1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 »Und dann?«
»Ruhe, George. Als er nach Hause kam, wartete seine Frau schon vorfreudig auf ihn. Sie hatte die beiden Mädchen eingesammelt, fünf und sieben Jahre alt und sie erschreckten ihn mit einem frisch gebackenen Kuchen als er pünktlich zur Tür hereintrat. Es war ein gewöhnlicher Tag, kein Geburtstag oder Jubiläum, die freudige Überraschung beinhaltete keine mathematische Bedingtheit. Sie hatten sich nur auf ihn gefreut. Der Papiermacher hängte sein Jackett an den Haken, breitete die Arme aus und umarmte seine drei Damen. Wie süß sie ihm waren. Wie vernünftig und beständig ihm das Leben mit ihnen war. Er gab seinen Prinzessinnen liebe Küsse auf ihre Köpfchen und seiner Königin einen liebenden auf die Lippen.«
Grosz drückte den nächsten Stummel in die Asche und unterbrach ein weiteres Mal.
»Ich verstehe, Wiz, der eine ist qualvoll verreckt, der andere führt unbeeindruckt ein schönes Leben. Die Quintessenz soll also lauten: Der Mensch ist unschuldig, das System ist schuld. Zeige dem System deinen nackten Hintern und es zeigt dir seinen. Kommt mir bekannt vor.«
»Nun, George«, sagte Herzfelde, »um es für dich abzukürzen: es geht damit weiter, dass die Streikenden sein Haus anzünden und um die Tatsache, dass Papier gut brennt. Aber ja, im Großen und Ganzen geht es damit zu Ende, dass der Mensch nicht böse handeln will, aber dadurch, dass er von Systemen gezwungen wird das Richtige zu tun, Verbrechen an seinem Nächsten verübt. In direkter Form, wie die Streikenden, die Fackeln durch die Fenster werfen, als auch in indirekter Form, wie der Papiermacher, der beflissentlich die Kosten drückt. Beide handeln aus ihrer Position heraus richtig, doch handeln sie, wenn man das Problem von oben aus betrachtet, beide bösartig. Also ja, das System ist schuld, es ist zu einfach, nicht wahr?«
»Tja, nur glaube ich nicht, dass irgendein Übermensch ein böses System geschaffen hat, um einen Keil zwischen die Menschheit zu treiben.«
»Das sage ich auch nicht. Das System hat sich selbst geschaffen, da gibt es keinen Schöpfergott oder Hades, der da wirkt, denn es ist kein System im eigentlichen Sinne, sondern ein Gefüge. Das System ist die Idee, die der Mensch hat, wenn er einen Plan entwirft, wie seine Träume aussehen – das Gefüge ist das, was dann daraus entsteht. Alle fromme Fantasie zerbricht an einem Wimpernschlag der Realität. Der Zufall hat den dunkelsten schwarzen Humor. Die repräsentative Demokratie beispielsweise: aus einer Mehrheit bildet sich der gemeinsame Plan in eine gemeinsame Zukunft – das klingt klug, wichtig und vernünftig. Doch nur, weil es eine Mehrheit für etwas gibt, bedeutet das ja nicht, dass diese auch gerecht und richtig handelt. Eine Mehrheit bedeutet nur eine physische Überlegenheit gegenüber einer selbstgeschaffenen Minderheit. Und Karriere in der Mehrheit machen die Spezialisten, die Grübler und Schnüffler der Minderheit bleiben, wie der Name schon sagt, gering. Die Spezialisten, George. Sieh es anhand unserer demokratisierenden Zeit: Der Spezialist für Wirtschaft entscheidet über Wirtschaftsangelegenheiten – Beispiel Schmidt. Wie erschafft man mehr Geld? Man druckt es – die Folge: Inflation und neue, ja, noch größere finanzielle Seifenblasen – aber er als Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Der Spezialist für Krieg beschäftigt sich mit Kriegsangelegenheiten – Beispiel Noske. Wie entwaffnet man die Spartakisten am schnellsten? Man erschießt sie – die Folge: Ganze Familien, die Rache schwören und unerfindlich größere Widerstände zu späterem Zeitpunkt – aber der Spezialist hat seine Spezialaufgabe gelöst. Und so weiter durch das ganze Reichskabinett. Sie alle tun das Richtige aus ihrem Amte heraus und dadurch handeln sie bösartig. Banale Realität zerschneidet die umsichtigste Fantasie. Ich fasse zusammen, die Spezialisten: Sinnlose Arbeit produziert Sinnlosigkeit, wie im Beispiel eins. Blinder Aktionismus produziert Reaktionismus an sich selbst, wie im Beispiel zwei. Wenn sich so eine Demokratie einbürgert, hat die Menschheit bald versagt. Man sollte nicht wählen, man sollte würfeln.«
»Du willst die Monarchie zurück?«, fragte Grosz.
»Um Gottes Willen, George. Nicht erben, würfeln sage ich.« »Was wäre dann deine Utopie, Wiz?« »Ich lasse mich nicht in eine Utopistenecke schieben, George, ich bin ganzheitlich. Es ist doch so, die Entstehung eines Systems, ab ovo betrachtet: Im Normalfall wird um das eigentliche Anliegen, nennen wir es das ›friedliche Zusammenleben aller Menschen‹, zielgenau herumdebattiert. Dann findet man die schlechtmöglichste Antwort auf die von vornherein falsch gestellte Frage und schafft ohne Not ein weiteres und neues Problem, das seinerseits wiederrum umfangreich umgangen wird, bis man sich letztendlich reinweg von der Realität verabschiedet hat. Es tut mir leid, mein Freund, aber mir bleibt nur eine Entropie.« »Nihilismus«, fügte Grosz hinzu. »Ganz im Gegenteil, Omniaismus, was auch immer. Irgendeinen Ismus unter all den Ismussen wird es schon für mich geben. Komm ran, ich setze noch einen frischen Kaffee auf, willst du auch einen?« »Es ist nach Mitternacht«, sagte Grosz. »Ja, genau«, entgegnete Herzfelde und ging an den Gaskocher. »Nach Mitternacht nur noch Alkohol.« Grosz war durstig. Also nahm Herzfelde wie ein einsichtiger Demokrat einen Korn aus der Schublade und füllte zwei Gläser auf. »Und?«, fragte Grosz. »Wie glaubst du entstehen diese Phänomene, diese Gefüge?« Sie kippten den ersten jungfräulich hinunter. »Gefüge, ja«, wiederholte Herzfelde, während er die nächsten Gläser auffüllte. »Ich sage mal ganz salopp, dass es sowieso nur zwei Arten von Menschen gibt: Jene, die Denkenden, wie uns, und solche, die es nicht über eine gewisse Intelligenzschwelle schaffen. Weißt du wen ich meine? Die Gedankenlosen, oder die Gedankenfreien, je nach Perspektive. Solche, denen jene alle Erklärungen geben können, die sie ja doch nie begreifen werden. Solche, von denen man sagt, dass man ihnen alles zweimal sagen müsse, aber du kannst es ihnen hundertmal sagen, sie werden die Hürde nicht schaffen. Solchen muss man also etwas geben woran sie sich festhalten können. Ein sinnloses Gesetz zum Beispiel, wie das Verbot von Rauschmitteln eventuell, oder die Sperrstunde. Etwas, woran sich keiner hält, worauf sie sich aber berufen können, wenn sie wiedermal nicht verstehen können worum es geht. Denn wenn sie eines nicht haben, dann sind das Argumente. Mit solchen meine ich Spießer, Kleinkarierte, Konforme, selbsternannte Erwachsenenerzieher, solche eben, die immer unter Zeitdruck stehen, aber nie etwas zu tun haben. Auch denen musst du in der Demokratie, oder der Monarchie, oder in welchem System auch immer, etwas an die Hand geben, auf das sie sich stützen können, auch wenn du sie verachtest. Man soll sich ja nicht wegen Kleinigkeiten gleich umbringen müssen. Wir stehen noch ganz am Anfang, alter Freund. Die Demokratie ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss.« »Vielleicht ein Schritt in die richtige Richtung«, sagte Grosz. »Oder in die falsche, mein Freund, oder in die falsche. Wer weiß, wen die noch zu wählen imstande sind.« Herzfelde goss nach. Er ließ gern alles offen. Auch die Flaschen, die geöffnet wurden, wurden ausgetrunken, nicht verschlossen. Also tranken sie, einen nach dem anderen, fabulierten Paralleluniversen zusammen, kundschafteten die möglichen Achsen aus und gerieten in Universalienstreitigkeiten, rauchten, tranken wieder. Solange, bis sich alles um Grosz herum verfinsterte, als hätte man ein Tintenfass über ihm entleert. Sein Freund Herzfelde verstummte, die Tinte lief über seine Ohren, der Raum drehte sich ab von ihm und verschwand, es lief ihm über die Augen. Das ganze Gesicht war mit Tinte bedeckt, der Rausch hatte eingesetzt – ihm war man ausgesetzt, auf Gedeih und Verderb, auf Hochmut und Zerfall.
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