„Trotzdem kann ich nicht verstehen, warum wir Informationen, die jenseits unserer persönlichen Erfahrung liegen, nicht aufnehmen können.“
Lani verzog sein Gesicht zu einem schiefen Lächeln. „Na dann geh einmal in die Bibliothek und versuche, ein Buch über Botanik auf Lateinisch zu lesen.“
Keoki blieb einen Moment still, seufzte dann und nickte. „In Ordnung. Ich habe verstanden. Die Informationen sind vorhanden, aber wenn ich in meiner Datenbank keinen Bezugsrahmen habe, der mir hilft, die Informationen zu verarbeiten, in diesem Fall Kenntnisse über Botanik und Latein, kommt nur Müll heraus. Das klingt, als hättest du das gleiche Problem gehabt, als du deinen Abschluss gemacht hast.“
Lani erlaubte sich eine kurze Erinnerung an die vielen durchgearbeiteten Nächte an der Universität in München in Gesellschaft des lateinischen Grammatikbuches, kam aber rasch wieder in die Gegenwart zurück. „Du siehst also jetzt, was ich meine?“
„Ja. Das hier ist so ähnlich wie das, was mir vor ein paar Tagen passiert ist. Ich habe jemandem eine Frage zu meiner Photoshop-Software gestellt. Zuerst hat seine Antwort für mich keinen Sinn ergeben, aber als ich es dann ausprobiert habe, habe ich festgestellt, dass es funktionierte. Hätte ich Photoshop nicht so gut beherrscht, hätte es für mich wohl nie einen Sinn ergeben. Das mit den Steinen muss vermutlich so ähnlich sein. Man muss die richtigen Fragen stellen.“
„ Maika'i ! Gut!“, rief Lani. Er lächelte seinen Enkel voller Zuneigung an. Er hatte so viel Potenzial! Aber er hatte auch noch einen sehr weiten Weg vor sich. Nun ja. Weiter, Schritt für Schritt. „Also, lass uns eine Frage stellen und sehen, wie es funktioniert. Zunächst werde ich eine Frage über mich stellen. Der Wurf, den ich dann mache, wird ein Symbol ergeben. Ich muss schon vorher diese Erwartungshaltung haben, damit mein Iho weiß, welche Sprache es benutzen soll. Später“, wendete er ein, als Keoki seinen Mund öffnete. „Wir werden anschließend darüber sprechen. Jetzt bitte ich um ein Symbol für den Ort, an den ich als Nächstes reisen werde.“ Lani schüttelte die Steine in seinen Händen sieben- oder achtmal und ließ sie dann auf den Boden vor sich fallen.
Keoki konnte in dem Muster, das die Steine bildeten, nichts erkennen, aber Lani war überrascht. „Nun, das ist wohl möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Trotzdem …“
„Was denn?“
Lani blieb so lange still, dass Keoki schon vermutete, er habe ihn nicht gehört. Als er gerade noch einmal fragen wollte, deutete sein Großvater auf die Steine und teilte ihm leise mit: „Mich erinnert das hier an das Gehörn einer Antilopenart, die in Westafrika vorkommt. Für jemand anderes würde es wahrscheinlich nicht so aussehen, aber … Ich habe Erinnerungen an ein solches Gehörn von einer botanischen Exkursion in Togo und…“
Du meine Güte! Noch eine Überraschung aus der Vergangenheit meines Großvaters , dachte Keoki.
„ … das Iho greift auf assoziative Erinnerungen zurück, um den Symbolen eine Bedeutung zu verleihen. Wie merkwürdig.“
„Bedeutet dies, dass du nach Afrika reisen wirst?“
Lani sammelte die Steine auf und legte sie in den Beutel zurück. „Das ist nicht besonders wahrscheinlich. Das war in einem anderen Leben, früher. Vielleicht bedeutet es, dass ich die Afrikaabteilung des Naturhistorischen Museums in Los Angeles besuchen werde. Ich hatte schon erwogen, einen alten Freund in Long Beach zu besuchen. Egal. Du bist dran.“
„Welche Steine soll ich benutzen?“, fragte Keoki.
Lani griff erneut in seinen Rucksack und zog einen weiteren Beutel heraus, einen braunen Lederbeutel. Er überreichte ihn Keoki mit einem breiten Grinsen. „Nimm es als ‚außergeburtstagliches’ Geschenk.“
Keoki ließ sieben Steine aus dem Beutel auf die Handfläche seiner linken Hand purzeln. In der Größe waren sie ähnlich wie die Steine von Großvater, aber alle sahen anders aus als diese und waren runder. Der junge Mann sah seinen Großvater an und wartete auf eine Erklärung.
„Wie ich gesagt habe, kannst du jegliche Art von Steinen verwenden. Aber als Einstieg habe ich diese hier für dich ausgesucht. Der weiße Stein ist Koralle aus Kona hier auf Big Island. Der rote Stein stammt von einem Aschekegel im Krater des Haleakala auf Maui, der orangene von einem alten Lavastrom auf Ni'ihau. Der gelbe Stein ist Kalzit von Mahaulepu auf Kauai. Der grüne ist eine Art Peridot. Er stammt von der Nordküste auf O'ahu. Der blaue Stein kommt aus einer Grube mit dichtem Basalt auf Molokai. Der Stein schließlich, der fast violett ist und so schillert, ist ein Stück Lava hier vom Mauna Loa.“
Keoki betrachtete sie eine Zeit lang. „Sie sind wunderschön, Großvater. Mahalo a nui loa . Vielen, vielen Dank. Da sie die gleichen Farben haben wie deine Steine, haben diese Farben wohl eine Bedeutung?“
„Das stimmt“, antwortete Lani, „aber diese Einzelheiten können wir zu einem anderen Zeitpunkt besprechen. Jetzt stell dir einfach vor, dass die Farben für den hawaiianischen Regenbogen stehen. Weiß beinhaltet alle anderen Farben.“
„Äh, da gibt es noch etwas, das ich dich fragen muss“, zögerte Keoki.
„Klar“, bestärkte Lani ihn. „Was ist?“
„Ich habe viele Geschichten darüber gehört, dass es Unglück bringt, Steine an einen anderen Ort zu bringen und insbesondere, sie mitzunehmen, wenn man die Inseln verlässt. Ich denke nicht, dass ich wirklich daran glaube, aber viele Menschen glauben tatsächlich fest daran. Manche werden richtig wütend, wenn man einen Stein auch nur aufhebt. Ich möchte gerne hören, was du darüber denkst.“
„Ja.“ Lani klang genervt. Dann atmete er tief ein, sein Ausdruck änderte sich und wurde freundlicher. „Das ist etwas kompliziert, weil hier eine Verquickung mehrerer Umstände vorliegt, von denen einige mit Aberglaube zu tun haben, noch nicht einmal hawaiianischer Aberglaube, einige mit kulturellen Bräuchen und andere Gründe liegen in politischen Überlegungen. Ich werde dir einen kurzen Überblick geben.“ Er suchte den Boden ab und hob dann zwei Steine auf, einen Stein mit poröser Oberfläche, der andere war glatt. Er zeigte die beiden Steine Keoki. „Haben diese Steine eine Bedeutung für dich?“
„Nun ja“, antwortete Keoki. „Wir haben in Heimatkunde gelernt, dass traditionell der poröse Stein als weiblich galt, der nicht-poröse als männlich.“
„Richtig. Auf dieser Insel gibt es im Distrikt Ka'u, südöstlich von hier, einen Strand namens Punalu'u. Traditionelle Erzählungen sprechen davon, dass sich dort die glatten männlichen Steine und die porösen weiblichen Steine gepaart haben und kleine Baby-Steine geboren wurden.“ Keoki verdrehte die Augen, Lani ignorierte ihn. „Diese traditionellen Erzählungen besagen weiter, dass, wenn man einen Stein vom Strand entfernt, der Stein des anderen Geschlechts keine Kinder haben kann. Da genau dieser Strand aber auch als die beste Quelle für 'ili'ili-Steine galt, die Steine, die bei bestimmten Hula-Tänzen wie Kastagnetten verwendet werden, mussten manche Menschen wohl doch Steine von diesem Strand genommen haben. Vielleicht wurde diese Geschichte also erfunden, um den Strand als Quelle zu schützen.
Eine neuzeitliche Geschichte berichtet, dass entweder ein Reiseführer oder ein Park Ranger aus dem Hawaii Volcanoes National Park - es gibt da unterschiedliche Versionen der Geschichte - es satt hatte, dass alle Besucher Steine aufgehoben und als Souvenir mit nach Hause genommen haben. Der Reiseführer wollte angeblich nicht mehr die ganzen Steine im Bus ausputzen, der Park Ranger war angeblich sauer, weil es nämlich verboten ist, irgendetwas aus einem Nationalpark mitzunehmen. Also dachte sich einer von ihnen gestützt durch die Erzählung über Punalu'u eine Legende aus, dass Pele jeden Menschen verfluchen würde, der einen Stein von ihrer Insel mitnimmt. In der hawaiianischen Tradition gibt es keine solche Legende, aber Furcht ist ansteckend.“ Lani hielt inne, um etwas Wasser zu trinken.
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