„Und da ist das Tor zu unserem Garten. Wir sind da!“ Stolz klang aus ihrer Stimme. Es war geschafft.
Das Haus war hell erleuchtet und ein großer Weihnachtskranz aus Efeu, Ilex und glitzernden Kugeln hieß die Besucher willkommen.
Trish stieß die Tür auf. „Wir sind da-haaaaaa … “
Ein Duft nach Zimt und Äpfeln, der sich mit dem Geruch von gebratenem Truthahn mischte, empfing sie. Die kleine Eingangshalle war weihnachtlich geschmückt mit Misteln und Ilex. Dazwischen hingen die Basteleien der Kinder und bunte Glaskugeln. Es war herrlich warm nach dem langen Fußmarsch.
… und wenn einer wusste, wie man Weihnachten richtig feiert unter allen Lebenden, dann war es Mr. Scrooge … Die Zeile aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens kam ihr in den Sinn.
Mrs. O’Brian kam ihnen lächelnd entgegen. Sie trug eine blaue Schürze und hatte offensichtlich gerade mit Mehl hantiert. Die Hände waren bis zum Ellenbogen weiß. „Wie schön, dass sie da sind, Joy. Hat meine Kleine das nicht ganz hervorragend gemacht?!“
Trish strahlte.
„Ja sie ist fast schon erwachsen.“ Ein Schatten flog kurz über Mrs. O’Brians Gesicht. Nur eine Sekunde, dann war er wieder verschwunden. „So — also herein mit euch. Geht ins Wohnzimmer, da ist es am wärmsten. Holz ist im Korb. Bei mir dauert es noch ein Weilchen.“ Und sie verschwand in Richtung Küche.
Inzwischen waren zwei strohblonde Jungen erschienen. Sie mussten jünger sein als ihre Schwester. Beide musterten Joy neugierig. „Bist du die Frau mit den Büchern?“
Ja, das war sie. Ob die Jungs sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter hatten?
„Und ich hab sie hergebracht. Ganz allein. Den ganzen weiten Weg vom Ort herauf.“ Trish sah sehr erwachsen aus.
Ihre Brüder grinsten. „Na, schwer ist das ja nicht. Das kann doch jedes Baby.“
Trish wurde wütend. „Ihr … Zombies!! … “
In diesem Moment kam Doc O’Brian ins Zimmer. „Na, ihr kleinen Streithähne.“ Er sah amüsiert auf die Kinderschar, „Das sind Cieran und Connor. Und sie müssen Joy sein? Freut mich sehr.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Doc O’Brian war ein untersetzter Mann mit dunklen Haaren und freundlichem Gesicht. Lachfalten hatten sich im Laufe der Zeit um seine Augen gebildet. Joy mochte ihn auf Anhieb.
„Ich bin der hiesige Landarzt, wenn ich nicht gerade einen Streit zwischen unseren Wilden schlichte.“
Trish drehte sich hoheitsvoll um und lief davon in die Küche.
„Ja, es geht oft ziemlich laut her bei uns.“ Sie sah ihm an, dass er das genoss. Er zwinkerte den Jungs zu. Irgendwie schien ein geheimer Pakt zwischen ihnen zu bestehen. Die Jungen grinsten wieder und folgten ihrer Schwester in die Küche.
Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden. Die Nacht kam früh in den Dezembertagen. Joy setzte sich an den offenen Kamin und Doc O’Brian versorgte sie mit heißem Tee. Draußen klopfte es wieder und wieder an die Haustür. Noch mehr Gäste kamen und ließen sich im Wohnzimmer nieder. Manche kannte Joy vom Sehen her, machen waren Kunden in ihrem Geschäft, manche hatten ihr in der schrecklichen Juninacht geholfen, die Bücher vor dem Wasser zu retten.
‘Ob er nicht doch noch kommt? … vielleicht? … ’ sie wünschte es sich mehr, als sie es sich eingestand.
Es dauerte aber nicht lange und sie fühlte sich heimisch unter all den fröhlich plaudernden Menschen. Die Kinder wechselten aufgeregt vom Wohnzimmer in die Küche und wieder zurück.
Endlich kam die Nachricht: „Der Truthahn ist fertig!“, und Trish kommandierte: „Alle ins Esszimmer!“ Ein munteres Gedränge entstand, bis alle an ihren Plätzen saßen.
Mrs. O’Brian erschien mit hochroten Wangen. Die blaue Schürze und das Mehl von den Händen waren verschwunden: „Ihr Lieben! Ihr wisst, ich bin kein Freund großer Worte … Ich freue mich, dass ihr da seid, und der Truthahn hält hoffentlich, was er versprochen hat. Greift tüchtig zu und lasst es euch schmecken!“
„Aber zuerst einen Toast, einen Toast auf die Köchin!“, rief Doc O’Brian. Die Gläser wurden erhoben und alle stießen an.
„Auf die Köchin!“
Mrs. O’Brian war gerührt. Dann begann das Festmahl. ‘Kann ein Märchen Wirklichkeit werden? … Alles ist genauso wie in der Weihnachtsgeschichte .’ Joy musste wieder an Charles Dickens denken. Der Truthahn, der Rosenkohl, die Kartoffeln, die Pasteten, der Nachtisch aus geflammtem Eis, die kandierten Früchte und Schokoladencookies …
Am Ende, als alle schon satt waren, kam als Krönung der Plumpudding — mit Brandy übergossen und mit Ilex verziert. Ein lautes „Ohhhh!“ war zu hören, als Doc O’Brian den Brandy entzündete. Und dann wurde der Pudding doch angeschnitten und war im Nu völlig verschwunden.
Nur zufriedene Gesichter. Sogar die Kinder waren versöhnt und gaben Ruhe. Munter plätscherten die Gespräche über den Tisch.
„Es ist wirklich schade, dass Mike nicht da ist.“ Zustimmendes Murmeln war zu hören.
Ja, sie hätte ihn gerne dabeigehabt, vermisste ihn. Joy wurde plötzlich bewusst, wie sehr. Er fehlte ihr.
Nach dem Essen gingen alle wieder zurück ins Wohnzimmer und gesellten sich um den Kamin. Die Kinder wurden müde und Mrs. O’Brian brachte sie zu Bett.
„Was für ein aufregender Tag. Da schlafen die bestimmt gut und das tägliche Scharmützel entfällt.“
Joy lachte und pflichtete Doc O’Brian bei.
Das Gemurmel der Stimmen, die Wärme und die Behaglichkeit am Kamin machten sie schläfrig. Sie kuschelte sich in ihren Lehnstuhl und überließ sich der Müdigkeit. Das Geplauder wurde leiser und leiser, verstummte ganz.
Plötzlich hörte sie, wie jemand mit lauter Fröhlichkeit begrüßt wurde. Sie fuhr auf. Und da stand er vor ihr und beugte sich zu ihr hinunter. Sie spürte seinen Kuss auf ihren Lippen. Ganz leicht, fast unmerklich.
„Fröhliche Weihnachten, Joy!“
Er war da.
„Das ist eine Art Wallfahrt, die wir jedes Jahr am 28. Dezember machen. Es würde mich freuen, wenn sie mitkämen.“ Mrs. O’Brian wog ein Buch prüfend in der Hand und stellte es wieder zurück. „Nichts für mich, fürchte ich … “, sie seufzte, „wenn es meinem Mann in die Hände fällt, wird er sagen, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Und die Jungs erst.“
Joy lächelte hinter ihrem Ladentisch. Deshalb hatte sie die Liebesromane für ihre weiblichen Leser diskret hinter der Eingangstür platziert — als Schutz gegen neugierige Blicke.
Mrs. O’Brian warf Joy einen prüfenden Blick zu. „Sie sind schon ganz blass, Kindchen. Immer nur im Laden sitzen ist auf Dauer nicht gesund. Wir holen sie am Sonntag um zehn Uhr ab.“
Seit dem Weihnachtsfest bei den O’Brians wurde Joy als eine Art Familienzuwachs betrachtet. Trish kam ja schon seit dem Sommer manchmal nach der Schule bei ihr vorbei, um „Hallo“ zu sagen. Doc O’Brian nahm sie dann abends auf seinem Nachhauseweg mit.
Ja, das würde ein schöner Ausflug werden. Joy freute sich. Sie hatte nicht gefragt, ob Mike dabei wäre. Seit dem Kuss am Weihnachtsabend musste sie oft an ihn denken. War es wirklich ein Kuss gewesen, oder hatte sie es nur geträumt? Joy war sich nicht sicher.
Der Sonntagmorgen war strahlend schön, sonnendurchflutet, wolkenlos und eisig kalt. Der Wind der letzten Tage hatte sich gelegt. Joy warf aus ihrer kleinen Wohnung über ihrem Buchladen einen Blick auf die enge Hauptstraße. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die Läden waren geschlossen. Es herrschte sonntägliche Ruhe.
Gegen zehn hielt der alte Landrover der O’Brians vor ihrer Ladentür. Joy kletterte mehr schlecht als recht auf den Rücksitz und setzte sich zwischen die Kinder. Es war sehr, sehr eng, aber irgendwie saßen schließlich alle auf ihren Plätzen.
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