Als sich die Prozession Monate später Karakorum näherte, bemerkte niemand einen alten Wagen, der mit zerschlissenen Tüchern abgedeckt war und der sich von der Karawane entfernte und in Richtung Norden abbog. Und niemand erwähnte oder schrieb je über eine andere, kleinere Prozession, die aus Beijing kam und diesen alten, zerschlissenen Wagen auf einem überlegt ausgewählten Pfad traf.
Für Ah Sing nahm dieser Tag einen guten Anfang, einen schlechten Verlauf und ein schlimmes Ende.
Der beste Teil des Tages war das Frühstück. Als er im Esszimmer seines mit Schindeln bedeckten Hauses saß, das mit kostspieligen, direkt aus seinem Heimatland importierten Kunstwerken ausgestattet war, konnte er den köstlichen Duft des Reisgerichts riechen, das seine Mui Tsai - seine chinesische Sklavin - zubereitete. Diese Sklavin war von ihren ausgehungerten Eltern, ärmlichen Kleinbauern, an einen Zwischenhändler verkauft worden, der sie als ‚Verwandte’ an Ah Sing verschickt hatte. Die Tatsache, dass sie praktisch eine Sklavin war, war nur dem innersten Familienkreis und den engsten Freunden bekannt, weil zu diesem Zeitpunkt die Sklaverei im Königreich Hawaii gesetzeswidrig war. Die Chinesen nannten das Königreich Hawaii Tang Heung Shan : Land der Sandelholz-Berge.
Min Tuk, die Sklavin, hatte am Abend zuvor ein Huhn zusammen mit etwas Reis, Wasser und einem Pidan , einem ‚Tausendjährigen Ei’, in einem Topf eingelegt.
Selbstverständlich war das Ei nicht wirklich tausend Jahre alt. Das war natürlich nur eine poetische chinesische Bezeichnung. Das Ei war allerdings deutlich älter, als es viele Menschen für möglich hielten. Zur Zubereitung des Pidan hatte Min Tuk ein frisches Entenei mit einer Tonmischung aus roter Erde, die es auf der Insel Kauai im Überfluss gab, sowie Salz, Holzkohle, Kalk und Schwarzem Tee überzogen. Dann hatte sie es zusammen mit mehreren anderen, ähnlich überzogenen Eiern in Reishülsen eingewickelt und das Paket in einen irdenen Topf gelegt, der mit dem schweren Boden der Reisfelder von Hanalei ausgekleidet worden war. Danach hatte sie den irdenen Topf an dem kühlsten und trockensten Ort deponiert, den sie finden konnte. Dort war die Mischung ganze drei Monate lang gestanden. Als die Pidan fertig waren, war das Eigelb grün eingefärbt, das Eiweiß hatte sich in eine schwarze, opalartige Farbe verwandelt. Das Ganze hatte die Konsistenz einer Avocado, der Geschmack erinnerte an einen gehaltreichen, scharfen Käse.
Manchmal reichte sie das Pidan einfach so, aufgeschnitten und mit einer besonderen Soße garniert, deren Zutaten aus Reiswein, Essig, gehacktem Ingwer und Soja bestanden. Manchmal kombinierte sie es mit Schweinefleisch. Heute aber bereitete sie es mit Huhn zu. Das Mahl hatte die ganze Nacht lang auf einer sorgfältig gehüteten Schicht aus Kohle geköchelt. Sie war eben dabei, etwas Salat aufzuschneiden und auf echtem chinesischem Porzellan eine Auswahl an gesalzenem und eingelegtem Gemüse als Beilage anzurichten.
Als ihm das fertige Gericht serviert wurde, war Ah Sing bereits das Wasser im Mund zusammengelaufen. Er tauchte seine Essstäbchen aus Elfenbein mit einem Appetit in die Schüsseln und Schalen, der für einen 85-jährigen Schmied ganz anständig war. Innerhalb weniger Minuten hatte er den größten Teil des Mahls verzehrt und grunzte nun, um Min Tuk in Kenntnis zu setzen, dass er jetzt zum Tempel aufbrach und sie den Rest selbst essen dürfe.
Seine erste Ehefrau lebte bei Verwandten in Honolulu. Nach der Totgeburt seines ersten Sohnes hatte Ah Sing sie fortgeschickt und danach nicht mehr an sie gedacht. Er hatte Min Tuk noch vor der Abreise seiner ersten Frau als Sklavin gekauft und von China herbringen lassen. Ah Sing hatte kein weiteres Interesse an ihr. Seine hawaiianische Geliebte und ihre gemeinsamen fünf Kinder gaben ihm das Maß an häuslicher Zufriedenheit, das er brauchte.
Ah Sing war im Jahr 1788 an Bord des englischen Handelsschiffes Felice unter dem Kapitän John Meares nach Hawaii gekommen. Mit an Bord waren zahlreiche andere europäische und chinesische Handwerker gewesen, die im Pelzhandel des pazifischen Nordwestens gearbeitet hatten. 1788 war das Jahr, in dem Österreich Russland den Krieg erklärte, in dem die Verfassung der Vereinigten Staaten ratifiziert wurde, in dem sich in England Bestrebungen zur Abschaffung des Sklavenhandels regten und in dem Pelzhändler, die in Hawaii anlandeten, Schusswaffen bei den verschiedenen verfeindeten Anführern Hawaiis gegen Lebensmittel eintauschten. Während einer zweiten Reise im Dezember des gleichen Jahres an Bord der Iphegenia beschloss der zwanzigjährige Schmied, nicht mehr in das Eis und den Schnee des damals noch vor der Gründung stehenden British Columbia zurückzukehren und stattdessen zu bleiben, um die sanften Winde und die besseren Geschäftsmöglichkeiten der Sandwich-Inseln zu genießen.
Zehn Jahre lang arbeitete er dann für Kamehameha den Großen und half bei der Herstellung der Schaluppen, die während der Kriege des Königs zur Eroberung der anderen Inseln eingesetzt wurden. Außerdem reparierte Ah Sing Kanonen und Musketen. Er wurde sogar in die Position eines Beraters befördert und war im Gefolge von Kamehameha dabei, als Kapitän George Vancouver im Jahr 1794 die Kealakekua Bay besuchte.
Als sich später abzeichnete, dass Kamehameha nach der gescheiterten Invasion von 1796 keinen weiteren Versuch unternehmen würde, Kauai gewaltsam einzunehmen, wurde Ah Sing mit einer großzügigen Abfindungszahlung aus dem Dienst entlassen. Schließlich verschlug es den chinesischen Schmied nach Kauai, wo er in den Dienst des Königs Kaumuali'i trat und mit Hilfe seines neuen Reichtums und mit seinen neuen Verbindungen verschiedene kleinere Unternehmungen gründete. Eine dieser Unternehmungen war eine Schmiede im Hanalei Valley. Nach 1841, als die Regierung Hawaiis es den Gouverneuren und Anführern erlaubte, Land an Ausländer zu verpachten, konnte Ah Sing langfristige Pachtverträge für einen erheblichen Teil des Tals abschließen. Dann heiratete er, stellte eine Reihe von Lehrlingen ein und konnte in den Jahren danach seine Interessen langsam, aber beständig ausbauen.
An diesem frühen Morgen des Jahres 1853 arbeitete der derzeitige Lehrling von Ah Sing, ein Mann namens Li Yuen, bereits hart in der Schmiede. Er trug lediglich weite Hosen und Stiefel, denn die Hitze der Esse war sehr groß. Die Stiefel sollten seine Füße vor herunterfallender Kohle und heißen Metallstücken schützen, aber sein Oberkörper war aufgrund der vielen Verbrennungen, die er über die Jahre erlitten hatte, von Narben übersät. Der Gedanke, eine Lederschürze zu tragen, wie es die meisten der weißen Schmiede taten, kam ihm nicht in den Sinn. Für ihn war jede Berührung durch das Feuer wie eine Segnung der Götter.
Die Schmiede von Ah Sing war ein mit Schindeln bedecktes Gebäude mit einem hohen Schrägdach, das vollständig aus dem dunklen Hartholz Milo gefertigt war. Sie war ein Stück vom Haupthaus abgesetzt und lag an einem langen, bogenförmigen Zufahrtsweg, der auf die Hauptstraße von Hanalei mündete und zu den Reisfeldern führte. Um die Schmiede herum lagen überall Haufen mit beschädigtem und ausrangiertem Alteisen aus defekten landwirtschaftlichen Geräten und den Überresten abgewrackter Schiffe. Auf einigen der Haufen lag nur Eisen, auf anderen lagen Eisenstücke, die noch immer an Holzresten befestigt waren. Ein spezieller Haufen enthielt Stücke und Reste von Kupfer, Messing und Bronze. All diese Materialien konnten je nach Bedarf in neue Werkstücke verwandelt werden.
In der Schmiede war das zentrale Element der Amboss. Vor seiner Ankunft auf Kauai hatte Ah Sing einen in Europa gefertigten, fast siebzig Kilogramm schweren Amboss von der Familie eines verstorbenen deutschen Schmieds gekauft, der in Lahaina auf Maui für die Ali'i, die Anführer, und die britischen und amerikanischen Handelsschiffe, die dort häufig direkt vor der Küste ankerten, gearbeitet hatte.
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