Kapitel 5
Z
eitungsverleger Colin Oliver Louis Gardener schüttelte mit weit aufgerissenen Augen in panischem Entsetzen den Kopf. Er schrie und brüllte, so markerschütternd und unmenschlich, dass es jedem, der es hörte, das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Neeeein …!«, stieß er immer wieder gellend hervor. »Neeeein …!«
Gardener befand sich in seinem Verlagsbüro. Es lag im sechzehnten Stock, in einem der zahlreichen Hochhäuser mitten im Geschäftsviertel › Canary Wharf ‹ in Londons Zentrum. Es schien als ob ihn ganz plötzlich die Tollwut befallen hätte. Colin Gardener war knapp sechzig Jahre alt, hatte eisengraues Haar und ein hageres Gesicht. Jetzt war es erschreckend verzerrt. Er war kaum noch wieder zu erkennen.
»Nein!«, keuchte der Verleger wieder.
Seine Wangenmuskulatur zuckte wild. Seine Augen traten weit aus ihren Höhlen. Er wankte unsicher durch das Büro. Wild und heftig schlug sein Herz und drohte ihm den Brustkorb zu sprengen. Seine Lippen bebten und kleine Schaumflocken zeigten sich in den Mundwinkeln.
Gardener schlug sich seine zitternden Hände vor das Gesicht. Er war völlig verstört und verzweifelt. Eine irrsinnige Angst hatte ihn gepackt.
»Hiiiilfeeee!«, brüllte der Verleger lautstark. »Warum hilft mir niemand? Hiiilfeee!«
Seine ganze Verzweiflung und die wahnsinnige Angst, die er empfand, schwangen in seinem gellenden Schreien mit. Wie ein Betrunkener wankte und stolperte er rückwärts durch sein Büro. Immer mehr näherte er sich der Fensterfront. Immerzu fixierten seine weit hervorgetretenen, fiebrig glänzenden Augen den Aktenschrank. Und immerzu schüttelte er dabei wie ein Irrsinniger den Kopf. Sein ohnehin eher fahles Gesicht hatte inzwischen jede Farbe verloren. Gardner stöhnte, röchelte und hustete. Immer mehr Schaum bildete sich auf seinen Lippen. In dünnen Bahnen lief er weißlich über die Mundwinkel ab und über das Kinn zum Hals hin.
Taumelnd erreichte der Verleger die großen Panoramafenster zur Straße. Als er merkte, dass er nicht weiter nach hinten ausweichen konnte, begann er zu schluchzen.
Panisch drehte er sich herum. In wahnsinniger Angst griff er nach einem der Fenstergriffe und entriegelte das Fenster. Gleich darauf riss er den breiten Flügel auf. Ein leichter eisiger Windstoß fauchte ihm ins Gesicht.
Colin Gardener spürte es nicht. Er heulte wie ein verendendes Tier.

Kapitel 6
F
elicity Thompson, Gardeners Sekretärin, war im Vorzimmer mit der Korrespondenz ihres Chefs beschäftigt. Plötzlich glaubte sie ihren Ohren nicht zu trauen. Entsetzt schnellte sie hinter ihrem Schreibtisch hoch. Ihr Blick richtete sich auf die ledergepolsterte Tür, hinter der sich das Büro ihres Arbeitgebers befand.
Grauenvolle Schreie waren zu hören. Bestürzt lief die junge blonde Frau zur Tür. Ohne anzuklopfen stürmte sie in Gardeners Büro.
Kaum hatte sie einen Fuß in den Raum gesetzt, blieb sie wie erstarrt stehen.
Ihr Chef bot einen entsetzlichen Anblick. Er schien vollkommen verrückt geworden zu sein. Er hatte jede Kontrolle über sich verloren. Gardener stand vor dem geöffneten, mittleren Fenster und starrte auf den Aktenschrank. Seine Mimik war völlig verzerrt und immer wieder verdrehte er die weit aufgerissenen Augen. Plötzlich brüllte er mit einer Kraft los, dass ihm die Adern am Hals dick anschwollen. Auch seine Augen schienen ihm aus den Höhlen treten zu wollen. Immer mehr weißlicher Schaum troff aus seinem weit aufgerissenen Mund. Wie ein Irrer schüttelte er den Kopf. Dann zuckte er am ganzen Körper, bewegte sich völlig unnatürlich und begann unendlich schwer zu keuchen. Ungelenk griff er sich in die Haare und begann plötzlich, sie sich büschelweise auszureißen.
»Mister Gardener!«, schrie sie entsetzt.
Aber Colin Gardener sah und hörte sie nicht. Wild warf er seinen Kopf hin und her. Seine ununterbrochen zuckenden Gesichtsmuskeln ließen einen bizarren Ausdruck entstehen.
»Diese Qualen!«, schrie er. »Diese unendlichen Qualen!«
»Was ist denn mit Ihnen, Mister Gardener?« Sie wusste nicht was sie tun sollte. Sie war völlig hilflos.
Gardener hatte damit angefangen um sich zu schlagen. Sie wagte es nicht, sich ihm zu nähern.
»Diese Qualen. Sie sind so entsetzlich. Ich halte sie nicht mehr aus!«, schrie der Verleger.
Immer noch starrte er in Richtung des Aktenschranks. Sie konnte dort aber nichts Besonderes feststellen. Sie verstand einfach nicht, was in ihren Chef gefahren war, oder wovor er sich dermaßen wahnsinnig fürchtete.
Plötzlich änderte sich die Situation.
Gardner lachte lauthals los und ging dazu über auf die Fensterbank zu klettern. Eiskalt lief es der jungen Frau über den Rücken.
»Mister Gardener!«, rief sie auf das höchste erregt.
Doch ihr Chef hörte sie nicht.
»Um Gottes willen, tun sie es nicht!«, stieß sie hervor. »Mister Gardener!«
Sekundenlang starrte der Zeitungsmann in die Tiefe. Dann ließ er den Fensterrahmen los und begann lauthals zu singen.
»Oh, happy day! ... Oh, happy day!«
Er schwankte. Plötzlich riss er beide Arme in die Höhe und machte, immer noch singend, einen Schritt ins Leere, gefolgt von einem Wahnsinnsgebrüll.
Sie versuchte noch ihn aufzuhalten. Aber sie kam zu spät.
»Mister Gardener!«, wollte sie noch einmal rufen, aber sie schluckte es herunter.
Erschreckend lange war der Schrei des in die Tiefe stürzenden Verlegers zu hören. Erst als sein Körper unten hart auf die Betonplatten aufschlug, riss er jäh ab.
Mit weit aufgerissenen Augen sah ihm seine Sekretärin nach.
Colin Oliver Louis Gardener, der wohlhabende, mächtige Zeitungsverleger, lag tief unten auf dem Gehweg – klein, regungslos ... wie eine Puppe.
Sie hielt den grauenvollen Anblick nicht länger aus. Vom Grauen geschüttelt wandte sie sich vom Fenster ab.

Kapitel 7
D
etective Chief Inspector Blake drehte sich langsam herum. Eine Weile hatte er nachdenklich aus dem Fenster im sechzehnten Stock auf die Straße hinuntergesehen. Es hatte wie schon die Tage zuvor wieder leicht zu schneien angefangen. Zarte Schneeflocken sanken in die Tiefe hinab. Sein Blick hatte auch die einladende Bar gestreift, die sich an der gegenüberliegenden Straßenseite befand. Der große und einflussreiche Zeitungsmagnat Colin Oliver Louis Gardener würde sie nicht mehr aufsuchen.
»Möchten Sie vielleicht einen Whisky, Miss Thompson?«, fragte er die junge Frau.
Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Fröstelnd rieb sie sich über die Arme.
»Nein, danke, Chief Inspector«, erwiderte sie bedrückt. Ihre Stimme war sanft, mit einem warmen Unterton. Sie gehörte zu denen, die bei anderen Menschen direkt Wohlbehagen und Gefühle auslösten. »Lieber ein Wasser.«
Sergeant McGinnis, ein Hüne von einem Mann, der sich beim Durchschreiten jeder Tür automatisch etwas duckte, hatte sich bislang diskret im Hintergrund gehalten. Jetzt ging er zur kleinen Bar hinüber, öffnete eine Flasche Tonic-Water, füllte den Inhalt in ein Glas und reichte es ihr. Mit zitternder Hand nahm sie es dankend entgegen.
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