Jasper Mendelsohn - Die freien Geisteskranken

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"Ein Buch wie ein Berg. Der Berg der Götzen, Geldgeier und Grabgräber. Ein Buch über Menschen, Unmenschen, gescheiterte Übermenschen. Jasper Mendelsohn reinkarniert den Historienroman in die rußgoldenen 1920er Jahre und erschafft ein Werk, so mannigfaltig wie seine Zeit, voll Gift und Galle, Güte und Geist.
Höchst relevant."
Dr. Salomon Hecke
"Ein geiles Gefühl – das Buch am Ende zuzuklappen, zu rekapitulieren,
ein Wahnsinns-Moment."
Dirk Steffen, Influencer
"Ein Buch für Ärzte und Lehrer, für Redner und Journalisten, für Politiker und Manager, für Geschichtsinteressierte und Geschichtsdesinteressierte gleichermaßen, für Bankiers und Künstler. Für jedermann.
Die Zeit zwischen den Weltkriegen: Die deutsche Bildungslücke."
Brigitte Neumann, Frankfurter Standard

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Die Eifel war ein trauriges Naturschauspiel. Es war nieslig, neblig, kalt, grau, sauer und hatte alles, worum man die wenigen Bauern in ihren kleinen Dörfchen nicht beneidete. Im Zentrum Europas ein ausgewachsenes Nichts. Nur Höhlen gab es jede Menge, von den wenigen Bahnhöfen erforderten sie lange Märsche.

Brockhaus schlug einen Bolzen in den Boden des Höhleneingangs und befestigte den Ariadnefaden, Dachs entzündete die Funzel und sie stiegen hinab in die Unterwelt. Die riesenhaften Schatten der Felszacken tanzten an den kristallin schimmernden Wänden um sie herum in der feuchtkalten, stehenden Grottenluft, es tröpfelte und plätscherte überall und nirgendwo. Je tiefer sie stiegen, desto gewaltiger bauten sich die Stalagmiten auf und sahen aus wie Orgeln und Altare in dieser Kathedrale des Hades. Sie stiegen durch enge Flure und landeten in majestätischen Hallen, aus allen Ecken quietschten die müden Fledermäuse in ihrer Tagruhe gestört, um ihre Stille gebracht.

»Dort!«, rief Dachs und deutete auf ein Flimmern, das einem Felsspalt entsprang, so als mache jemand anderes Licht, hier unten in der Tiefe. Ein paar sensible Fledermäuse hatten genug Krach gehört und flogen kreischend davon.

»Da ist jemand«, resultierte Brockhaus und sie schlichen zu dem Spalt. Hinter dem Felsen führte ein weiterer Weg zu obskuren Geheimnissen. Wissbegierig zwängten sie sich hindurch und folgten dem Leuchten, welches bald zu knistern begann und aus dem Verdacht wurde Gewissheit, dass dort am Ende des Weges ein Feuer brannte. Als sie das Lager erreichten sahen sie einen rundlichen Raum mit einem natürlichen Rauchabzug in der Decke, drei Kisten standen dort, eine Angel lehnte an der Wand und ein toter Hase hing ab. Am Feuer saß ein auffallend junger Mann, mit langem Bart und Zottelhaaren in eine Art Toga eingewickelt. Er kniete dort friedfertig vor einem kleinen Felsbrocken wie ein Japaner vor seinem Esstisch und bestrich den Stein mit einem Zweig. Er tunkte den Zweig in eine Pfütze neben ihm, so als nehme er Tinte oder Farbe auf und strich weiter. Es sah aus, als ob er schrieb, oder etwas Bestimmtes malte. Sanftmütig in seine Arbeit versunken.

Brockhaus hustete absichtlich zur Begrüßung. Ruhig sah der Einsiedler auf.

»Gäste«, sagte er feststellend, weder freundlich noch unhöflich, die Tatsache erfassend.

»Gäste«, sagte Brockhaus, auf eine neugierige Nachfrage wartend, doch diese kam nicht. Der Einsiedler tunkte abermals seinen Zweig in Wasser und schrieb oder malte weiter, als wäre die Konversation für ihn damit beendet, wenn sie denn begonnen hätte.

»Sind wir hier richtig?«, fragte Dachs augenzwinkernd und klopfte Brockhaus auf die Schulter, als Zeichen um weiter nach dem Lapislazuli zu suchen. Doch Brockhaus winkte ab.

»Sie wohnen hier?«, fragte er den Einsiedler.

»Ich sitze hier«, erklärte der. »Wohnen würde ich nicht sagen.«

»Ein Irrer«, sagte Dachs zu Brockaus. »Lass uns weitersuchen.«

»Wir haben doch eine Ewigkeit Zeit, Ansgar, komm setzen wir uns erstmal ans Feuer. Wollen Sie den Hasen da ganz alleine essen, oder ist da noch Raum für einen Bissen?«

Der Einsiedler zog eine Schale gegrillter Fleischstückchen hinter dem Felsen hervor und schob sie ans Feuer.

»Spatzen und Fledermäuse«, nannte er es. »Nehmen Sie sich, wie es Ihnen schmeckt.«

Dachs klatschte prompt in die Hände. »Ich habe Pastete dabei, wenn du jetzt unbedingt was essen musst, Kurt.«

»Ich bevorzuge Spatzen und Fledermäuse«, sagte Brockhaus trocken, setzte sich ans Lager und griff in die Schale. Dachs tat ihm nörgelnd gleich. Brockhaus‘ unnütze Schnüffeleien nahmen ihm oft einiges an Geduld ab.

»Dann erzählen Sie mal, Herr Einsiedler«, eröffnete Brockhaus. »Wie sind Sie hierhergekommen? Warum sind Sie hier? Sie sind doch noch jung wie ich sehe, was suchen Sie in dieser gottverlassenen Höhle?«

Der Einsiedler nahm wieder seinen Zweig zu Hand und fuhr mit seiner Arbeit fort.

»Ich schreibe meine Gedanken auf und male meine Gefühlswelt aus und bin noch nicht fertig damit. Ich brauche noch ein wenig Zeit und vielleicht für immer. Viele Dinge stehen hier auf den Steinen, viele Leben habe ich schon gezeichnet.«

»Mit Wasser?«, fragte Brockhaus mit vollem Mund. Dann spuckte er einen kleinen Schnabel ins Feuer. Es schmeckte. Dachs biss derweil in seine Pastete.

»Das macht keinen Unterschied«, sagte der Einsiedler.

Brockhaus lachte Dachs begeistert an, doch dieser guckte nur unbeeindruckt zurück.

»Ich war auch mal ein Mensch«, sagte der Einsiedler und nahm an Fahrt auf. Offenbar tat ihm sprechen gerade gut.

»Ich dachte, ich wäre überzeugt gewesen und ich war mir fast sicher klug zu sein. Ich sah mich auf einem richtigen Weg, ich dachte, ich hätte etwas verstanden. Ja, ich dachte, mein Gefühl könne mich nicht täuschen, ich dachte, ich hätte die Wahrheit eingefangen wie ein Glühwürmchen und auf den Punkt gebracht, so als leuchtete sie mir ein. Also wurde ich Soldat, um Held zu werden. Wir kamen in unseren ersten Kampf an der Yser bei Langemarck. Und dort, auf diesem Feld, erkannte ich das Ausmaß meines Irrtums.«

Er hob seine Toga zur Seite und zeigte zwei Einschusslöcher in seinem Brustkorb. Er schob den Vorhang wieder zu und hob die Hände.

»Ich war doch so klug, ich hatte doch verstanden, es leuchtete mir doch alles ein. Wie konnte das alles, wie konnte ich so ein Irrtum sein? Das fragte ich mich.« »Wann fragten Sie sich das?«, hakte Brockhaus interessiert nach. »Schon wieder eine Kriegsgeschichte? Na dann gute Nacht.« Dachs stopfte den Pastetenrest in seine Backentaschen, spülte aus der Feldflasche etwas Bier nach, zog seinen Beutel nach hinten und legte seinen Kopf darauf für ein Nickerchen. Der Einsiedler holte tief Luft. »Es begann so: Das erste, woran ich mich erinnere, ist unser Hauptmann. Stolz und souverän ging er voran auf das Feld, dem feindbesetzten Dorf entgegen. In der einen Hand hielt er seine Pfeife, mit der er auf den Feind zeigte, in der anderen den Säbel, mit dem er uns zuwinkte und uns zu verstehen gab ihm zu folgen. Sein Schnauzer wehte in diesem besonderen Wind, der steigt, kurz bevor ein Gewitter hereinbricht. Leichte Wolken rasten über uns herüber, sanfte Blitze flackerten in den trüben Schwaden auf. Lange hatten wir auf die Ehre gewartet. Die erste Schlacht sollte beginnen, der Ruhm war uns nah und heilig. Aus den Gebäuden des Ortes flimmerten Lichter auf, wie ein ganzer Sternenhimmel, der sich aus dem Nichts auftat und ihre Strahlen sausten und pfiffen mir um den Kopf, die Geschosse prasselten dicht wie ein Hagelsturm mitten in unser Bataillon. Schrapnelle, Schrot, alles was aus Eisen war befand sich in der Luft. Einer nach dem anderen zitterte zu Boden. Ein Streifschuss traf meinen Helm und klingelte mich wach, ich ließ mich fallen. Als ich wieder nach vorn sah, erkannte ich unseren mutigen Hauptmann an der Spitze, er kniete mit gesenktem Kopf im Acker. Seine Pfeife lag neben ihm, sein Säbel rutschte ihm langsam aus der Hand und hielt sich nur noch mit der Schlaufe am Griff an seinem Gelenk. Neben mir lag ein alter Kamerad aus der Kaserne, den ich noch aus Berlin kannte. Schlosserlehrling war er im Zivilverhältnis. Seine Vorderzähne waren herausgebrochen, sein rechtes Auge war weiß, er brüllte mich an. Ich lag regungslos neben ihm und starrte ihm in sein sterbendes Gesicht, das war‘s, ich war tot, ich hatte meine Pflicht erfüllt. Das war sie also, die Ehre. Ich bettete meine Wange in den Matsch, sah meinen Kameraden brüllend zu Ende leben und fiel in einen dreitägigen Schlaf. Als ich aufwachte fand ich mich mit Chlorkalk bestreut, gegen den Verwesungsgestank nehme ich an, es half nicht viel. Die Toten um mich herum waren aufgebläht und neue, frische, waren dazugekommen. Sie liefen einfach über die Leichen drüber und ließen sich weiter erschießen. Immer wieder und wieder rannten sie an. Immer vorwärts, vorwärts – wer fällt, fällt. Alle Verwesungsstadien waren zu erkennen, in Sechsstunden-Intervallen. Mein Kamerad brüllte schon lange nicht mehr, er war schon aufgeplatzt. So lagen sie da, die, welche vor ein paar Tagen noch Loblieder auf das Vaterland sangen mit Wolfsgeheul und Tschinderassa, mit Gewehren in ihren Händen und Kugeln in ihren Herzen. In alle Himmelsrichtungen über den Acker gesät, das Schanzzeug in alle Winde verstreut, von den schweren Tornistern in die Pflugrillen gedrückt. Einer war verrückt geworden, wühlte in der Erde und tanzte zwischen den Linien. ›Ich bin tot, Ich bin tot‹, sang er. Bald war er auch wirklich tot. Gnade uns, dachte ich in diesem Moment, wenn Gott das wüsste. Das weiß ich noch. Ich robbte einen halben Tag lang hin zu dem nahen Pappelhain am Rande des Ackers, so langsam, dass mich kein Schütze aus dem Dorf ausmachen konnte. Ich trank aus den öligen Pfützen und aß die kleinwüchsigen Rüben, die die Bauern nach der Ernte in der Erde gelassen hatten. Hinter dem Pappelhain buddelten die übrigen Infanteristen einen Graben, wie Tatteriche schlotternd, einen halben Meter tief, um sich dort zu verstecken. Dann grollte schon wieder der Befehl über ihre verwirrten Köpfe. Wieder anrennen, Pflicht und Vaterland. Sie schnappten auf und rüttelten die Gewehre und tasteten sich ab, ob sie nicht doch schon irgendwo getroffen waren. Ich zweigte ab. Sie liefen kreischend in den Westen, dem Sonnenuntergang entgegen, der sie blendete, ich ging nach Süden. Nach kurzer Zeit hörte ich hinter mir wie die Luft durch hunderte rasende Peitschenschläge zerrissen wurde. Ich drehte mich ein letztes Mal um und sah Rauch aus den Pappeln herausqualmen, wie aus Schornsteinen. Je weiter ich ging, desto leiser wurden die Schreie. Eine Kuh mit zerschossenem Hinterteil sank nicht unweit von mir in die Wiese. Die Bauern hatten all ihr Vieh freigelassen. Das Tier hielt sich noch mit den Vorderbeinen aufrecht, zitterte, dann fiel es zusammen. Die Schweine waren hartnäckiger, noch tagelang streiften sie mit ihren Wunden umher und grunzten zäh, dann versackten auch sie. Nur die Hühner flatterten quietschfidel über die Leichen, schwirrten in die Bäume und gackerten wie echte Kriegsprofiteure. Ich ging weiter und kam in verlassene Dörfer. Ich betrat ein leeres Haus, alles stand noch an seinem Platz, kalter Kaffee auf dem Kocher, Spielsachen verstreut im Salon. Es kam mir so vor, als beträte ich ein Zimmer voller Menschen, doch alle waren unsichtbar, nur ich nicht. Ich ging weiter. Unter den Wäldern zu schlafen wurde zu Gewohnheit. Behutsame Eulen sangen mich in den Schlaf und eifrige Spechte weckten mich an den Morgen. Als ich das erste Mal seit langem einen Menschen sah, griff ich zu meinem eigenen Erschrecken nach meinem Gewehr und rüttelte daran, als ob ich noch eines gehabt hätte. Eine Phantomreaktion. Ich beobachtete ihn. Es war frischer Morgen und man sah die Wasserpartikel in der frühen Luft. Er war Bauer oder Förster und hackte Holz. Ich legte an und sagte: Peng. Dann schlich ich davon und lebte fortan allein. Und hier sitze ich nun und schreibe und male meine Überlegungen auf.« Schmatzend stellte Brockhaus die Schale zurück ans Lager. »Dann haben Sie ja einiges verpasst seitdem. Wann war das?« »Es war die erste Schlacht des Krieges in Belgien, Langemarck bei der Yser, das sagte ich.« »Der Krieg ist aus«, brummte Dachs, drehte sich um und versuchte zu schlafen. Brockhaus belehrte: »Das ist jetzt sieben Jahre her, junger Mann, der Krieg dauerte vier Jahre und ist jetzt schon seit drei Jahren vorüber. Wir haben verloren, der Kaiser wurde abgedankt und die Monarchie gibt es nicht mehr. Die Siegermächte vereinigten die Erde in einem Völkerbund und teilten sie untereinander auf. Alte Länder zerfielen, neue entstanden, selbst die Juden haben jetzt einen eigenen Staat. Die Welt ist zu einem Netz aus Grenzen verwebt und Deutschland blecht. Sie haben einiges verpasst. Wir haben Frieden!« »Es hat einen Krieg gegeben, also wird es wieder einen geben, das ist die Natur der Dinge.« »Sind Sie sich da so sicher?« »Ein Fluss fließt ins Meer, im Meer kondensiert sein Wasser zu einer Wolke und zieht zurück ins Landesinnere, wo er früher oder später zurück in seine Quelle regnet. Der Fluss kann große Kurven schlängeln, lange Wege fluten, breite Bögen schwingen; er kann es verzögern, doch er kann es nicht verhindern. Er wird wieder ins Meer fließen, wieder verdunsten, wieder in den Himmel steigen und wieder herabregnen. Und wir alle sind nur Regentropfen, die wieder und wieder mitgezogen werden. Alles wiederholt sich. Allein ich bin neben das Flussbett gefallen und in eine Tropfsteinhöhle gesickert. Hier fließe ich nicht mehr, hier kondensiere ich nur an der Decke und falle von den Stalaktiten und werde zu Mondmilch. Das alles können Sie lesen, hier auf den Steinen.« Er zeigte auf verschiedene Steine, die dort herumlagen und angeordnet aussahen. »Es ist eine unendliche Geschichte der Vergesslichkeit.« Dann tunkte er den Zweig wieder in die Pfütze und schrieb. »Sie haben tatsächlich alles verpasst«, nuschelte Dachs, mit dem Rücken zugewandt. »Sie haben wirklich gar nichts mitgekriegt.« »Ich weiß genug. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gibt«, erwiderte der Einsiedler schreibend. Dann legte er den Zweig zur Seite und atmete lange aus. »Das Leben, das Sie meinen, welches mir verborgen bleibt, ist das Öffentliche. Ich schätze meine Privatsphäre.« »Und Ihre Familie?«, fragte Brockhaus. »Wollen Sie nicht wissen wie es Ihren Eltern, Ihren Geschwistern, Ihren Freunden ergangen ist? Wie es ihnen geht?« »Ich weiß, wie es ihnen geht. Es geht ihnen so, wie ich denke, wie es ihnen geht. Ich habe ihre glücklichen Gesichter auf die Steine hier gemalt. Sie sind bei mir und ich bei ihnen.« Dachs wollte nicht so recht einschlafen und stützte sich auf. »Wir suchen Lapislazuli«, sagte er und rieb sich die Augen. »Das ist eine Farbe, nicht wahr?«, vervollständigte der Einsiedler sein Gedächtnis. »Nein, das ist ein Stein. Aber aus diesem Stein gewinnt man eine Farbe: Ultramarin. Das brauchen wir. Man soll es hier in den Höhlen finden können.« »Aber wir befinden uns in der Eifel, wenn ich mich recht irre.« Der Einsiedler schien an einem Mundwinkel zu lächeln. Brockhaus rehabilitierte seinen Verdacht. »Ich habe gelesen, es gäbe auch in der Eifel Fundorte von Lapislazuli-Adern. Wissen Sie, wo die sind?« »Ich verwende keine Farben«, sagte der Einsiedler. »Ich nehme das Wasser hier.« »So!«, sagte Dachs und stand auf. »Kurt, ich denke, das war unser Stichwort. Auf geht‘s – weitersuchen.« »Warte noch«, bändigte ihn Brockhaus. »Ich will mehr erfahren, lass ihn doch noch eine Weile sprechen.« Dachs blies die Backen auf und setzte sich wieder hin. »An was arbeiten Sie gerade?«, wandte sich Brockhaus an den Einsiedler. »Schreiben Sie eine Geschichte?« »Ein Gleichnis, ja«, sagte der Einsiedler. »Können wir es hören?«, fragte Brockhaus. Dachs rieb sich die Stirn. »Natürlich«, kündigte der Einsiedler an. »Ich hole nur eben etwas Dramaturgie, dann erzähle ich.« Er stand auf, ging zu einer kleinen Kiste und holte eine Hand voll Schießpulver heraus. Er setzte sich näher an das Feuer und an seine Gäste, nahm etwas von dem schwarzen Sand aus seiner Handkuhle und warf einen Schrot in das Feuer, so dass es aufwallte, zischte, knackte und Funken spie. »Es ist das Gleichnis des erleuchteten Feuergespenstes«, führte er an, Brockhaus sah in die Glut und öffnete seine Ohren, Dachs gähnte und der Einsiedler begann: »Volk des Feuers, Gespenstervolk, knackende, knisterbärtige Gelbköpfe, das waren sie. Sie waren Licht, sie waren Hitze – nur eines waren sie nicht – dunkel. Darum machten sie die unbekannten Schatten rund um ihre Welt zu Götzen, zu Göttern, die sie bebeteten und sich nach ihren Tänzen richteten, sich ihnen unterordneten und sich selbst und ihr Licht zu Nichtsen verklärten. Und so schrieben und gesetzestexteten es die Priester nieder über die Niederköpfe, und so prusteten es die Bischöfe in den Flammenberg und die müden Feuergespenster ließen ihre faulen Mäuler auf und kauten, schluckten und dauten jeden Schnitz Asche, den sie ihnen hineinwarfen. Beten zu den Schatten, als dass sie Erschaffer, Schützer und Zerstörer sein mögen, auf dass die Hegemonen über die Blindgeborenen herrschen. Bloß dies eine rätsel-frohe Gespenst fraß die Leichenweisheit nicht, sah unter jedem schwarzen Holzscheit nach und wendete jeden gesprungenen Stein um sich selbst ein Bild zu machen. Beständig bewanderte es die springenden Gipfel, schlich von Bergbauch zu Bergrücken, um den Hintergrund der Schatten und ihre Herkunft zu entlarven. Und so schlug eines Tages die Zeit des Handelnden, als es auf einen fliehenden Funken sprang und durch die Hitzemauer in die Außenwelt hineinritt. Herausgestiegen aus der Feuerwelt erblickte das Gespenst zum ersten Mal das Nicht-Licht, sah Figur und Abriss, Gegenstand und Zugehörigkeit, Farbe und Kontrast und zuletzt das Gestirn der Sonne, dem Urfeuer, das Leben über all das All-Das goss. Das Gespenst verstand. Alles andere als Götter sind diese Schatten! Nichts als dunkle Luft, untergebene des Wahren, Illusion, Trabant der Realität. Und es leuchtete. Also sank es zurück in das Loder um es allen Gespenstern zuzutragen, auf dass sie Augen und Ohren haben würden für ihr Winzling-Dasein und Zwergen-Dortsein. Doch die Gespenster waren dummgebildet und Eitel ihres Starrsinns. Sie wollten es zur Überraschung des Gespenstes nicht wissen, sie wollten weiter an die Schatten glauben. Und nicht nur das. Die Fäuste der Hegemonen und Priester und Bischöfe wüteten über des Pestgespenstes Wahnsinn, frostgesprengt sei seine Seele draußen in der bitteren Eiswelt der Schattengötter – und ohnehin stand schon der Gedanke unter Strafregel ihrer Schattenreligion. Und sie befahlen seine Buße und man tat wie ihnen gesagt. Sie schmierten das Gespenst in Ölfilm und unterwarfen es der Brandleisterei. Wasser sieden und Luft saugen sollte es, zu beflissener Geschäftigkeit verdammt, sich krümmen und sich nicht mehr kümmern um diese Trümmerträume. So duckte sich das Gespenst lange Geisterjahre unter den Gewölben der Brandhölzer und Schmelzeisen – bis eines Tages wieder die Zeit des Handelnden schlug, es einen Funken ergriff und aus dem Schlund der feigen Bestien entkam. So stieß es voller Abenteuerlust und Freisinn hinauf zum Urfeuer – und als es der Sonne zu nahe kam verdampfte es und wurde zu Stein. Und wie jeder Stein, so musste auch dieser – fallen. Also fiel die Statue des Gespenstes zurück auf den alten Flammenberg und löschte alles Feuer bis auf den letzten armen, leuchtenden Glühwurm und Armleuchter aus.« Der Einsiedler nahm wieder etwas Pulver aus der Hand und streute es in das Lager. Er schien seine Rede beendet zu haben, denn er sagte nichts mehr. Brockhaus kramte in seinem Bart und Dachs schnarchte. Er war offensichtlich endlich eingeschlafen. »Und das Feuergespenst, das zu Stein wird und alles plattmacht ist eine Metapher für was ?«, fragte Brockhaus, der das Suppenhaar gefunden zu haben schien, nach dem er suchte. »Es ist keine Metapher«, sagte der Einsiedler. »Es ist ein Gleichnis.« »Um was zu sagen?« »Wie es ist.« »Wie können Sie wissen wie es ist? Sie waren sieben Jahre nicht mehr da draußen. Sie waren sieben Jahre allein.« »Es ist, wie ich denke, wie es ist«, sagte der Einsiedler. Brockhaus lächelte entzückt über die stolze Naivität des jungen, bärtigen Mannes in seiner Eifler Tropfsteinhöhle. Seinen Frieden scheinbar früh gefunden, mit der Vulkan-landschaft Verwandtschaft geschlossen. »Es steht hier überall auf den Steinen«, wiederholte sich der Einsiedler. »Wie heißen Sie denn? Oder wie hießen Sie mal?«, fragte Brockhaus. »Damals, in Ihrer anderen Welt, bevor sie in den Krieg gezogen waren? Im Zivilverhältnis, wie man so schön sagt.« »Ich hieß Peter«, sagte der Einsiedler. »Und wie nennen Sie sich jetzt?«, fragte Brockhaus weiter. »Ich gebe mir keinen Begriff«, winkte der Einsiedler ab. »Es gibt genug Wörter, die nicht beschreiben, was sie sind, da brauche ich für mich nicht auch noch eins. Ich träume jede Nacht – und jeden Morgen stehe ich mit einem neuen Namen auf.« Dachs schnaufte auf und rieb seine Zähne, dass sein Gebiss quietschte. »Was er wohl träumt«, sagte der Einsiedler, den schlafenden Dachs betrachtend. »Ach, Der träumt nur von sich selbst«, lachte Brockhaus, zufrieden seinen besten Freund in friedlichem Tiefschlaf zu sehen. Auf dass er bald aufwache und einen ernüchternden Vorschlag mache. »Der ist ein unaufhaltsamer Bär auf Honigsuche.« »Lapislazuli finden Sie in dieser Höhle nicht«, gestand der Einsiedler plötzlich. Brockhaus blickte überrascht auf. »Aber ich habe eine Lapislazuli-Ader entdeckt. In einer kleineren, aber steileren Höhle, vielleicht tausend zweihundert Schritte nordostwärts von hier, da schimmerte mir ein wunderschönes Blau entgegen.« »Tatsache!«, stellte Brockhaus lautstark fest. Und schüttelte den träumenden Dachs. »Aufwachen Ansgar, ich kenne den Weg.« Dachs schoss nach oben und sprach aus seinem Traum heraus, der Realität entgegen. »Nein. Das kostet acht Millionen Mark. Bedenken Sie die Inflation! Seh ich denn aus wie der Briefträger? Scheiße!« »Ansgar!«, rief Brockhaus ihn zurück. »Das Lapislazuli, wir wissen jetzt wo es ist.« »Wo? Raus mit der Spucke. Hat der Höhlenpfaffe endlich ausgepackt?« »Hat er«, sagte der Einsiedler und lächelte zum ersten Mal eindeutig. »Na dann los!«, rief Dachs, griff nach dem Rucksack und der Gaslampe und marschierte voraus. Brockhaus gab dem Einsiedler die Hand. »Verraten Sie niemandem, dass es mich gibt, ich komme von selbst, wenn es soweit ist«, sagte der Einsiedler zum Abschied. »Wann wird das sein?«, fragte Brockhaus. »Vielleicht in einer Minute, vielleicht nie, ich weiß nicht.« »Na dann, viel Erfolg mit Ihrem Wasserwerk und was immer Sie hier auch tun. Und nur damit Sie Bescheid wissen: Uns hat es auch nie gegeben. Klar?« Der Einsiedler nickte und kniete sich wieder vor seinen Stein, nahm den Zweig, tunkte ihn in die Pfütze und schrieb. Brockhaus schloss auf Dachs auf, sie folgten dem Ariadnefaden zurück an den Eingang und gingen tausend zweihundert Schritte nordostwärts zur nächsten Höhle, krackselten abermals hinab und fanden den Lapislazuli. Doch da Dachs das Minenbesteck, namentlich den Meißel vergessen hatte, konnten sie ihn nicht herauslösen. Drei Tage später kamen sie wieder und schürften. Den Einsiedler besuchten sie kein zweites Mal.

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