Mit zerfetzten Eingeweiden und durchbissener Kehle lag die Alte auf dem Boden. Das Blut aus ihren Wunden tränkte den weichen Sand in der Grotte und die Mutter richtete sich aus ihrer Kampfhaltung auf, dehnte und streckte ihre verspannten Muskeln, ehe sie zupackte und der toten Gegnerin einen Arm ausriss, ihn dem Kind zu warf und sich selbst den anderen Arm als Beute und Nahrung nahm.
Sie hatten seit langem nichts vernünftiges mehr zu fressen gehabt, sie waren beide ausgehungert von der langen Wanderung und so war die tote Revierbesitzerin genau das Richtige für ihre leeren Mägen.
Sie fraßen sich zunächst satt.
Die Mutter saß mit dem Rücken an der Wand der Grotte gelehnt, die nun, nach einem harten Kampf ihr gehörte. Nun, da sie die Grotte gewonnen hatte, war auch die Zeit auf ihrer Seite, sie saß nur da und leckte ihre Wunden. Nur wenige Schritte von ihr entfernt lag die Leiche der Gegnerin in verkrampfter und erstarrter Haltung im Sand des Bodens und ein Gefühl der Zufriedenheit stieg in dem Weibchen auf, denn sie hatte nicht nur einen guten Platz gewonnen, sondern zugleich auch Nahrung für viele Tage. Für sich selbst und auch für ihr Kind.
Das Weibchen seufzte ein klein wenig und genoss die Anwesenheit ihres Kindes, das aus der Nestkuhle gesprungen war und sich nun ebenfalls um die Wunden der Mutter bemühte. Ein junges, starkes Weibchen, das den Fortbestand der Rasse sicherstellen konnte, wenn es die Zeit bis zur eigenen Geschlechtsreife überlebte. Der Zeitpunkt war nicht mehr weit entfernt, doch bis es soweit war, stellte das Kind auch weiterhin nicht mehr als schwer zu erbeutendes Futter für andere Weibchen und vor allem für die gefräßigen und immer hungrigen Männchen dar.
Mit sanfter Zunge leckte das Kind die teilweise tiefen Kratzer und Bisse sauber, die über den ganzen Körper der Mutter verteilt waren. Das Kind hatte den Kampf der beiden Weibchen genau beobachtet und sehr genau verstanden, dass ihre Mutter nur deshalb siegreich gewesen war, weil das Kind mit der notwendigen Entschlossenheit und Kompromisslosigkeit in den Kampf eingegriffen hatte. Das andere Weibchen war trotz ihres Alters und trotz der zerschlissenen Gelenke sehr stark gewesen. Sehr stark und in einem sehr guten Ernährungszustand. Sogar Fettreserven hatte die Gegnerin aufbauen können, so gut schien sie gelebt zu haben. Kein Wunder, wo doch zu der neuen Wohnstatt auch ein sehr gutes Jagdrevier mit genügend frischer Luft, gutem Wasser und reichlich lebender Beute gehörte.
Das Kind war in einer entscheidenden Phase des Wachstums und hatte praktisch ununterbrochen Hunger. Es war groß und hager, größer als es seinem Alter entsprechend hätte sein müssen, aber auch hagerer, als es zu seiner Größe passte. Doch durch Mutters Sieg war es durchaus wahrscheinlich, dass auch sie in nächster Zukunft genügend zu fressen bekommen würde, um wenigstens ab und zu satt zu sein.
In diesem Moment war das Kind satt, denn es hatte sich zusammen mit der Mutter am Kadaver des besiegten Weibchens gütlich getan. Einen ganzen Arm hatte die Mutter der toten Gegnerin ausgerissen und ihn dem Kind überlassen.
Eine Belohnung auch dafür, dass das Kind im richtigen Moment in den Kampf eingegriffen hatte?
Das Kind war auf jeden Fall satt und zufrieden und deshalb leckte es Mutters Wunden auch besonders sorgfältig und ausdauernd. Das Lecken der Wunden bewirkte nicht nur eine Desinfektion der Wunden, sonder stimulierte auch die Selbstheilungskräfte der Mutter. Die Voraussetzungen für eine rasche Heilung der Wunden waren perfekt. Es stand genügend energiereiche Nahrung zur Verfügung, ein sehr gut geschützter Rückzugsplatz und ein fast erwachsenes Kind, das zumindest phasenweise die Zuständigkeit für die unablässig notwendige Wachsamkeit übernehmen konnte. Die Wunden würden so schnell heilen, dass man die Heilung fast mit dem Auge beobachten konnte.
Die Mutter schob das Kind kurz zur Seite, erhob sich trotz ihrer Wunden erstaunlich schnell und geschmeidig und humpelte zu den Überresten ihrer Gegnerin hinüber. Mit blitzschnellem Griff und einem kraftvollen Ruck riss sie dem Kadaver ein Bein ab und nahm es mit hinüber zu ihrem Ruheplatz. Dort gab es im sandigen und trockenen Boden eine tiefe Kuhle, die auch von der vorigen Bewohnerin der Grotte schon als Nestplatz benutzt worden war. Sie schmiegte sich in diese Kuhle hinein, begann mit scharfen Zähnen das Fleisch von dem Beinknochen zu reißen und es nahezu unzerkaut hinunter zu schlingen. Dann, als sie das Bein fast vollständig abgenagt hatte, wurde sie müde und träge, denn nun begann ihr Körper seine Selbstheilung. Die Mutter hatte noch Zeit genug, dem Kind die Aufgabe der Bewachung zu übertragen, dann wurde ihr Körper weich und schlaff, ihre Muskeln entspannten sich, ihre Augen fielen zu und es war, als würde sie schlafen. Allerdings war ihr Zustand viel näher am Tod als am Schlaf. Der Herzschlag verlangsamte sich um weit mehr als neun Zehntel der gewohnten Pulsfrequenz und auch ihre Atmung wurde sehr, sehr langsam. Nur in diesem Zustand war ihr Gehirn in der Lage, die körpereigenen Energieströme so umzulenken, dass nahezu der gesamte Energiefluss der Wundheilung zur Verfügung stand. Sofort hörten sämtliche Wunden auf zu bluten oder zu nässen, die Ränder zogen sich zusammen und die teilweise tiefen Schnitte und Bisse wurden verschlossen und begannen von innen her zu heilen.
Das Kind beobachtete den Vorgang wie hypnotisiert.
Es war selbst nicht weniger gut in der Lage, diese Selbstheilung durchzuführen, wie die Mutter, doch es war immer wieder faszinierend bei jemand anderem zu zuschauen, wie der Körper sich selbst regenerierte. Es würden nur feine Narben zurück bleiben und die Leistungsfähigkeit der Mutter würde nicht im Mindestens eingeschränkt.
Obwohl die Augen des Kindes fest auf der Mutter ruhten, waren all ihre übrigen Sinne mit höchster Leistung auf die Überwachung der Umgebung ausgerichtet.
Das Kind saß am Rand der Kuhle und hatte die Beine unter den Körper gezogen. Aus dieser Stellung heraus war es in der Lage praktisch ohne Vorwarnung Sprünge von eminenter Rasanz und Weite zu vollführen. Die Zehenkrallen waren halb ausgefahren und würden im Gefahrenfall einen sicheren Halt für jeden Sprung bilden und auch die Krallen an den Fingern lugten ein wenig aus den weichen Taschen an der Spitze der schlanken Finger hervor, bereit jederzeit ganz auszufahren und entweder Werkzeug oder Waffe zu sein, ganz nach Bedürfnis. Alle Sinne mit Ausnahme der Augen waren in höchstem Alarmzustand, sie sog witternd und windend die Luft in die Nase, die dabei tanzte und zuckte und sie wusste genau zwischen all den Gerüchen in der Luft zu unterscheiden, Ihre seitlich am Schädel sitzenden, großen und spitz zulaufenden Ohren drehten und wendeten sich in alle Richtungen und ihr Gehirn sondierte die Geräusche, die ihre Ohren auffingen. Sie schickte in regelmäßigem Abstand winzige Sonartöne hinaus um auf diese Weise den Abstand zu einem eventuell vorhandenen anderen, sich annähernden Lebewesen heraus zu finden.
Der Zustand der Mutter stellte eine der gefährlichsten Situationen im Leben unter der Erde dar, denn wenn während des Vorgangs der Selbstheilung ein fremdes Weibchen oder ein Männchen an der Grotte auftauchte, war das Kind nicht in der Lage, allein die Verteidigung der Grotte zu übernehmen. Dazu reichten seine Kräfte bei weitem noch nicht aus.
Doch dieses mal ging alles gut, die Mutter kehrte aus ihrer Trance zurück, die Wunden waren so gut geschlossen, dass sie nicht einmal mehr einen Schorf zeigten und die Beweglichkeit und Schnellkraft der Mutter war kaum mehr eingeschränkt. Nicht mehr lange und sie würde wieder in der Lage sein, die Verteidigung der Grotte und ihres Kindes auch gegen starke Gegner aufzunehmen.
Wieder stand die Mutter auf und glitt zum Kadaver der Gegnerin hinüber. Diesmal nahm sie den anderen Unterschenkel, denn die Selbstheilung hatte viel Kraft gekostet und die Mutter hatte bereits wieder Hunger.
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