Ein und dieselben Inhalte einer Szene verlangen an unterschiedlichen Stellen innerhalb des Stückes eine unterschiedliche Form, weil der Zuschauer auf seiner Reise in der „Kugel“ zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich bewegt werden will.
Den Inhalt in die Struktur einzubetten bedeutet nicht, dem Publikum gefällig zu sein, sondern es mitzuziehen. Das ist ein großer Unterschied. Es gibt Filme, in denen möchte man gern wegsehen, schaut aber unablässig zu. Das ist das beste Beispiel für einen ungefälligen Strudel, der einen gefangen nimmt, weil die Struktur des Filmes flüssig bleibt und den Sog beibehält. Das hat mit Achtsamkeit und Handwerk zu tun. Einer holprigen Stückstruktur bringt die entstehende Ungefälligkeit nichts, weil das Interesse des Zuschauers verloren geht. Wenn es Ihnen davor graut, Gefahr zu laufen, die Zuschauer gefällig zu bedienen, so versuchen Sie nicht, über eine holprige Struktur ungefällig zu sein, sondern über Ihre Bewegungssprache und darüber, was diese zu erzählen vermag.
Der Zuschauer will abgeholt werden. Er kommt mit der ganzen Welt im Nacken ins Theater, und es wird einige Zeit dauern, bis er die Welt aus seinen Gedanken entlässt und sich auf Ihr Projekt einlassen kann. Die ersten Überlegungen gelten demnach also der Einführung des Zuschauers in das Stück:
Wie wollen Sie den Zuschauer in das Stück hineinführen?
Wie viel Zeit haben Sie für die Einführung? 15 Sekunden? Zehn Minuten?
Müssen Sie die Figuren einzeln einführen oder als Gruppe?
Wie viel Zeit ist für die Einführungsphase notwendig?
Wollen Sie ein Postulat setzen?
Wie tragen Sie das Thema an den Zuschauer heran?
Nach der Einführungsphase gibt es den Mittelteil. Der Mittelteil zeichnet sich immer durch eine Dynamik aus, das heißt, er besteht aus mehreren Teilen, die sich getrennt voneinander ergeben, zueinander im Kontrast stehen usw. Achten Sie darauf, dass der Mittelteil keine zu vorhersehbare Eigendynamik hat; er ist der Anker, um den sich die Inszenierung dreht. Das heißt: Vermeiden Sie Muster.
Fragen an den Mittelteil des Stückes:
Wie viele Teile beinhaltet der Mittelteil?
Haben die Teile einen gemeinsamen Nenner auf einer tieferen Ebene?
Wie stehen diese zueinander dynamisch im Kontrast?
Hat der Mittelteil eine Progression?
Entwickelt er sich auf ein Finale zu?
Das Finale entscheidet darüber, mit welchen Gefühlen die Zuschauer das Theater wieder verlassen. Widmen Sie ihm die entsprechende Aufmerksamkeit! Achten Sie darauf, dass es ein klarer, eindeutiger Schluss ist. Es ist ein nervtötender Akt, wenn der Zuschauer mehrmals hintereinander denkt, hier ist Schluss, zu applaudieren beginnen möchte, um dann noch und noch eine Schlepptau-Szene zu sehen.
Fragen an das Finale:
Wollen Sie einen Schluss mit offenem Charakter, das heißt, soll das Ende verklingen, sodass die Illusion bleibt, das Stück würde noch endlos weiter verhallen, oder wollen Sie ein Ende mit einem Punkt am Schluss?
Hat das Ende eine Klimax?
Können Sie Punkte definieren, die das Finale vom Rest abhebt?
Wie wollen Sie den Zuschauer in die Welt entlassen, mit einem Fazit, einem Ausblick, mit euphorischen Gefühlen?
Befinden Sie sich in einer Teilstruktur, ist es nachvollziehbarerweise schwer, die gesamte Struktur zu überblicken! Das ist so, als würden Sie durch einen Wald laufen: Es ist schwer, die lokale Position im Verhältnis zum ganzen Wald auszumachen, wenn Sie sich im Wald befinden, ohne ihn zu kennen. Es scheint deshalb auf der Hand zu liegen, zuerst vom Hubschrauber aus eine Karte zu skizzieren, bevor Sie sich in den Wald begeben und eventuell nicht mehr herauskommen. Der Wald ist etwas real Greifbares, das sich einteilen lässt. Bei einem Stück sieht das aber ganz anders aus: Da weiß man anfangs noch gar nicht so genau, wie es überhaupt eingeteilt bzw. strukturiert werden soll. Ein sehr erfahrener Lehrer für Improvisation sagte mir einmal: „Ich fahre sehr gut damit, wenn ich mich detailliert vorbereite und mich dann nicht daran halte." Würde er sich nicht vorbereiten, gäbe es keinen Halt im Rücken. Er weiß, er kann auf etwas zurückgreifen, und das macht ihn frei. Er hat eine Landkarte im Hinterkopf, die es ihm ermöglicht, sich frei zu bewegen, ohne sich total zu verlaufen. Die Struktur ist für den Choreographen die Landkarte im Hinterkopf.
Die Struktur für Ihr Tanzstück sollten Sie auf keinen Fall als etwas Starres begreifen, sondern als ein in ständiger Veränderung befindliches Provisorium. Nehmen Sie das strukturelle Gerüst zu ernst, dann wird es Sie um sämtliche Entstehungsmomente bringen. Aber wie auch immer Sie mit der Strukturierung umgehen, ob Sie alles detailgenau im Vorfeld festlegen oder am Tag vor der Premiere die Szenen in eine Reihenfolge bringen - wie diese beschaffen ist, wird entscheidend mitbestimmen, ob Ihr Publikum an Ihrer Arbeit Anteil nimmt. An einem Stück mit einer guten Strukturierung wird es dranbleiben, selbst wenn es das Stück inhaltlich nicht anspricht.
Vor dem Probenprozess ist immer schon irgendetwas vorhanden. Mal ist es nur eine Musik, mal eine literarische Vorlage oder ein Thema. Mal sind es Bewegungen oder ästhetische Konzepte oder einfach nur einzelne Bilder in Ihrem Kopf. Die Frage ist nun, inwieweit Sie dieses vorhandene Material bereits in ein Gerüst packen wollen. Ein Gerüst hat den Vorteil, dass Sie innerhalb der Arbeit orientierter sind, um aus dieser Orientierung heraus Ziele zu definieren, die im Zusammenhang mit dem dramaturgischen Bogen oder mit der angestrebten Form und Ästhetik der Arbeit stehen. Sie werden während der Strukturierung der Choreographie schneller ein Gefühl für den Spannungsbogen erhalten. Vor dem geistigen Auge und auf dem Papier entwickelt sich die Dynamik des Stückes und der Szenen. Die erforderliche Intensität der einzelnen Sequenzen oder Szenen zeichnet sich bereits im Vorfeld ab. Die Vorstrukturierung lässt ein dialogisches Verhalten der Choreographie zum Thema zu, und die unterschiedlichen Qualitäten der choreographischen Intensität einer Szene in Korrespondenz zum Thema leiten die erforderlichen Zugangsformen ein.
Viele Choreographen und Companys erarbeiten sehr lange assoziativ zum Thema Szenen, Tänze, Duette, Filme und Musik, ohne sich von einer möglichen Struktur einengen lassen zu wollen. Bewegen Sie sich innerhalb einer Struktur, die Sie definiert haben, werden Ihnen Dinge, die außerhalb dieser Abläufe liegen, schwerer zugänglich sein. Sie werden unter Umständen ein reicheres Material, eine weitere Bandbreite an Szenen zur Verfügung haben, wenn Sie auf die Bahnen der Struktur verzichten, und Sie sich frei schwebend im Raum von dem Thema anstoßen lassen. Das hieraus entwickelte Material kann dann strukturiert und in einem dramaturgischen Bogen verknüpft werden.
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