Judith holte kurz Luft, unterließ es jedoch ihren Vater erneut zu verbessern. Stattdessen fragte sie: „Wer sind diese Leute, Papa?“
„Dies ist Herr Jansen aus Amsterdam.“
„Très joli, Monsieur Jansen“, sagte sie.
Philipp verbeugte sich. „Enchanté, Mademoiselle Brückfeld. Euer Französisch klingt, als käme es direkt aus Paris.“
Ein leichtes Schmunzeln umspielte die Züge des Mädchens. „Merci, Monsieur. Und wer ist der ... Junge hier?“
Jeremias’ Schultern schmerzten, als sich diese noch mehr verkrampften. Er wagte es nicht emporzublicken, obwohl er sich nach Judiths Anblick sehnte. Die Spannung zerquetsche ihn.
Sie kicherte leise. „Er scheint sehr schüchtern zu sein.“
Philipp eilte sich zu antworten: „Sein Name ist Jeremias. Er kommt auch aus dieser Stadt. Vielleicht habt Ihr ihn schon einmal ... “
„Wohl kaum!“ Meister Brückfelds Stimme glich dem Schnauben eines Pferdes. „In die Gegend um das Waisenhaus herum würde meine Tochter keinen Fuß setzen — schmutzig und verkommen. Pah!“ Nun richtete der Kaufmann seinen Zeigepenis auf Jeremias. „Er ist so alt wie du, mein Liebling, aber nicht in der Lage, seinen eigenen Namen zu Papier zu bringen. Siehst du, wahrer Stand zeichnet sich stets durch Verstand aus. Auf dich wird einmal ein Prinz warten.“
Jeremias hoffte, dass niemand bemerkte, wie das Blut in seinem Gesicht kochte. Warum muss er mich ausgerechnet vor ihr derart herabsetzen? Scham bohrte sich in sein Fleisch, wütete in seinen Adern, bis es sich in seinen Eingeweiden verfing und diese hinab zerrte. In seiner Not wollte er instinktiv die Hecke um Judiths Seelenlandschaft mit seinem inneren Auge durchdringen. Was dachte sie über ihn? Doch stets waren Zweige im Weg.
Judiths Stimme war plötzlich schrill: „Papa, er ... er sieht mich an. Sage ihm, dass er dies unterlassen soll. Es ist mir ... unheimlich.“
Brückfeld blinzelte irritiert. „Aber er guckt doch die ganze Zeit nur zu Boden.“
„Nein, Papa, er betrachtet mich. Horrible!“
Kalter Schweiß plätscherte über Jeremias’ Nacken. Er konnte sich nicht von der Hecke lösen. Etwas Wunderbares musste auf der anderen Seite liegen, er konnte nicht aufhören. Warum gaben die Zweige nicht nach?
Meister Brückfeld erhob sich. „Mein Engel, ich komme sofort mit dir mit. Dieser Umgang ist nichts für dich.“
Philipp räusperte sich, aber der Meister kam ihm zuvor.
„Jansen, der Bengel kann die nächsten drei Monate für mich arbeiten, aber ohne Bezahlung — Ihr müsst ihn verpflegen. In dieser Zeit soll er alles lernen, was man als Kaufmann beherrschen muss. Gelingt es ihm, stelle ich ihn ein; wenn nicht, will ich ihn nie mehr wiedersehen. Haben wir uns verstanden? Bis dahin soll er zeigen, dass er zupacken kann. Lösser wird ihm Arbeit zuweisen.“ Daraufhin folgte Brückfeld seiner Tochter zur Tür, die in die Familiengemächer führte.
Philipps Rumpf klappte ergeben nach vorne. „Habt Dank, Meister, für Eure Großzügigkeit.“ Seine Worte erstarben wie mattes Laub im Herbst.
Jeremias konnte wieder freier atmen. Mit einer Hand wischte er sich das kühle Salz aus dem Genick.
Lösser war sogleich bei ihm: „Heute ist neue Ware gekommen, die eingelagert werden muss. Sag’ dem Vorarbeiter bei unserem Magazin, dass ich dich schicke!“
So machte sich Jeremias auf den Weg.
Der Vorarbeiter verzog angewidert das Gesicht: „Was willst du halbe Portion hier? Ich kann keinen gebrauchen, der meinen Männern zwischen den Beinen herumläuft. Die Säcke müssen schnell abgeladen und in den Keller gebracht werden.“
„Lasst mich nur machen. Ich zeige Euch, dass ich arbeiten kann.“ Er musste diese Möglichkeit nutzen: Lehrjunge bei einem Kaufmann — dies hatte er sich noch nicht einmal erträumt. Er würde nicht an ein paar dummen Säcken scheitern.
Der Vorarbeiter spuckte aus. „Mal sehen, was in dir steckt, Kleiner.“
Der Mann grinste breit, doch bald formte sein Mund ein großes Loch, als der Junge geschwind einen Sack emporhob und sich zu den anderen Männern gesellte — für Jeremias war der Sack nicht schwer, er hatte schon härter gearbeitet.
Im Magazin klaffte vor ihm eine steile Steintreppe, die nach unten führte. Er füllte seine Lungen, als tauchte er sogleich unter Wasser; er hasste unterirdische Gewölbe. Mit jeder Stufe, die er nahm, wurde sein Herz mehr zu einer panischen Pauke. Jeremias musste sich überwinden, den Männern vor ihm zu folgen. Jetzt erst holte er erneut Luft, wieder, noch einmal, aber es half nichts; die Steinwände um ihn herum kamen auf ihn zu und drückten auf seine Brust. Eine Hand schien seine Kehle zuzupressen, sodass er kaum schlucken konnte. Ein leises Zittern durchbrach mehr und mehr die Stärke in seinen Beinen. Bleib’ ruhig, ruhig. Du darfst nicht aufgeben. Du darfst es nicht verderben. Philipp hat so viel für mich gewagt ... Fackeln dort vorne ... Licht ... Endlich hatte Jeremias die Lagerstatt erreicht, wo er den Sack ablegen konnte.
Als er mit dem zweiten Sack beladen war, wusste er bereits, was auf ihn zukam. Er konzentrierte sich auf das Licht der Fackeln, die Freiheit versprachen. Sie durften niemals ausgehen, ansonsten ... nein, daran durfte er nicht denken. Der Keller wurde erträglicher.
Mit der Zeit erkannte er, dass sein Vordermann immer stärker hinkte. Bald konnte Jeremias nicht mehr mit ansehen, wie sich der andere schund. Dessen Schmerz schwappte verstärkt zu ihm hinüber.
„Warum ruhst du dich nicht aus? So kannst du nicht mehr lange weitermachen.“
„Was du Rotzlöffel nicht sagst!“ Sollte die Antwort rau klingen, so machte ein Keuchen diesen Versuch zunichte. „Falle ich jetzt aus, ist mein Lohn dahin.“
Jeremias atmete lange durch die Nase aus. „Jemand anderes könnte deine Arbeit mitmachen.“
„Wer soll das denn für mich machen?“
Bei einem der Wagen rief Jeremias zum Vorarbeiter: „Herr, lasst bitte zu, dass sich dieser Mann ausruht. Er hat ein schlimmes Bein und könnte stürzen“
Der Vorarbeiter spuckte erneut aus. „Und wer soll dann seine Arbeit machen? Wir müssen schnell ausladen, es regnet immer stärker.“
„Ich werde seine Säcke tragen. Meine Beine sind gesund.“
„Jetzt fang’ nicht an zu spinnen!“, sagte der Vorarbeiter. „Wie willst du das ... “
Jeremias hob einen Sack auf seine Schulter, ging in die Knie, griff nach einem zweiten, atmete ein und wuchtete das ganze Gewicht nach oben — schwer, aber es ging. Nicht nur der Vorarbeiter war sprachlos, auch die anderen Männer blieben stumm stehen und beäugten Jeremias.
Eine Stunde später war alles erledigt. Jeremias wollte gehen, doch da legte der verletzte Arbeiter die Hand auf seine Schulter.
„Junge, wie hast du das vollbracht? Tausend Dank dafür. Warum tatest du dies für mich?“ Seine Augen waren zwei tiefe Brunnen, die hofften, dass man eine Antwort in sie hinabließe.
„Ich merkte, dass du in Not warst. Da wollte ich helfen.“
Der Mann konnte nichts erwidern und lächelte nur dankbar.
Am Sonntag fand Philipp Zeit, Jeremias zu unterrichten. Mit Kreide schrieb er die ersten fünf Buchstaben des Alphabets auf eine kleine Schiefertafel. „Schreibe sie nach und präge sie dir ein.“
Jeremias’ Finger vibrierten. Unglaublich. Ich lerne wirklich Schreiben. Trotz der Freude fühlte er die Sorge in Philipp, die wie eine hungrige Motte in dessen Inneren umherflog und am Nervengewebe nagte: Nur drei Monate blieben — unmöglich alles in dieser Zeit zu erlernen.
Jeremias probierte die ungewohnten Handbewegungen aus und nach einiger Zeit gelang es ihm, die fünf Buchstaben sauber niederzuschreiben. Es ist gar nicht schwer.
Philipp brummte zufrieden und gab Jeremias fünf weitere Buchstaben zum Lernen, dann tätschelte er Jeremias’ Oberarm und ging schlaff an seine eigene Arbeit. Die Sorgenmotte hatte Junge bekommen.
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