Der Weg war auf der relativ glatten Pahoehoe -Lava, zwischen der groben Asche und den verwitterten Wellen und Hügelchen, wo sich die Gase teilweise ihren Weg nach oben gebahnt und die Oberfläche durchbrochen hatten, kaum zu erkennen. Die Landschaft bezauberte durch eine ganz eigene Schönheit.
Glücklicherweise war der Weg mit Ahu , also mit Steinhaufen, markiert, die in Abständen rechts und links des unsichtbaren Weges aufgehäuft worden waren.
Nach einigem Ausprobieren fand Keoki heraus, dass er am besten vorankam, wenn er immer nach vierzig Minuten eine Pause von zehn Minuten einlegte. Vielleicht deshalb, vielleicht aber auch, weil er viel Wasser in kleinen Schlucken trank, bekam er keine Anzeichen der Höhenkrankheit. Der Himmel zeigte nach wie vor ein klares, dunkles Blau und es herrschte weitgehend Windstille, abgesehen von der einen oder anderen leichten Brise, die einen Hauch ihm unbekannter Pflanzendüfte mit sich führte.
Die Landschaft war wirklich nicht besonders abwechslungsreich. Eine Zeit lang spielte er mit einer Technik, die ihm sein Großvater beigebracht hatte. Er dehnte sein La’a Kea, seinen aktiven Hoaka, also seine Aura, in die Landschaft um sich herum aus und verband sich mit den Steinen und struppigen Pflanzen. Er versuchte, deren eigene spirituelle Kraft, deren Mana, zu spüren. Als ihn das schließlich langweilte, dehnte er sein La’a Kea noch weiter aus, auf den ganzen Berg. Er versuchte nun, das Mana des großartigen Vulkans zu fühlen. Nach einer Weile geriet er in ein Hochgefühl, das sich wie ein Hoch nach zu viel Koffeingenuss anfühlte. Dieses Hochgefühl wurde immer stärker und damit auch unangenehm, also beendete er das Experiment rasch und versuchte einfach zu raten, wie die Landschaft wohl hinter der nächsten Erhebung aussehen würde. Manchmal erzielte er damit erstaunlich zutreffende Ergebnisse, manchmal nicht, was ihn dann veranlasste, seine Gefühle und Empfindungen zu analysieren, um seine Technik zu verbessern.
Nach fünf Stunden, nachdem er an einer Abzweigung nach Osten und einem kleineren Krater mit der Bezeichnung „North Pit“ vorbeigekommen war, erhaschte Keoki einen ersten Blick auf die Hütte. Hier bestand der Weg aus einer Mischung aus Pahoehoe und A’a , der spröden Sorte Lava, unter die große und kleine Gesteinsbrocken gemischt waren, wohl aus früheren Eruptionen. Auf dem ganzen Weg nach oben war ihm nur ein junges Paar aus Idaho begegnet, das auf dem Weg nach unten war.
Keokis Großvater wartete in der Tür der Hütte auf ihn. Sein Name war Anton Ke’alapuniaokahiwalani Müller. Er hatte die hellbraune Haut und würdevolle Erscheinung von seiner hawaiianischen Mutter, die grauen Haare und die blaugrauen Augen von seinem deutschen Vater geerbt. Die meisten Menschen nannten ihn Lani, aber jüngere Leute bezeichneten ihn gewöhnlich als Onkel oder Tutu , Großvater, wenn sie ihm Respekt erweisen wollten oder ihn nicht richtig kannten. Außer Keoki, der ihn Gramps oder auch Großvater nannte.
„ Aloha e ka hale. Hallo, Haus.“, grüßte Keoki und praktizierte somit eine alte hawaiianische Tradition. „ Nani keia hale. Dies ist ein schönes Haus.“ Als er näher kam, sagte er: „ Aloha e tutukane, pehea 'oe? Ich begrüße dich, Großvater. Wie geht es dir?“
„ Maika'i. Gut.“, antwortete Lani und sprach anschließend eine traditionelle Begrüßung: „ E ku a hele mai i ka 'aina, he hale, he 'ai, he i'a nou, nou ka 'aina. Wenn du möchtest, betritt dieses Land. Es werden ein Haus, Poi, Fisch für dich da sein, das Land steht dir zur Verfügung.“
Als Keoki zur Tür trat, begrüßten sie sich mit einem Honi und einer Umarmung. Honi wird üblicherweise als Kuss übersetzt, aber das ist die moderne Auffassung. Traditionell, und so wie Lani es praktizierte, werden beim Honi die Nasen seitlich aneinandergepresst, dabei wird eingeatmet. Einige Hawaiianer hatten die Form der Maori übernommen, bei der Stirn und Nase aufeinandergedrückt wurden.
Es existierte die Erklärung, dass bei dieser Begrüßung die Energie des jeweils anderen inhaliert werden sollte. Aber Honi bedeutet auch „riechen“. Lani hatte berichtet, dass die Menschen diese Geste ursprünglich benutzt hätten, um den jeweils anderen Geruch kennenzulernen und herauszufinden, welcher Gesundheitszustand und welche Beziehungen und Absichten vorlagen.
„ A 'o 'oe? Und wie geht es dir?“, fragte Lani, als er seinen Enkel in die Hütte führte.
„Mir geht es gut“, antwortete Keoki, „aber ich bin hungrig. Hast du wirklich Fisch und Poi hier oben?“
Der ältere Mann lachte. „Nein, tut mir leid. Ich habe nur Sandwiches mit Mortadella und Senf, die sind für dich.“
Die Hütte war einfach gehalten. Es gab vier Stockbetten mit jeweils drei Betten übereinander, inklusive Matratzen. Lani hatte sich in einem der mittleren Betten eingerichtet, Keoki nahm sich auch ein mittleres Bett. Außerdem war ein Wasserspeicher vorhanden, wie eine Zisterne, aber Lani wies darauf hin, dass sie ihr Wasser selbst aufbereiten mussten.
Nachdem Keoki seine Sachen verstaut hatte, spazierten Lani und er den kurzen Weg zum eigentlichen Gipfel mit Blick auf den Moku’aweoweo-Krater, den Hauptkrater. Dort aßen sie zusammen Großvaters Mortadella-Sandwiches. Während sie schweigend aßen, sah Keoki zu seinem Großvater hinüber. Dieser war nun in seinen späten sechziger Jahren und hatte sich seit dem Aufbruch zu ihrem Abenteuer in Europa nicht wesentlich verändert.
In Europa war Lani von der Attentäterin Nazra lebensgefährlich verletzt worden und war schließlich mit der Prognose entlassen worden, dass er den Rest seines Lebens hinken würde. Aber davon war keine Spur mehr zu erkennen. Wenn er sich überhaupt verändert hatte, sah er noch besser aus als damals. Keoki wusste, dass dies mindestens zum Teil auf seine Kupua -Heilmethoden zurückzuführen war, von denen er Keoki einige beigebracht hatte.
Als die Essensreste wieder verstaut waren, ergriff Lani einen kleinen, etwa drei Zentimeter messenden Stein und warf ihn einige Male hoch. „Wusstest du, dass uns Steine viel erzählen können?“, sagte er vollkommen ohne Vorrede.
Keoki lächelte über die ihm gut bekannte Art seines Großvaters, ein neues Thema anzusprechen. „Das würde mich nicht überraschen, Großvater. Nicht mehr.“
Lani grinste kurz und sprach dann weiter. „Natürlich haben Steine ihre eigenen Geschichten, die sehr interessant sein können, aber sie können uns auch andere Geschichten erzählen.“ Er schwieg und warf immer wieder den Stein hoch.
Das Schweigen hielt lange an, so dass Keoki schließlich den Hinweis verstand. „Welche Arten von Geschichten können sie denn erzählen?“
Lani schloss die Faust um den Stein. „Nun, sie können dir etwas über dich selbst erzählen, sie können dir etwas über andere Menschen erzählen, sie können dir von Ereignissen erzählen, die geschehen sind, und von Dingen, die nicht geschehen sind…“
„Das klingt nach Astrologie und Tarotkarten.“
„In gewisser Weise gibt es da auch Ähnlichkeiten. Allerdings muss man keine Lesung vornehmen und nichts auswendig lernen. Und wenn du weißt, wie diese Dinge funktionieren, erhältst du genauere Informationen.“
Keoki wusste, dass dies in eine ganz bestimmte Richtung führte, denn er hatte in den vergangenen zwei Jahren viele ähnliche Situationen mit Großvater erlebt. Als guter Lehrling fragte er also: „Kannst du mich das lehren?“
Die Sonne strahlte hell, der Himmel war vollkommen klar und fast lilablau, die Luft kalt und windstill. Um sie herum schien die karge Landschaft den Atem anzuhalten.
Lani saß im Schneidersitz nahe am Kraterrand und warf den Stein von einer Hand in die andere. Er lachte. „Klar werde ich dich das lehren. Deshalb bist du hier.“
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