Der König schritt bedächtig zum Baum der Väter hin und blieb vor der bepflanzten Grünfläche stehen. Er blickte nachdenklich von den mächtigen Wurzeln am langen Stamm entlang bis hinauf in die zahlreichen Blätter der verzweigten Krone. "Wir haben vieles geschafft …", sprach Rex Faryen leise, "Unsere Väter … haben vieles geschafft …" Sein Berater war ihm still gefolgt und stand nun diskret schweigend neben ihm. Der alte König wandte sich ihm zu und sah ihn eindringlich an. "Und das darf jetzt nicht alles umsonst gewesen sein."
Der Mercurio Hal hatte die Fingerkuppen aneinander gelegt und hob nun eine Augenbraue. "Ihr sprecht vom Zuchtprogramm?" – "Ganz recht", erwiderte König Faryen, "Ihr habt die Wölfe ja bereits gefangen, die wir dafür benötigen, nicht wahr?" – "Selbstverständlich", kam es in sachlichem Tonfall vom kahlköpfigen Berater, "Alles ist in die Wege geleitet. Wir erwarten nur Euren Befehl." Der König schien einen Moment lang nachzudenken, bis er schließlich nickte und sagte: "Dann geh jetzt. Du weißt, was du zu tun hast." Hal verneigte sich leicht – wodurch ein fremdartiges, hellblaues Zeichen auf seinem kahlen Schädel zum Vorschein kam – und verließ anschließend lautlos den Raum.
Kaum war der Mercurio verschwunden, erschien ein äußerst gehetzt wirkender Diener: "Eure Königliche Majestät, Seine Königliche Hoheit, der- …!", in dem Moment öffneten sich bereits die Tore und ein schwarz uniformierter Mann mit dunkelrotem Mantel und kurzem, dunkelbraunem Haar betrat zügigen Schrittes den Saal. Direkt hinter ihm folgte ein etwa einen halben Kopf kleinerer Mann in beigem Gewand und langem, blondem Haar. Sie durchquerten den Raum bis hinter den Thron, während sich der Diener eilig zurückzog.
Vor dem König blieb der vordere Mann abrupt stehen, warf seinen Mantel schwungvoll nach hinten und nickte seinem älteren Gegenüber respektvoll zu. "Vater." Der Blick des Königs wurde sanft, als er die jungen Ankömmlinge musterte – und er legte beiden jeweils eine Hand auf die Schulter. "Sacris, mein Sohn … Lewyn … Seid mir herzlich willkommen."
Noch ehe Sacris etwas sagen konnte, meldete sich Lewyn noch ganz atemlos vom Laufen zu Wort: "Eure Königliche Majestät, ich grüße Euch …! Der Bote …", doch er zögerte plötzlich, "Wegen … wegen Celine … was …" König Faryen nahm seine Hände wieder herunter, wandte sich um und begann, langsam entlang der Säulen des Innenhofes zu schreiten. Die jungen Männer schlossen zu ihm auf und liefen nun auf gleicher Höhe neben ihm.
"Es scheint, dass die Tragödie jetzt wohl auch uns betrifft …", begann der König leise, "Ich glaube nicht, dass eure Unruhe getilgt wäre, indem ihr zwei wehrlose, arme Wesen niederstrecktet, nicht wahr?" Die zwei Freunde schüttelten daraufhin schon fast ungläubig ihre Köpfe und Lewyn fügte ein wenig verzweifelt hinzu: "Sie ist doch nicht schon …! Ich meine, wer weiß, wo sie ist? Sie-" – "Richtig, Lewyn", unterbrach ihn der König bestimmt, "Wer weiß, wo sie ist. Wir haben alles absuchen lassen, aber keinerlei Spuren, geschweige denn Anhaltspunkte gefunden, was mit ihr geschehen sein könnte", und er seufzte in Resignation, "Es ist ausweglos … Genau wie in all den anderen Fällen, in welchen die Angehörigen einfach ohne jeden Hinweis verschwunden sind."
Bevor einer der jüngeren Männer etwas einwerfen konnte, fügte Rex Faryen allerdings noch mit beschwichtigend erhobener Hand hinzu: "Und nein, ich selbst glaube auch nicht, dass es die Wölfe gewesen sind, die unsere Schilde durchdrungen haben. Das schaffen sie nämlich gar nicht. Abgesehen davon hätten diese wenigstens Fährten hinterlassen. Und dass sie 'magische Wesen' sein sollen?", er lachte und führte seinen Monolog sarkastisch fort, "Tseh, das glaubt ihr ja wohl selbst nicht …! So etwas wie Magie gibt es nicht. Alles lässt sich logisch begründen. Irrationale Erklärungen sind völliger Unfug."
Der König redete ununterbrochen weiter und benutzte dabei eine Hand zur Argumentation. "Zudem gibt es nur ausgewählte Tiere, die wir mit Chips versehen haben, damit sie durch die Schilde hindurchgelangen können", und er ließ die andere Hand der ersten in die Höhe folgen, "Aber auch das nur, weil Händler und Reisende ihre Pferde und Esel ansonsten jedes Mal vor den Städten zurücklassen müssten …!" Dann ließ der alte Mann plötzlich beide Hände fallen und schüttelte unglücklich den Kopf. "Aber, was rede ich da? Das wisst ihr ja alles schon." Er seufzte schwermütig und blickte wieder nachdenklich bedrückt zum Baum der Väter hinauf …
Die beiden Freunde hörten dem König geduldig zu – so kannten sie seinen Hang zu Monologen nur zu gut – und liefen an seiner Seite entlang, während er gedankenverloren weitererzählte: "Ich frage mich, wie lange es noch dauern wird, bis es zum Krieg kommt; sei es der Krieg zwischen den Menschen und Elfen – oder … sei es der Krieg zwischen uns Menschen selbst …"
Da merkte Sacris auf einmal beunruhigt an: "Vater, ich habe deinen Brief erhalten. Ist es wirklich wahr?" Der alte Mann nickte schweren Herzens und ließ seinen Kopf hängen. "Ja, mein Sohn, du hast richtig gelesen …", entgegnete er ihm, "Wir befinden uns in einer mehr als heiklen Situation. Wollen wir es der einen Seite recht machen, wird sich unweigerlich die andere gegen uns auflehnen", und Rex gestikulierte wieder mit den Händen, "Bewahren wir also den Frieden im Inneren unseres Reiches, werden wir uns mit den Elfen bekriegen – sind wir mit den Elfen im Reinen, zerbricht unser Reich … So oder so: Es wird Krieg geben."
Da ergriff Lewyn verständnislos das Wort: "Aber … was ist dann bloß sonst für das Verschwinden der Menschen verantwortlich, wenn nicht irgendwelche Bestien? Wenn wir doch nur endlich den wahren Grund herausfinden könnten, wären beide Probleme auf einmal gelöst, oder?" Sacris nickte langsam und fragte: "Haben deine Landeskundschafter denn mittlerweile etwas herausfinden können, Vater?" Doch König Faryen seufzte und schüttelte den Kopf. "Nein, nichts …", meinte er bedauernd und atmete einmal tief durch.
Daraufhin dachte der Prinz lange nach und runzelte schließlich die Stirn. "Aber … wenn das so ist, was wirst du dann jetzt machen, Vater? Ein Krieg im inneren des Reiches würde alles zunichte machen, wofür du dich in deinem Leben eingesetzt hast. Und eine offene Auseinandersetzung mit den Elfen-" – "Weißt du, mein Sohn …", unterbrach ihn der König auf einmal mit auffallend träger Stimme und einem fatalistischen Lächeln, "… ich bin mit meinen Kräften langsam am Ende …" – "Vater …?" Sacris sah ihn latent bestürzt an. "Was hat das … zu bedeuten …?"
Der König blieb stehen und schaute seinen Sohn müde, sehr müde an. Die Ringe um seine dunklen Augen waren tiefer als alle anderen Falten in seinem alten und vom Leben gezeichneten Gesicht. "Meine Zeit geht langsam aber sicher zu Ende …", und er legte ihm bedeutungsvoll nickend eine Hand auf die Schulter, "Nicht mehr lange und du wirst meine Nachfolge antreten, weißt du? Nur noch zwei Jahre, dann hast du endlich deinen dreiundzwanzigsten Geburtstag erreicht … Dann wirst du … der neue König sein …"
Rex Faryen ließ erneut ein tiefes Seufzen hören und murmelte unhörbar: "Ja, ja, … der neue König …", und er wandte sich unter geistesabwesendem Nicken ab, um weiterzugehen. Weder Sacris noch Lewyn behagte der Tonfall, welchen er an den Tag legte. So beschleunigte der Prinz seine Schritte, um zu seinem Vater aufzuholen. "Ja, ja …", nickte der alte Mann geistesabwesend fort, "Und unter Umständen wird es gar nicht nötig sein, so lange zu warten …" Da rief Sacris sofort: "Vater, was- …?!", doch er konnte nicht weitersprechen, denn der König hatte ihm einen Finger auf den Mund gelegt. "Nur Geduld … nur Geduld, mein Sohn …", sprach jener ruhig und entschieden, "Die Zeit wird alles offenbaren." Rex lächelte matt und schritt fort.
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