Der Fluss mündete in einen tiefen, ruhigen See, der sich in die Breite erstreckte und den dunklen Wald zu den Uferseiten hin sanft abfallenden Wiesenhängen weichen ließ. Das nun entstehende Panorama offenbarte einen sich scharf abzeichnenden, kahlen und hohen Gipfelkamm zum Osten hin und weiche, waldige Hügelberge zum fernen Ozean der Träume im Westen hin. Vor ihnen in den weiten Süden hinein vermengten sich beide Elemente wiederum zu einer ganz und gar umwerfenden Komposition, die das Auge und Herz erfreute.
Einige Kunags – harmloses Wild – wurden durch die herannahenden Pferde von den Ufern verscheucht und entflohen hüpfend in die hohen Gräser der Auen. "Sieh dir das an, Sacris …! Ist das nicht herrlich?", lachte der Blonde und breitete seine Arme in den Wind aus, während sie im seichten Wasser am See entlangritten.
Sacris schmunzelte unwillkürlich. Es würde ihn nicht wirklich wundern, wenn sein Freund jenem Adler gleich selbst jeden Moment in die Lüfte emporschweben würde. Er genoss es, Lewyn so unbeschwert zu sehen. Es beflügelte auch ihn, seine eigenen Fesseln des Alltages fortzuwerfen und alle Pflichten für den Augenblick zu vergessen, um sich einfach dem Gefühl der Freiheit hinzugeben.
Auf der glatten Oberfläche des dunklen Sees spiegelte sich so all die Schönheit wider, die jener Ort mit sich brachte. Seine südlichen Ufer bildeten eine geschlossene und nahezu kreisförmige Felsensichel, welche von Lianengewächsen, dichten Farnen und hohen Schilfen umwuchert wurde. Von jener Sichel aus stürzten die Wasser des Sees in hohen Fällen hinab und traten durch eine niedrige Steinhöhle hindurch wieder als strömender Fluss in die Welt hinaus.
Die Männer wussten ganz genau, wohin sie wollten; und so ritten sie zielstrebig die Wiesenhänge hinunter, bis sie an die Stelle kamen, bei welcher der Fluss wieder unter der Felsenwand hervortrat. Dort stiegen sie von ihren Pferden herab, nahmen ihnen Sattel samt Gepäck ab, legten diese zur Seite ins Gras – und ließen Concurius und Lydia frei auf den üppigen Hängen weiden.
Die zwei Freunde wiederum entkleideten sich bis auf einen Schurz und sprangen rasch ins kühle, erfrischende Wasser des Flusses. Während sich Lewyn kurz ob der Kälte schüttelte, schwamm Sacris bereits gegen die Strömung zur Felsenöffnung an. "Beeil dich, Lewyn!", rief der dunkelhaarige Mann grinsend hinter sich, ohne dabei mit dem Schwimmen aufzuhören, "Sonst wirst du am Ende doch noch Letzter sein …!"
Als Sacris an der Öffnung angekommen war, die weniger als eine Handbreite über dem sprudelndem Wasser verlief, holte er tief Luft und tauchte ins Höhleninnere hinein. Mit kraftvollen Arm- und Beinbewegungen kam er gegen die besonders starke Strömung an jener Verengung zwischen den Felsen an und passierte die kritische Stelle sicher. Anschließend griff der Prinz nach einem herausragenden Steinvorsprung, zog sich daran wieder an die sprudelnde Wasseroberfläche und wartete schnaufend darauf, dass Lewyn ihm folgte.
Die Höhle verlief nicht sonderlich tief und war zum anderen Eingang hin weit geöffnet. Eine Wand aus fließendem Wasser und tief herabhängenden Ranken verhinderten allerdings einen Blick auf das, was sich dahinter verbarg. Tropfende Felszapfen hingen von der Höhlendecke herab oder ragten aus dem rauschenden Wasser heraus – und mochten auf eine unheimliche Art und Weise das Gefühl vermitteln, sich eher im Rachen eines gierig aufgerissenen Tiermauls denn in einer Höhle zu befinden. Die verstärkte Strömung an der Felsenverengung betonte den unangenehmen Eindruck, jeden Moment verschluckt zu werden, dabei dermaßen, dass dem wartenden Prinzen ein Schauer über den Rücken fuhr …
Sacris schüttelte diesen unangenehmen Gedanken ab und blickte auf einmal besorgt um sich. Sein Freund blieb allmählich ungewöhnlich lange fort. "Lewyn …?", fragte er unsicher und wartete auf irgendeine Antwort …
Nichts.
Plötzlich wurde der junge Mann unruhig und versuchte, etwas in den Tiefen des Flusses zu erkennen. "Lewyn …!"
Wieder nichts.
"Lewyn!" Sacris glitt ins reißende Wasser hinein und ließ sich zur Enge zurücktreiben. Als er dort untertauchte, spürte der Prinz, wie er unerwartet gegen etwas Weiches stieß. Sofort griff er danach und stellte erschrocken fest, dass es sich dabei um den Arm seines Freundes handelte. Lewyns Körper hing schlaff zwischen zwei schmalen, vom Grund her aufragenden Felsenspitzen fest und regte sich nicht.
Angst machte sich in Sacris breit und er verhakte sich mit seinen Füßen in den Steinen, um nicht weiter fortgerissen zu werden. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen die mächtige Strömung auf und versuchte, den Blonden vorsichtig, aber zügig zu befreien. Nach kurzer Zeit war es dem jungen Mann auch gelungen, sodass er seinen Freund nun sicher unter den Armen an der Brust umfassen und mit sich ziehen konnte.
An der rauen Höhlenwand festklammernd brachte Sacris sich und seinen Gefährten von der Felsenenge fort. Doch ging sein Atem plötzlich gefährlich schnell zur Neige; und er spürte, wie sein Herz heftig zu pochen begann, sich die Finger an den Felsen verkrampften und seine Kräfte schwanden. Nein … Nein!
Mit einem Mal bekam der junge Mann einen Vorsprung zu fassen und zog sie beide an die wild tosende Oberfläche. Sacris hielt sich, so gut er nur konnte, am Stein fest und schnappte atemlos nach Luft. Mit bangem Blick sah er zu seinem Freund, den er gegen den Felsen gelehnt hatte, damit dessen Kopf über dem Wasser blieb: Lewyn war vollkommen blass, seine Augen geschlossen und sein bläulich angelaufener Mund leicht geöffnet. Der Prinz starrte ihn entsetzt an und ergriff die eiskalte Hand, um nach dem Puls zu suchen …
"Verdammt, Lewyn …! Nein, nein …! Nein! Sag, dass das nicht wahr ist- …!"
– Sacris wachte schweißgebadet auf. Sein Herz raste und er rang verzweifelt nach Atem. Er stützte seine nasse Stirn auf den Händen ab und ballte diese zu zitternden Fäusten. "Nein …! Nicht … n-nicht schon wieder …!", keuchte der junge Mann und verbarg sein Gesicht im Ellbogen. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Warum verfolgte ihn dieser Alptraum seit jenem Augenblick?! Warum nur? Warum?!? Jener Tag hätte so schön werden sollen …! Der Tag, an welchem sie ihren Ausflug zu den Nayayami Wasserfällen hatten machen wollen …
Die Prinzresidenz war in einem unbewohnten Landstrich errichtet worden. Die Menschen mieden die Küste nordwärts alles, was jenseits von Hymaetica Aluvis und dem Tal des Tical lag – zu sehr fürchteten sie, den Auen der Tausend Seen zu nahe zu kommen. Die Exenier und anderen Anderwesen wiederum schienen niemals südlich ihres eigenen Herzlandes zu gehen, als ob sie das Reich der Menschen ebenso mieden, wie die Menschen das ihrige.
Allein die Durchgangszone zwischen den Anderreichen und den Auen der Tausend Seen in der Nördlichen Einöde bei der Grafenstadt Henx blieb ein stetiger Konfliktherd. Alles südwestlich davon war sowohl von den Menschen als auch von den Anderwesen unberührt; und in genau jenem Grenzbereich hatte sich Sacris seinen Wohnsitz errichten lassen. Dadurch konnte er sich mehr als alles andere sicher sein, dass er seine Ruhe hatte und ungestört seinen eigenen Angelegenheiten nachgehen konnte.
So begab es sich auch, dass die Wasserfälle, von denen der Prinz geträumt hatte, in ebenjenem Gebiet lagen und dass er mit seinem Freund gewisslich die einzigen Menschen waren, die überhaupt von ihrer Existenz wussten. Sie hatten jenen Ort einst bei einem ihrer vielen Ausflüge zu Pferd entdeckt und ihnen dann den Namen gegeben: 'Nayayami Wasserfälle'.
Seltsamerweise wollte Sacris nicht mehr einfallen, warum sie diese Wasserfälle überhaupt so benannt hatten. Aber … das war nunmehr irrelevant. Er hatte im Moment ohnehin nicht das Gefühl, als würde er in nächster Zukunft so schnell dazu kommen, wieder einmal dorthin zu reisen … – und allein … schon gar nicht.
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