1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Was tun?
Aufgeben? Sich fressen lassen? Alle Träume von einem besseren Leben beenden? Oder nach einer letzten Chance suchen und diese nutzen, auch wenn sie noch so kleinen war?
Die Jägerin entschied sich für die letzte Chance. Sie sah, wie das Männchen sich zum Sprung duckte, sie sah die Muskeln sich spannen und die Krallen an Zehen und Händen heraus gleiten und sie machte sich selbst zum Sprung bereit. Die Spannung in ihrem Körper war enorm, alles kam auf einen einzigen Moment an, ihr ganzes Leben hing an einem einzelnen Faden eines Spinnennetzes.
Das Männchen sprang und die Jägerin sprang und sie suchte ihre Chance. Sie sprang nicht weg von ihm, auch nicht zur Seite sondern dem Männchen entgegen! Sie sprang flach und kurz, doch im Springen drehte sie sich einmal um ihre eigene Längsachse, ihre Krallen zuckten hoch und schlitzten dem Männchen den während des Sprungs ungeschützten Bauch auf.
Nicht tief genug, um ihn zu töten. Bei weitem nicht. Nicht einmal tief genug um ihn so schwer zu verletzen, dass er die Jagd aufgegeben hätte, aber immerhin tief genug, um ihn vorsichtig werden zu lassen und genau darin sah die Jägerin ihre letzte Chance. Sie kannte die Stelle, an der sie sich befand genau. Nur wenige Schritte innerhalb des Stollens, aus dem ihr das Männchen entgegen gekommen war, gab es eine Gabelung von Stollen. In vier verschiedene Richtungen verzweigten sich die Stollen dort offensichtlich und in eine fünfte, wenn man von ihr wusste. Sie landete auf allen vieren, sie verharrte aber nach der Landung keinen noch so winzigen Augenblick, sondern federte sich sofort wieder ab, sprang in den Stollen hinein, fegte durch die Finsternis und dann, noch ehe sie den ersten Sprung ihres Verfolgers hören konnte, hatte sie die Stelle erreicht, zu der sie wollte. Vier Stollen verzweigten deutlich sichtbar direkt nebeneinander, doch der Eingang zu einem fünften Stollen lag genau oberhalb von ihr, in der Decke des Hauptstollens und darin sah die Jägerin ihre Chance. Auch wenn sie ihren Verfolger dadurch vielleicht nur kurz aufhalten würde, war sie in der Lage aus dieser Verzögerung einen Vorsprung zu machen, den das Männchen nicht so leicht wieder einholen konnte. Vor allem deshalb nicht, weil das Männchen ihr unmöglich durch das Loch in der Decke folgen konnte, dazu war dieses viel zu klein.
Die Jägerin zögerte nicht, sie sprang. Sie traf zielsicher in den engen Einlass an der Decke, stützte sich mit den Händen am Boden des oberen Stollens ab, zog sich hoch und war verschwunden. Keinen Augenblick zu früh, wie sie gleich darauf fest mit einem letzten Blick nach unten feststellen musste, denn genau in diesem Moment landete das Männchen an der Stelle, an der sie vor wenigen Augenblicken noch selbst gestanden hatte.
Ein tiefes Durchatmen, dann sah sie sich um, denn auf dieser Ebene war sie noch nicht gewesen. Jetzt erst wurde sie sich der Tatsache bewusst, welches Risiko sie mit ihrem Sprung eingegangen war. Sie hätte genauso gut einem anderen Männchen oder einem fremden Weibchen in die Fänge springen können, doch wieder war das Glück mit ihr gewesen, sie war allein.
Sie befand sich auf einem ziemlich kleinen Platz, vielleicht fünf Schritte im Durchmesser, mit einem glatten, eben Boden und von diesem Platz zweigten wiederum in alle möglichen Richtungen weitere Stollen ab. Das war nichts Ungewöhnliches. Dennoch war da etwas, das veränderte Verhältnisse schaffte. Die Jägerin begriff, dass es hier sehr viel heller war, als in den Ebenen, aus denen sie gekommen war. So hell, dass ihr einen Moment sogar die Augen weh taten ehe sich ihre Pupillen an diesen ungewohnten Lichteinfall gewöhnt hatten.
Ein dämmeriges Zwielicht anstatt der tiefen Finsternis und an den Wänden des Platzes und auch in den abzweigenden Stollen erkannte sie auf der Höhe ihrer Augen gelb leuchtende Streifen, die sie für die Quelle des Lichtes hielt.
Alle Sinne in höchster Alarmbereitschaft folgte sie nun willkürlich einem der Stollen und hoffte, nicht in einer Sackgasse gelandet zu sein. Sie hatte keine Ahnung, wie lange ihr Verfolger durch die neue Situation aufgehalten wurde, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er ihr auch hierher folgen würde.
Männchen waren so. Wenn sie sich erst einmal an eine Beute gehängt hatten, gaben sie die Jagd erst auf, wenn diese Beute tot zu ihren Füßen lag.
Der Stollen stieg leicht nach oben an. Sein Untergrund war sehr eben, aber auch sehr glatt und so hart, dass sie selbst mit ausgefahrenen Krallen keinen zusätzlichen Halt bekam. Dennoch kam sie schnell voran und freute sich darüber, als sie auf ihrem Weg erkannte, dass es auch von diesem Stollen aus immer wieder Abzweige andere in andere Richtungen gab, dass sich ihr also auch hier eine Vielzahl von Fluchtmöglichkeiten boten.
Sie war ein gutes Stück mit normaler Schnelligkeit gelaufen, als sie erneut an einen runden Platz kam und auch hier gab es einen Zugang von unten. Der wesentliche Unterschied bestand darin, dass dieser Zugang nicht einfach nur ein Loch in der Decke beziehungsweise im Fußboden war, sondern dass ein stabiler Aufstieg von unten nach oben führte. Sie hatte ähnliche Aufstiege auch schon anderen Stellen gesehen und im Gedächtnis der Mutter hatte sie dafür den Begriff „Treppe“ gefunden. Eine solche Treppe mündete in diesen Platz und sie war groß genug, um drei oder vier starken Männchen gleichzeitig den Weg nach oben zu ermöglichen. Vier waren es zwar nicht, die sie herauf huschen sah, aber das eine Männchen reichte ihr voll und ganz.
Ihr ganzer schlauer Fluchtplan war vereitelt!
Anstatt einen sicheren Abstand zu dem Männchen gewonnen zu haben, befand dieser sich schon wieder dicht auf ihren Fersen und zwar fast so dicht, wie bei seinem ersten Angriff. Wieder wollte Panik in der Jägerin aufsteigen, doch dann vielen ihre Augen auf einen Durchgang und hinter diesem Durchgang entdeckte sie etwas, das ihre neue Hoffnung machte.
Mit drei langen Sprüngen hatte sie den Durchgang erreicht und befand sich nun in einer riesigen Halle. Eine Halle dieser Größe hatte sie auf ihren langen Wanderungen durch die Dunkelwelt niemals gesehen. Das andere Ende der Halle war so weit weg, dass es den Anschein hatte, die dortigen Wände würden ihr nicht höher als nur bis zur Hüfte reichen.
In dieser Halle standen regelmäßig verteilt große Würfel von eigenartiger Farbe und der Abstand zwischen den Würfeln war immer gerade so groß, dass sie ihn mit einem guten Sprung noch überwinden konnte. So konnte sie dem Männchen vielleicht dadurch entkommen, dass sie von Würfel zu Würfel sprang und dadurch kaum eine erkennbare Spur hinterließ.
Sie folgte ihrer Eingebung und sprang mit einem eleganten Sprung auf die Kante des ersten Würfels und musste feststellen, dass ihre Idee noch besser gewesen war, als sie ursprünglich angenommen hatte. Der Untergrund auf diesem ersten Würfel schwankte unter ihrem Gewicht, knirschte und bog sich durch und sie war sich absolut sicher, dass er unter dem weitaus größeren Gewicht ihres Verfolgers nachgeben musste. Mit zwei schnellen Sprüngen überquerte sie den Würfel, erreichte die nächste Kante und sprang über die Kluft hinüber auf den nächsten Würfel. Ihre Landung war perfekt und sie war froh darüber, dass sie einer Eingebung folgend nur bis zur Kante und nicht irgendwo in die Mitte hinein gesprungen war, denn sonst wäre sie in einem wilden Gewirr aus Zacken und runden Scheiben gelandet, die alle furchtbar gefährlich aussahen. Sie turnte die Kante entlang, erreichte wieder eine Kluft und sprang und nun hatte sie wieder den weichen, nachgiebigen Grund unter ihren Füßen, wie am ersten Würfel.
Wäre sie nicht auf der Flucht gewesen, es hätte ihr sogar Spaß gemacht, in der riesigen Halle herum zu turnen und von Würfelkante zu Würfelkante zu springen, doch das Männchen machte ihr das Vergnügen rasch zunichte. Sie konnte seine weichen Branten über den Boden huschen hören und ab und zu das Klacken einer nicht ganz eingezogenen Kralle. Sie konnte ihn riechen und sie konnte ihn sehen und zum ersten Mal sah sie einen Artgenossen in einem anderen Licht als dem der nahezu vollständigen Dunkelheit. Sie sah nicht die Wärmeabstrahlung ihres Verfolgers sondern registrierte sein reales Aussehen, was zur Folge hatte, dass sie einen schrillen Schrei ausstieß und sich nach ihrem nächsten Sprung zitternd in die Mitte des Würfels kauerte, unfähig noch einen weiteren Sprung über eine Kluft zu wagen.
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