„Da drüben ist Pilgrims Nest . Ich hoffe du hast Hunger?“
’Welche Pilger hier wohl ausgeruht haben’, dachte Joy. ’Die von St. Fachtna etwas unterhalb des Ortes gelegen? Ob sie wohl das erhalten haben, wofür sie gebetet hatten?’
Das Haus war alt, aber die Besitzer hatten es zu einem gemütlichen Familienpub gemacht. Eine der rauen Steinwände war mit dunkelrotem Lack besprüht worden. Zwischen Bücherregalen, deren Bücher schon lange keiner mehr gelesen hatte, waren grob behauene Tische und Stühle aufgestellt. Ein Tresen, gegenüber ein Küchenbuffet, in dem Geschirr und Besteck auf ihren Einsatz warteten. In einer Ecke brannte um diese Jahreszeit ein Torffeuer im offenen Kamin, daneben eine mit bunter Kreide geschriebene Tafel mit der Speisekarte. Zeitungen waren achtlos auf einem Tisch liegen geblieben. Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee und angebratenem Speck.
Ein paar Gäste waren schon da und musterten die Neuankömmlinge neugierig.
„Hey Mike, gutes Neues!“ Einer der Männer winkte herüber und grüßte ihn kurz. Mike nickte zurück und suchte für sich und Joy einen Tisch in der Nähe des Feuers.
Die Bedienung erschien. Ein junges Mädchen mit zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haarschopf und viel zu dünnem Oberteil. Die schwarzen Ringe unter ihren Augen zeugten von einer langen Neujahrsnacht.
„Frühstück für uns beide? Tee?“ Mike sah fragend zu Joy.
„Gerne.“ Sie wusste in diesem Moment, dass sie unmöglich alles würde essen können.
Das Mädchen verschwand mit der Bestellung und aus der Küche war das zischende Geräusch von angebratenem Speck zu hören.
„Du musst heute zurück nach Cork? Das ist schade.“
„Ja, Dienst … Dabei haben wir Glück. Die Neujahrsparade ist dieses Jahr in Dublin. Letztes Jahr war alles hier, wegen der 100-Jahr-Feier für die Titanic.“
Joy erinnerte sich an die Bilder in den Zeitungen. „Der Präsident war da?“
Mike nickte.
Die Teekannen erschienen und kurz darauf riesige Teller mit Bergen von Bohnen, Speck, Eiern, Scheiben von Black Pudding und gegrillten Tomaten. Dazu jede Menge gebutterter Toast. Joy warf Mike einen hilflosen Blick zu.
Er musste lachen „Nur zu!“
Und es wurde besser als sie dachte. Sie arbeitete sich systematisch durch den Teller und kapitulierte erst vor dem Berg Bohnen.
„Uhhhhh … “, sie stöhnte, „ich habe in meinem Leben noch nie so viel gegessen.“ Joy lehnte sich zurück. Die entspannte Atmosphäre im Gastraum, das wärmende Feuer, die Menschen um sie herum, die sich angeregt unterhielten. Sie sah ihn fragend an. „Erzähl mir von dir Mike.“ Sie wusste im Grunde nicht viel von ihm.
„Es gibt nicht viel Interessantes, fürchte ich.“
Er hatte eine Zeit als Soldat der UN in Namibia verbracht und war dann in Dublin stationiert. Seit drei Jahren war er in Cork und würde hier wohl auch bleiben. Sein ganzes Leben schien sich in der Kaserne abzuspielen, nur unterbrochen von den wenigen Wochenenden bei den O’Brians. Alles was er sagte klang so, als würde er über eine dritte Person sprechen, deren Leben ihn nicht sonderlich interessierte.
„Du bist Captain?“ Er nickte. Sie konnte mit militärischen Rängen nichts anfangen. „Aha … “, sagte sie. ‘Er will nichts von sich preisgeben. Verschlossen wie eine Auster.’ Sie war enttäuscht. ‘Und was war das mit Omagh?’ Sie wagte nicht zu fragen.
Inzwischen hatte sich das Pub bis auf den letzten Platz gefüllt. Die übernächtigte Bedienung eilte zwischen den Tischen hin und her.
„Wollen wir ein Stück gehen?“ Er holte ihre Jacke und sie brachen auf.
Draußen empfing sie eisige Winterkälte. Der Himmel war strahlend blau, nur ein paar harmlose Wolken zogen vorbei.
„Kennst du Mill Cove?“
Joy verneinte. Seit Jahren lebte sie jetzt hier, kam aber meistens über die Stadtgrenze Clonakiltys nicht hinaus. ‘Mein Leben im Buchladen ist im Grunde genauso eintönig wie seins. ‘
Der Weg führte ein Stück nach Glandore und bog dann ab in Richtung Meer. Der Land Rover schaukelte über die unebene Straße entlang einer vor Jahren errichteten grauen, mit Efeu gesprenkelten Steinmauer.
Endlich senkte sich der Weg hinab Richtung Ufer. In Mill Cove gab es keine Mühle mehr. Die hatte man schon vor Jahren zu einem modernen Wohnhaus mit Wintergarten und Steinterrasse ausgebaut. Nur der Pier erinnerte an die Betriebsamkeit der letzten Jahrhunderte, in denen Lastkähne das gemahlene Getreide weiter nach Cork transportiert hatten. Die Bay war jetzt Hafen für kleine Fischerboote, deren Masten leise in der Dünung hin und her schwangen.
„Hier sind wir. Gefällt’s dir?“ Mike stieg aus und Joy folgte ihm. Nach der stickigen Luft im Pub genoss sie die frische Meeresbrise. „Gehen wir auf den Pier?“
Die Mauern trotzten seit einer Ewigkeit den Stürmen des Atlantiks und schützten den Hafen vor der unbändigen Gewalt der Wellen. Die Spuren der Zeit waren überall zu sehen. Der Mörtel zwischen den großen Steinen war an manchen Stellen brüchig und hinterließ kleine Pyramiden aus Sand. Zwei Pylonen in der Mitte des steinernen Piers waren alles, was vom ursprünglichen Anlegesteg noch übrig war. Es roch nach Muscheln und Seegras. Die Wasseroberfläche lag regungslos wie ein Spiegel unter ihnen und schimmerte in der Sonne. Seemöwen zogen am Himmel ihre Kreise. Ihre Rufe hallten laut in der Bay wieder.
`Wie friedlich es hier ist.’ Joy folgte den Vögeln mit den Augen.
Plötzlich stieß einer von ihnen auf die Wasseroberfläche herab. Das Wasser spritzte kurz auf, als sein Körper eintauchte. Die Flügel schlugen mit lautem Chak Chak ! Es gab einen kurzen Kampf und schon stieg die Möwe wieder auf — mit der Beute im Schnabel.
„Ohhh!“ Joy trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
Mike folgte ihrer Bewegung.
„So ist das Leben, Joy … und der Tod.“
Die Rufe der Vögel klangen jetzt wie aus weiter Ferne.
„Du solltest etwas über mich wissen, bevor du … “
Etwas in ihrem Wesen schien sich schmerzhaft mit dem seinem zu verbinden.
Er schwieg einen Augenblick und begann dann wieder: „Vor 13 Jahren, im Sommer, kaufte Dad bei einem Freund in Nordirland einen Traktor. Eigentlich eine absurde Idee, aber der Fergi war billig und er hielt es für eine gute Sache. Für mich war es das erste freie Wochenende in der Army und da war mir jedes Ziel recht.“
Die Wellen schlugen leise an den Pier.
„Es war eine endlose Fahrt dorthin. Schlechte Straßen, noch schlechteres Wetter, die Grenzkontrolle dauerte ewig wegen der Formulare, die Dad ausfüllen musste … “
Joy wagte kaum zu atmen.
„Wir waren den ganzen Tag unterwegs und haben den Traktor tatsächlich gekauft. Ich weiß noch, wie stolz Dad war. Mom und Sandy waren dann in der Stadt einkaufen. Ich erinnere mich, dass Sandy eine Menge Tüten aus dem Kaufhaus mitbrachte. Danach waren wir Essen und sind zurück zum Parkplatz. Ein harmloser Familienausflug.“ Seine Stimme klang bitter. „Auf dem Weg verlor Sandy eine ihrer Tüten. Ich bückte mich, sie aufzuheben. In diesem Moment explodierte die Bombe … Die Detonation schleuderte mich zu Boden. Ich schlug mit dem Kopf auf das Straßenpflaster und verlor für eine Sekunde das Bewusstsein. Glassplitter begannen wie Hagel auf den Boden zu prasseln. Ich spürte, wie Blut über mein Gesicht rann. Eine Wolke aus Staub und Schutt breitete sich über der Straße aus und nahm mir den Atem. Ich musste husten und das brachte mich wieder zur Besinnung. Ein Mann lag neben mir zusammengekrümmt auf dem Asphalt und stöhnte vor Schmerzen. Ich konnte mich kaum bewegen. Mein Kopf dröhnte. Langsam begann sich dann der Staub zu heben und gab die Sicht frei auf eingestürzte Gebäude und zerstörte Autos. Überall waren schreiende und weinende Menschen, die in Panik durch die Trümmer liefen. Die ersten Sirenen der Krankenwagen heulten. Mom und Dad waren etwa zehn Meter vor uns gegangen. Die Wucht der Bombe musste sie sofort getötet haben. In dem Chaos wusste ich nicht mehr, wo ich war. Ich sah mich nach Sandy um … und da lag sie … Sie sah so friedlich aus. Ein paar Blutstropfen im Gesicht, sonst schien ihr nichts zu fehlen. Ich kroch auf allen vieren zu ihr hin … Der Druck der Explosion hatte sie an einen Pfeiler geschleudert und ihr Genick gebrochen — sie war tot.“
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