Er traf sich auch mit der hawaiianischen Frau von Ah Sing, die zufällig ebenfalls seine eigene Geliebte war und die mit ihren Kindern unter einem großen Mangobaum wartete. Als niemand sonst in der Nähe war, erklärte er ihr, wo er zwei Beutel mit Gold für sie und ihre Familie vergraben hatte. Er verabschiedete sich mit einem Honi, einem hawaiianischen Kuss, und umarmte alle Kinder, von denen drei seine eigenen waren.
Batzorig nahm sich eine Schubkarre von der Schmiede, um alle seine Habseligkeiten auf den Pier zu bringen, der in die Hanalei Bay hineinragte. Dort ließ er die Schubkarre einfach stehen, nachdem die Matrosen ihm geholfen hatten, seine Sachen in ein Walboot umzuladen, das als Leichter eingesetzt wurde.
An Bord des Schiffes sperrte er seine Habseligkeiten in einen Schrank. Die Kette mit den Elfenbeinperlen hielt er einige Minuten lang in seinen Händen. Sie war wirklich zu kurz und zu eigenartig, um sie tragen zu können, mit ihren neunzehn ziemlich großen Perlen, die in der Form von Schädeln geschnitzt worden waren. Jeder dieser Schädel enthielt Wissen, das nur bestimmte Menschen mit besonderen Fähigkeiten verstehen konnten. All dieses Wissen zusammengenommen machte eines der größten Geheimnisse aus, das je entdeckt worden war.
Batzorig lächelte und legte auch die Perlen in den Schrank. Dann ging er zum Hauptdeck hinauf, um die Fahrt aus der Bucht auf den offenen Ozean hinaus zu beobachten.
Der Kapitän steuerte das Schiff geschickt durch die Riffe vor der Hanalei Bay hindurch. Das Wasser hatte eine tiefblaue Farbe. Von Nordosten schoben sich lange, gleichmäßige Wellen heran, ein konstanter, leichter Wind kam aus der gleichen Richtung. Die Segel nahmen den Wind auf, das Schiff legte sich nach links und steuerte nach Nordwesten, am Makahoa Point, am Lumahai Beach sowie an der Wainiha Bay vorbei und auf den Ha'ena Point zu.
Weiße, bauchige Wolken ruhten auf den Bergrücken oberhalb der smaragdgrünen Täler. Wasserfälle strömten die steilen Hänge hinab und funkelten wie weißes Feuer unter dem azurblauen Himmel. Die süßen Düfte des Landes wichen dem charakteristischen Geruch des Meeres. Der Kapitän und seine Mannschaft stießen gemeinsam einen Seufzer aus, der sowohl das Bedauern ausdrückte, die sorgenfreien Freuden von Hanalei hinter sich zu lassen, als auch die Vorfreude auf die Rückreise.
Batzorig stand allein auf der Seite des Decks, die dem Ozean zugewandt war. Er zog ein Messer aus einer Schärpe unter seinem Changpao heraus, schnitt seinen Zopf ab und warf ihn ins Meer. Er drehte sich nicht ein einziges Mal um, um einen letzten Blick auf Kauai zu werfen. Als das Schiff das wohlduftende Land der Sandelholz-Berge verließ, war sein Blick in die Ferne, auf den Horizont, gerichtet. Seine Gedanken weilten bereits in den kühlen Bergwäldern Sibiriens.
Der Paladin hielt inne, um sich auf seinen zittrigen Beinen auszuruhen. Er schnappte nach Luft und hasste den Gestank, den er mit der Atemluft aufsog. Er stand inmitten des Bluts und der Innereien zahlloser Dämonen, die versucht hatten, ihn davon abzuhalten, die feuchte, dunkle Höhle zu erreichen, in der er jetzt stand. Er konnte spüren, wie die Kraft in seine Glieder zurückkehrte, aber noch zögerte er voranzuschreiten. Direkt vor ihm klaffte wie eine Wunde ein enger Spalt in der Wand, aus dem ein blasses, grünes Licht hervorquoll. Dahinter, soviel wusste er, befand sich das leibhaftige Böse, ein Monster von gewaltiger Größe und widerlichem Aussehen, das ihn mit Leichtigkeit in Stücke reißen konnte. Dies wusste er sehr gut, denn es war das dritte Mal, dass er der verfluchten Bestie gegenübertreten musste.
Er erinnerte sich lebhaft an den Schmerz und das Grauen seiner beiden vorausgegangenen Tode, als das Monster seinen Körper in sinnloser Raserei auseinandergerissen hatte. Nur die Macht eines barmherzigen Gottes hatte ihn ins Leben zurückgeholt, damit er sein fürchterliches Ziel erreichen konnte. Wie ein Wurm, der sich in sein Gehirn fraß, tauchten plötzlich Zweifel auf: War Gott wirklich so barmherzig? Immerhin zwang er ihn, immer wieder in dieses elende Loch des Leidens zurückzukehren. Der Paladin schüttelte seinen Kopf und warf den Wurm hinaus. Er wurde nicht gezwungen. Er hatte geschworen, das Böse zu bekämpfen, wann immer und wo immer es sich zeigen würde. Dies war seine Pflicht, der Sinn seines Lebens. Mit einer Bewegung seines Körpers verlagerte er das Gewicht der schweren Rüstung, richtete sich auf, verstärkte die Umklammerung seines Schilds und seines Schwertes und schritt erneut durch den Spalt in der Wand.
Und da stand es, wie ein riesiges, aufgedunsenes, eitertriefendes Insekt. Der Gestank war so ekelerregend, dass er beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Das Monster wirkte etwas geschwächt, aber er hatte keine Zeit für irgendwelche Gedanken. Das Monster erhob seine Klauen, der Paladin erhob sein Schwert ...
Das Telefon klingelte und zerschmetterte so die Fantasiewelt des Computerspiels. Ein junger Mann Mitte zwanzig drückte auf die Escapetaste seiner Tastatur, um das Spiel zu unterbrechen, lehnte sich in seinem abgewetzten Bürostuhl zurück und griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf einem Stapel Papier neben seinem Schreibtisch lag. Er sah auf eine eher unspektakuläre Art und Weise gut aus. Sein braunes Haar, das er von seiner hawaiianischen Mutter geerbt hatte, war relativ kurz geschnitten, fiel aber vorne immer wieder in seine Stirn. Seine nussbraunen Augen, von seinem Vater, einem Haole, also einem Weißen, gaben seinem Gesicht eine interessante Note. Er besaß den sehnigen Körper eines Surfers, den er mit leichten Übungen in Form hielt, denn er kam nicht mehr so häufig dazu, zum Surfen zu gehen. Seine Haut hatte einen leicht braunen Grundton, so dass er unter den Haole wie ein Haole wirkte, in Gesellschaft von Hawaiianern aber wie ein Hawaiianer.
„Keoki?“, fragte die Stimme aus dem Telefon.
„Ja, Mom. Ich bin’s.“ Seine Mutter rief ihn aus Kona auf Big Island an, wo die meisten Mitglieder seiner Familie lebten.
„Es ist so schön, deine Stimme zu hören, Keoki. Du solltest uns öfter besuchen.“
„Ja, Mom.“ Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre er nie zuhause ausgezogen.
„Und bring doch mal deine neue Freundin mit. Wir wollen sie gerne kennenlernen.“
„Ja, Mom.“ Irgendwann einmal.
Und dann erzählte ihm seine Mutter alle Neuigkeiten, die es in der Familie gab: wie es seiner Schwester Keani mit ihrer Hula-Gruppe ging; dass sich Onkel Willy von seinen Rückenproblemen erholte; über die Entwicklung der Blumen und Pflanzen im Garten von Tante Betty; von dem Geld, das Onkel Hank bei seiner letzten Reise nach Las Vegas gewonnen hatte …. Und noch viel mehr. Keoki war wie immer nur mit einem halben Ohr dabei und ließ seinen Blick geistesabwesend durch seine kleine Wohnung schweifen, die in Kapahulu, nur wenige Kilometer vom Stadtzentrum von Honolulu entfernt, gelegen war.
In dem kleinen Wohnzimmer standen ein Sofa, ein Stuhl und ein Couchtisch aus dem Laden der Heilsarmee. An der Decke hingen zwei Lampen, die er im Sonderangebot bei Home Depot gekauft hatte. Sein Blick glitt über einige Drucke von Herb Kane an der Wand hinweg und heftete sich dann an die kleine, haarige Figur mit Wikingerhelm, die auf dem übervollen Regal mit Büchern über Computerprogramme und die Geschichte des Mittelalters stand. Diese Figur war ein Souvenir von seinem Besuch in Kopenhagen vor zwei Jahren. Sie zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht und entführte ihn einige Augenblicke lang aus dem Einzugsbereich der Stimme seiner Mutter. Am Ende der Litanei der Mutter über die großen Leistungen der Familienmitglieder fügte sie noch an: „Ach ja, und dein Großvater fährt zur Hütte auf dem Mauna Loa. Er hat dir ein Rückflugticket geschickt. Und Onkel Willy lässt seinen SUV für dich am Flughafen stehen. E malama pono, Keoki. Pass auf dich auf und besuch mich bald einmal, ja?“
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