Der König beobachtete die Reaktion seines Sohnes ernst und nachdenklich … Sacris bot dem Mercurio offenkundig die Stirn und wirkte im Vergleich zu all den anderen Menschen völlig unbeeindruckt von dessen autoritärem Auftreten. Der Wissende hatte während der Tirade des Prinzen eine Augenbraue gehoben und seinen Blick ebenso beherrscht erwidert wie er ihn von dem jungen Mann empfangen hatte. Sowohl der König als auch der Berater schwiegen.
"Wenn Ihr nichts mehr zu sagen habt, werde ich mich nun zurückziehen", endete Sacris knapp und nickte seinem Vater kurz zu, bevor er sich auf dem Absatz herumdrehte und den Thronsaal verließ. Der Mercurio sah ihm mit einem still interessierten Blick nach. Der König seufzte.
Sacris ging zielstrebig auf sein Zimmer zurück und war innerlich erleichtert, keinen weiteren ungewünschten Personen auf dem Weg begegnet zu sein. Als er in seinen Gemächern angekommen war, griff er nach dem Wasserglas vom Silbertablett und trank daraus einen kleinen Schluck. Im Vorbeigehen langte der Prinz dann noch nach einer belegten Brotscheibe, biss in diese hinein und ging damit im Mund weiter zum Stuhl neben seinem Bett hinüber. Er nahm das darum gehangene Schwert, gürtete es sich routiniert um, kehrte dabei wieder zum Tisch zurück – und biss nun endlich erstmals ein Stück von seinem Brot im Mund ab. Nachdem er es mit einem weiteren Schluck Wasser hinuntergespült hatte, verließ der dunkelhaarige Mann den Raum auch schon wieder.
Sacris war das Ganze zuwider: Er hielt es nicht aus, erleben zu müssen, wie der ganze Adel Jahr um Jahr immer dekadenter wurde. Seit Frieden im Reich herrschte, kam es dem Prinzen vor, als wäre jeder Mensch, der es sich leisten konnte, dem Genuss und Amüsement verfallen. Zu ihren immer ausfallender werdenden Aufzügen kam nun hinzu, dass er zunehmend auf betrunkene Adlige im öffentlichen Teil des Palastes traf, auch wenn Sacris zugeben musste, dass ihn bisher noch niemand auch nur im Ansatz so ungehemmt angefallen hatte wie die Weibsbilder im Säulengang vorhin.
Die Menschen hatten sich vorrangig an den Küstengebieten des südlichen Gebirges bis hin zu den Wüsten von Rayuv ausgebreitet. Sie handelten hauptsächlich über Hafenstädte und Schiffe, da das Landesinnere weitestgehend unbewohnt war und es kaum zugängliche Pässe gab, welche über die hohen Gipfelkämme der Berge führten.
Die Menschen fürchteten die Einsamkeit des Gebirges des Grauens. Nur wenige Pflanzen und Tiere vermochten in jener Ödnis zu überleben – und man erzählte sich von einem unvorstellbaren Schrecken, der dort wohnte: einem Grauen, welches Mark und Bein erschüttern ließ. Niemand verlor auch nur ein Wort darüber, was einem in der Abgeschiedenheit jener Berge begegnen mochte; doch mied ein jeder sie wohl wissend, dass sie gleich dem Feld der Himmelsspeere ein Ort ohne Rückkehr waren.
Es gab vier mächtige Grafenhäuser, welche die Pfeiler des Menschenreiches darstellten: Henx, Lun, Xorn und Kayran. Jedes von ihnen verfolgte einen eigenen Kodex und hielt bestimmte Werte und Prinzipien für heilig. So verkörperten die vier Grafenhäuser gänzlich unterschiedliche Ansichten von Kultur, Wissenschaft und Moral und hatten ihre Rivalitäten untereinander nie ganz abgelegt. Allerdings gab es mit der Herrschaft König Faryens III seit Ewigkeiten erstmals wieder ein vereintes Reich – und dass dies mit dem plötzlichen Auftauchen der Wissenden zu Beginn seiner Regentschaft zusammenhing, war ein offenes Geheimnis.
Das Königshaus Faryen hatte seinen Sitz in Hymaetica Aluvis, der Hauptstadt der Menschen, während die Grafenhäuser Henx, Lun, Xorn und Kayran in ihren gleichnamigen Städten residierten.
Die Menschen jenseits dieser fünf Großstädte waren meist eher einfach gestrickt und lebten von Viehzucht und Landwirtschaft. Über die Jahrhunderte hinweg hatte sich ein starker Ahnenkult manifestiert, der ohne geistliche Führungspersonen in Tempelanlagen praktiziert wurde. Dabei wurden die Verstorbenen rituell in dem Glauben verbrannt, dass ihre Lebenserfahrung in den Baum der Väter einging und zur Weisheit für die Könige wurde.
Die Kriegerfestung Henx war die einzige Grafenstadt, welche sich nicht an der Küste zum Ozean der Träume befand. An der Quelle des Tical auf dem Pass zur Senke des Schicksals gelegen sorgte Henx für die Sicherheit des Reiches – indem es die beständig von außen einfallenden Exenier-Horden am Großen Wall zurückschlug. Da die Grafenstadt Henx als Festungsanlage zwischen zwei Bergen errichtet worden war, stellte sie die nördliche Bastion gegen die hereinfallenden Anderwesen vom Norden, Osten und Westen her dar.
Henx besaß die am besten ausgebildeten Truppen des ganzen Menschenreiches und hatte sie bei Weitem auch am häufigsten einsetzen müssen. Entsprechend wies der Graf von Henx einen unübertroffenen, militärischen Erfahrungsschatz auf; sodass es niemanden wunderte, dass er zugleich der Oberbefehlshaber der menschlichen Armee war. Die Grafschaft Henx hatte dem König seit jeher treu gedient und ihre Krieger dienten als Hüter des Gesetzes im ganzen Menschenreich.
Die Berge, zwischen denen Henx eingebettet lag, flankierten den Fluss Tical zur Meeresmündung im Ozean der Träume, wo die Hauptstadt der Menschen Hymaetica Aluvis lag.
Folgte man von der Hauptstadt aus der Küste in den Süden, so traf man zuallererst auf die Grafschaft Lun am Ansatz des Drachenrückens – einem sichelförmigen Bergkamm, welcher in den Ozean hineinführte. Dabei handelte es sich um das Ende des Gebirges des Grauens, das sich fernab der Küste in den Tiefen des Meeres zerlief. Der Gebirgskamm unterteilte das Menschenreich in den fruchtbaren Norden und kargen Süden, da es die Meeresströmungen umlenkte und den Niederreichen dadurch ein trockenes Klima bescherte.
Lun war eine verhältnismäßig kleine Grafschaft und bildete den Handelsknotenpunkt zwischen dem Norden und dem Süden. Durch seinen hohen Zoll war Lun auffällig wohlhabend und reich an Schätzen. Seine Bewohner verstanden es, ihren größtmöglichen Profit aus einer jeden Situation zu ziehen, und dabei eher selten Rücksicht auf ihre Geschäftspartner und Mitmenschen zu nehmen.
Doch der Handel und Wohlstand stellten nur einen Bruchteil der Kultur Luns dar. Die Luniden waren in erster Linie Schöngeister, Dichter und Künstler. Wo das Wesen der Henxer vom Kampf um die Gerechtigkeit bestimmt war, so bestand das Wesen der Luniden aus der Liebe für Ästhetik, Kultur und Sinnlichkeit. Entsprechend groß war jedoch auch der Schatten der Dekadenz und Intriganz, den Lun mit sich brachte; und ein jeder wusste, dass Vorsicht geboten war, wenn man mit Luniden umging – denn sie waren Meister des falschen Spiels.
So undurchsichtig und listig die Luniden waren, so klar und aufrichtig waren die Xorniden. Die Grafenstadt Xorn lag südlich von Lun in der Drachenbucht und war als zuletzt rettender Anker von großer Bedeutung für viele Seefahrer, welche von den unberechenbaren Wirbeln des Drachenrückens heimgesucht wurden.
Xorn war vergleichsweise arm und bildete den direkten Gegensatz zur Grafschaft Lun, da seine Menschen nicht im Geringsten auf materiellen Reichtum aus waren und das einfache Leben und die Familie schätzten. Xorn war die Stadt der talentierten Handwerker und tüchtigen Arbeiter. Durch die in ihren Gewässern auftretenden 'Drachenwirbel' waren die Xorniden allerdings ebenso dafür bekannt, ungeschlagen in Schiffstechnik und Seefahrt zu sein. Ihre Navigatoren zählten zu den geschicktesten und zuverlässigsten des Reiches und wurden häufig mit der Überfahrt wichtiger Frachten beauftragt.
Den Menschen Xorns sagte man allgemein nach, dass sie ihr Herz am rechten Fleck trugen und viel Wert auf praktisch Verwertbares legten – sodass sie als Bezahlung lieber ein gebratenes Schwein auf dem Tisch als eine Münze im Geldbeutel sahen.
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