesacken! Fleißig lernen. Von selbstgebauten Baumhäusern herabstürzen! Fleißig lernen. In einen vermeintlich zugefrorenen See einbrechen und in der darauffolgenden Rettungsaktion das halbe henxische Bataillon mit ins Eiswasser ziehen!"
Sacris lachte herzhaft auf. "Sei bloß still, du wandelndes, kriminelles Element, du! Ein Vertrauensmissbrauch nach dem anderen!", regte sich der hellhaarige, junge Mann lauthals auf, "Dadurch, dass ich dir alles bedenkenlos nachgemacht habe, war ich am Ende noch wesentlich schlimmer dran, als wenn ich gar nichts davon getan hätte!" Noch immer lachend wuschelte ihm der Prinz durch die langen Haare und entgegnete: "Jaja, na und? Bereust du es etwa?", und wieder breitete sich ein Grinsen auf seinen Lippen aus, "Wärst du doch lieber ganz bei den Henxern aufgewachsen, anstelle ein halbes Dutzend von ihnen mal eben aus Versehen ins Wasser zu reißen?" Da schüttelte Lewyn abermals den Kopf und ließ ein unerwartet mildes Lächeln sehen. "Ach was, Blödsinn …", meinte er resigniert seufzend – und auf eine sonderbare Weise zufrieden mit sich und der Welt, "Es waren zwar die verrücktesten, aber auch die schönsten Tage meines Le-"
Ein plötzlicher Aufschrei zog die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich. Auf der breiten Straße vor ihnen staute sich die Menschenmenge und bildete einen Kreis um etwas, das sie aus der Ferne nicht genauer erkennen konnten.
"Seht euch mal diese Frau an …!", merkte einer der beistehenden, fremden Männer mit einem anzüglichen Grinsen an. Ein erneuter Schmerzensschrei folgte und eine bissige Frauenstimme kreischte: "Ich sagte, dass du damit aufhören sollst! Hör auf, so einen Schwachsinn zu träumen, und mich damit auch noch vollzumüllen!"
Auf die darauffolgende Stille begannen die Herumstehenden zu murmeln. "Der arme Junge …", meinte eine Magd, "Seht euch diese Krallen an!" – "Na, die müssen ziemlich wehtun", verzog ein Händler das Gesicht.
"Hast du mich verstanden, Herby?", keifte die Frauenstimme von vorhin fort und ein weiterer Schrei ertönte. "Das ist doch grausam …!", bemerkte eine adlige Dame, als ein helles Schluchzen erklang. "Mensch, wieso tut denn keiner etwas …?!", wunderte sich ein gedrungener Handwerker und reckte den Kopf in die Höhe, "Wo sind die Wachen? Ruf doch jemand die Wachen!" – "Mama, i-ich habe Angst!", kam es von einem Kind. "Schhh, meine Kleine", gab die Mutter beruhigend von sich, "Komm, lass uns weitergehen …"
"Verzeihung, dürften wir bitte kurz durch …?" Der Prinz und sein Freund konnten sich endlich einen Weg durch die Menge bahnen; und so standen sie nun vor einer mehr als aufreizend gekleideten, auffällig gutaussehenden, jungen Frau, welche jedoch wie eine Furie auf einen kleinen, weinenden Jungen von nicht mehr als sechs Jahren einschimpfte: "Na heul doch so viel du willst, aber lass mich endlich mit diesem Blödsinn in Ruhe, ist das klar?"
Die Fremde hatte langes, schwarzes Haar und trug mit Schnallen besetzte Lederstiefel auf extrem hohen Absätzen – bei denen sich Sacris prompt fragte, wie man damit überhaupt auf dem Kopfsteinpflaster stehen, geschweige denn gehen konnte. Ein zu den Schuhen passender Lack- und Lederaufzug mit entsprechend tiefem Ausschnitt verpasste ihrer höchst einprägsamen – und höchstwahrscheinlich lunidischen – Erscheinung den letzten Schliff.
"Ob du mich verstanden hast, Herby!?" Drohend beugte sich die Frau über den kleinen Knaben, welcher sich wimmernd seine blutende Wange hielt. Sein weißblondes, topfförmig geschnittenes Haar verbarg seine Augen und ein türkises Seidenbarett zierte sein Haupt mit einer einzelnen, großen Feder. Durch den gleichfarbigen Umhang und eine entsprechend passende Tunika wirkte das Kind fast wie jemand, der versuchte, als edler Knappe durch die Welt zu ziehen und große Heldenabenteuer zu erleben.
Nun hob der Junge den Kopf und richtete seine hellblauen, mit funkelnden Tränen besetzten Augen auf die aufbrausende Frau. "A-aber Träume können doch nicht einfach auf Befehl verändert werden!", erwiderte er verzweifelt, "Was kann ich denn dafür, dass ich gesehen habe, wer dieses Mädchen entführt hat?! Ich kann doch nicht einfach sagen 'Traum, hör auf!' oder 'Träum' was Anderes'!'"
Daraufhin stampfte die Frau zornig auf und holte zu einem weiteren Schlag aus. "Deine Frechheit werde ich dir noch austreiben-!" – Doch weiter kam sie nicht, denn ihre mit scharfen Fingernägeln besetzte Hand wurde plötzlich von jemandem ergriffen. Die Fremde begann zu fluchen und zu zerren, aber der Prinz hielt sie fest umklammert. "Was zum …!", regte sie sich auf und versuchte, ihren Bezwinger allein Kraft ihres Todesblickes in die Flucht zu schlagen. "Ihr wagt es!", knurrte die Frau und rümpfte auf einmal abfällig die Nase, "Wer seid Ihr überhaupt?"
Sacris blieb ruhig, ganz ruhig … und hob lediglich eine Augenbraue. Die Menge um sie herum hielt den Atem an. "Sacris Faryen, Kronprinz und Erbe der königlichen Faryen Dynastie. Ich bin ebenfalls erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen", sprach er betont nüchtern, "Würdet Ihr nun die Höflichkeit besitzen, mir Euren Namen zu nennen und zu erklären, was das hier zu bedeuten hat?"
Lewyn wandte sich unterdessen an die sie umgebenden Leute und erhob die Stimme: "Also dann … Hier gibt es nichts weiter zu sehen! Geht nun bitte wieder eures Weges!", und er scheuchte sie gemächlich fort, "Los, geht schon, geht! Geht weiter!" So zerliefen sich die Menschen – die einen mehr, die anderen weniger murrend – allmählich wieder über den ganzen Markt, sodass die beiden Männer mit dem Jungen und der Frau alleine zurückblieben.
Die blutroten Augen der Fremden hatten sich bei der Erwähnung des königlichen Status' für einen kurzen Moment geweitet, dann aber wieder ihren typisch zynischen Ausdruck angenommen. "Was mischt Ihr Euch denn bitte in meine Privatangelegenheiten ein?!" Sacris hob die Augenbraue daraufhin erneut, behielt jedoch seine Fassung. "Verzeiht, aber durch Euer auffälliges Störverhalten habt Ihr es gerade zu einer sehr öffentlichen Angelegenheit gemacht."
In diesem Moment erschien eine kleine Stadtpatrouille in ihrem Sichtfeld, welche bereits in ihre Richtung eilte. Das war dem Prinzen nicht entgangen, so fuhr er knapp zu dieser hin nickend fort: "Wenn Ihr Euch weigert, mir Euren Namen zu nennen, kann ich Euch selbstverständlich auch gerne gleich den Henxern dort übergeben." Als die henxischen Wachen Seine Königliche Hoheit erkannten, blieben sie demonstrativ stehen, als würden sie auf eine Art Anweisung warten …
Allmählich schien der Frau die Lage zu dämmern, in welcher sie sich befand, denn der Zug am Arm verringerte sich und sie nahm eine resignierte Haltung ein. Da ließ sie der junge Mann los und schickte die Patrouille mit einem Wink fort. "Laetitia … Laetitia Vendetta, wenn Ihr es genau wissen wollt", stellte sie sich mit einer giftigen Grimasse vor, die wohl einst ein Lächeln hätte werden sollen. "Laetitia Vendetta …", wiederholte Sacris langsam, "Gut, Laetitia. Nun sagt mir, was Euch das Recht gibt, diesen Jungen namens … Herby?, wenn ich es richtig verstanden habe, derartig anzugreifen?"
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