An der Küste in den Ausläufern des Gebirges zur Wüste hin lag schließlich Kayran. Jene Grafenstadt war für ihre Wissenschaft und Forschung bekannt. Viele Gelehrte und Meister arbeiteten dort im direkten Auftrag des Königshauses – nicht selten unter Beobachtung der Wissenden selbst.
Die Intelligenz und Auffassungsgabe der Kayraner galten als herausragend und allein ihre Errungenschaften in der Medizin sogar als 'Wunderwerk'. Daher waren sie im ganzen Reich als Heilkundige, auch 'Medici' genannt, zu finden und wurden von den meisten Menschen entsprechend hoch geschätzt.
Doch hörte man im Norden auch von manch anderen Dingen über Kayran und seine wissensdurstigen Forscher – von Dingen, die dem König überhaupt nicht gefielen: von dunklen Ritualen und schwarzer Magie, von Experimenten mit Menschen, die im Wahnsinn in die Wüsten hinausgetrieben wurden und Wochen später völlig verändert zurückkehrten …
– Das gewöhnliche Volk galt dort allerdings als besonders abergläubisch, so sah man in solcherlei Aussagen keinen ernsthaften Grund zur Beunruhigung.
Die Hauptstadt der Menschen, Hymaetica Aluvis, vereinte letztlich alle vier Grafenhäuser in sich – sowohl vom Menschenschlag als auch von den Eigenschaften her, die sie jeweils mit sich brachten. Nur hatte Sacris den Eindruck, als würde Hymaetica zwischen den Fronten eine eigene Identität und Orientierung fehlen. Er dachte an all die klugen Köpfe Kayrans, die tapferen Krieger Henx', die gerissenen Adligen Luns und die fleißigen Handwerker Xorns … und schüttelte den Kopf.
Wie hart und ehrlich arbeiteten die Xorniden für ihr Brot und dachten nicht einmal im Entferntesten daran, ihre Mitmenschen auf dieselbe Art und Weise auszunutzen, wie es ihre Nachbarn aus Lun taten. Ja, diese verdammten Luniden …!
Der Prinz ließ ein zynisches Schnauben hören, während er durch die verlassenen Gänge des Palastes schritt. Nun, es lag natürlich im Interesse der Luniden, ihre 'Kultur' auch in der Hauptstadt durchzusetzen. Schließlich mussten sie das Geld irgendwo herbekommen, das sie jeden Abend zusammen mit ihren adligen Gesellen aus Kayran in Rausch und Lust ertränkten.
Voller Abscheu stieß Sacris die Tür zu den Hinterhöfen des Palastes auf und schlug den Weg zu den Ställen ein. Wie konnte es eigentlich sein, dass zwei der großen Adelsgeschlechter derart verkommen waren? Erst hatten sich Lun und Kayran gegen den König und seine loyalen Häuser Henx und Xorn aufgelehnt; und nun, wo sie gebändigt worden waren, stürzten sie die höhere Gesellschaftsschicht in den Schmutz! Und dann sollte er, Sacris, auch noch darauf bedacht sein, ihnen nicht negativ aufzufallen?! Pah! Er war doch kein Spielzeug, das alles mit sich machen ließ, was den Herrschaften angenehm erschien …! Er war der angehende König des Volkes und nicht der angehende Lakai des Adels.
Lun und Kayran hatten sich einst gegen Xorn verbrüdert, um erst den Süden und dann die ganze Küste einzunehmen. Jedoch hatten sie die unberechenbaren Strömungen der Drachenbucht fatal unterschätzt; sodass die Truppen Henx' rechtzeitig eingetroffen waren, bevor eine ernsthafte Machtübernahme hatte stattfinden können – zumal Xorns Schiffe wesentlich robuster gebaut und seine Schiffsmänner denen der anderen in den wilden Gewässern weit überlegen waren.
Nach diesem Vorfall hatte Henx einen Teil seiner Armee dem Grafenhaus Xorn überlassen und gemeinsam mit dem Königshaus ein Bündnis geschlossen, um das Reich zusammenzuhalten. Kayran und Lun hingegen hatten sich seither zurückgezogen und suchten ihre Machteinflüsse nunmehr im Verborgenen.
Durch die Anwesenheit der Wissenden hatte sich die Situation zumindest in Kayran wesentlich entspannt; so waren der König und das Volk schließlich auf die Dienste der Medici angewiesen. Des Weiteren kamen sie um eine Zusammenarbeit mit dem Handelsbindeglied Lun ebenfalls nicht herum, da ansonsten der Kontakt zwischen den Ober- und Niederreichen versiegen würde. Folglich hatte König Faryen nichts dagegen einwenden können, dass sie ihren Zoll nochmals erhöht hatten …
Sacris rümpfte die Nase in Missfallen. Diese nichtsnutzigen Parasiten …! Scherten sich einen Dreck um andere, jammerten aber lauthals herum, sobald ihnen etwas nicht passte – schlimmer als Kinder. Er durchquerte einen weiteren, mit Fackeln beleuchteten Innenhof und trat durch eine Gittertür auf eine gepflasterte Straße hinaus, die zu den Stallungen hinter dem Palast außerhalb der Stadt führte.
Zwei henxische Krieger hielten vor den Ställen Wache und grüßten den vorbeikommenden Prinzen mit einem hochachtungsvollen "Wir grüßen Euch, Hoheit!". Der junge Mann erwiderte ihren Gruß mit einem knappen Nicken, betrat den Pferdestall und schritt auf eine der hinteren Boxen zu – in welcher bereits ein großer, schwarzer Hengst aufgeregt hin und her scharrte und es kaum erwarten konnte, bis er endlich bei ihm ankam.
Sacris tätschelte seine dunkle Nase und begrüßte ihn leise: "Na, Concurius, du vermisst Lydia auch, nicht wahr …?", er lächelte traurig, "Komm, lass uns ein wenig ausreiten. Das wird uns beiden gut tun …" Nachdem der junge Mann dem Rappen noch einmal über den Kopf gestrichen hatte, öffnete er die niedrige Tür, ließ Sattel und Zügel an der Wand hängen und verließ neben seinem Pferd schreitend das Gehöft.
Sobald die Wachen sahen, dass das königliche Reittier völlig ungesattelt war, fragte eine von ihnen pflichtbewusst: "Hoheit, soll ich den Stallmeister rufen, damit er das Pferd für Euren Ausflug vorbereitet?" Der Prinz hielt im Gehen inne, drehte sich langsam auf dem Absatz herum und sah den henxischen Krieger mit gehobener Augenbraue an. "Ich bin sehr wohl in der Lage, mein Pferd eigenhändig zu satteln", meinte er kühl und verlieh seinen Worten durch einen vernichtenden Blick unmissverständlich Nachdruck. Infolgedessen räusperte sich die Wache verlegen, entschuldigte sich mit einem "Selbstverständlich, verzeiht, Hoheit!" und nahm wieder ihre Position am Tor ein.
Sacris ging noch einige Schritte weiter, bevor er Concurius über die pechschwarze Mähne strich, … sodass jener stehenblieb und darauf wartete, dass er sich auf ihn setzte. So begab sich der Prinz in einer schwungvollen Bewegung auf den Rücken seines Rappen und ließ seine Hände zu beiden Seiten des kräftigen Halses ruhen. Dann gab er ihm mit einem leichten Druck der Fersen zu verstehen, dass er bereit war – was sich Concurius nicht zwei Mal sagen ließ und über die mondbeschienenen Weiden davongalloppierte.
Es war eine klare Sommernacht. Der junge Mann hatte sich flach auf seinen Hengst gelegt und gab mit den Händen in dessen Mähne nun ihre grobe Richtung vor. Dabei ließ er seinen Rappen den Weg ohnehin fast gänzlich frei wählen; so mied Concurius von sich aus die Stadt und das war ihm im Moment nur recht.
Sacris schloss die Augen, sog dabei die frische Nachtluft ein und ließ den Reitwind sein wildes Haar durchkämmen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen … Ja, hier gehörte er hin – nicht in die Stadt, nicht hinter Mauern aus Stein, nicht hinter ein Kostüm aus Puder und Rüschengewändern. Je mehr der Prinz damit konfrontiert wurde, desto stärker wurde sein Verlangen, sich davon zu distanzieren.
Sacris lachte trocken auf und dachte bei sich: 'Und du willst der Prinz sein …!? Als König erwartet dich doch ein einziges Leben hinter diesen Toren aus Trug und Glanz!' Er schlug die Lider wieder auf und stellte fest, dass Concurius auf den Tical zuritt. Ja, sollten sie ruhig zum anderen Ufer wechseln … Die Hänge dort drüben waren ohnehin üppiger und die Stadt auf jener Seite auch nicht derartig ausgedehnt wie auf der hiesigen.
Der Tical war ein recht breiter und tiefer Fluss, welcher bei seinem Delta in der Bucht von Hymaetica allerdings nur über eine sehr ruhige, gemäßigte Strömung verfügte. Sacris stieg von seinem Rappen herab und tauchte ohne zu zögern ins dunkle, kalte Wasser hinein, um zum anderen Ufer zu gelangen. Concurius folgte ihm ohne Umschweife, sodass sie nun gemeinsam durch den großen Fluss schwammen.
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