„Joy!“, rief eine tiefe Stimme, „Joy, mach auf!“
Sie watete durch den Laden und stieg die Treppen hinauf zum Lager. Dann öffnete sie die Tür. Draußen war es pechschwarz. Nur undeutlich konnte sie ein paar Gestalten in Regenmänteln erkennen. Ein bekanntes Gesicht erschien im Lichtkegel des Eingangs.
„Mike!“ sie weinte laut „Oh Mike, meine Bücher!“
„Deshalb bin ich hier.“ Er schob sie sanft zu Seite „Und nicht allein. Mach dir keine Sorgen mehr.“
Und da waren sie: die O’Brians; Mia mit ihrem Mann Frank und ein paar ihrer Stammkunden.
„Wir machen das schon Joy.“ Es war, als ob sein Blick sie für einen Moment umarmte. „Los, bildet eine Kette und dann her mit den Büchern, hier herauf. Die aus den unteren Regalen zuerst!“
Mikes Kommandos hallten durch den Laden. In Windeseile verteilten sich die Helfer und die Bücher wanderten von Hand zu Hand ins sichere Lager.
Mrs. O’Brian sah Joy aufmunternd an. „Wir lassen dich doch nicht hängen, Mädchen … “
Wie gut das tat. Am liebsten wäre Joy durch den Laden getanzt: ‘Hilfe ist da, es ist wie ein Wunder.’
Jeder gab sein Bestes, bückte sich, hob auf, stapelte, gab weiter … Nach einer Stunde waren die Bücher im sicheren Lager verstaut. Alles gerettet, nur die Sonderausgabe von Alice im Wunderland schwamm auf dem Wasser.
Draußen fauchte der Wind in der engen Straße, die Sirenen heulten durch die Nacht und der Regen strömte unaufhörlich weiter. Der Geruch nach Salzwasser und Seetang lag in der Luft. Sie standen jetzt alle knietief im Wasser. Die Helfer waren erschöpft, aber glücklich. Nicht auszudenken, wie viele Bücher die Nässe zerstört hätte!
„Wo ist Mike?“ Joy sah sich suchend um, konnte ihn aber nirgends entdecken.
„Er ist längst wieder bei seinen Leuten. Der hat noch eine lange Nacht vor sich.“ Mrs. O’Brian musterte Joy lächelnd. War das Mädchen enttäuscht? Mike hatte die Rettungsaktion möglich gemacht, würde dafür aber mit seinem kommandierenden Offizier Probleme bekommen. ‘Manchmal sind junge Leute schwer von Begriff’, dachte sie.
Dann brach es aus Joy heraus, die ganze Anspannung fiel von ihr ab: „Oh danke, danke, danke“ Sie konnte kaum sprechen „Was hätte ich nur ohne euch gemacht?“
„Lass gut sein, Mädchen. Wir überlassen dem verdammten Wasser doch nicht unseren Laden! Und jetzt kommt.“ Mrs. O’Brians Stimme klang resolut, dann stieg sie seelenruhig die Treppe zu Joys Wohnung über dem Laden hinauf.
Die anderen folgten ihr lebhaft plaudernd, zufrieden, wie nach einer gewonnenen Schlacht.
„Die Tide fällt in drei Stunden, bis dahin können wir hier nicht weg. Jemand Tee?“
„Und Whiskey!“, ließ sich Frank vernehmen.
Es wurde tatsächlich noch eine lange Nacht.
„Er kommt nicht.“
Joy runzelte die Stirn und sortierte die letzten Bücher in die Regale ein. Sie begann an ihrem altmodischen Schreibtisch mit der Kassenabrechnung. Dieses Weihnachten hatte sie gut verdient. Es war die Jahre nie schlecht gelaufen mit ihrer kleinen Buchhandlung, aber dieses Mal übertraf das Ergebnis ihre Erwartungen. Eine rechte Freude wollte in ihr aber nicht aufkommen.
„Er kommt nicht. Offiziere ohne Familie haben es zu Weihnachten schwer, Urlaub zu bekommen. Das war schon immer so.“ Mrs. O’Brian war am Vormittag im Laden vorbeigekommen, um sie für den Weihnachtsabend einzuladen: „Du kommst zu uns Mädchen. Wer feiert das Fest denn allein?“ Viele Überredungskünste waren nicht nötig und schon war Mrs. O’Brian mit ihren Taschen und Einkaufstüten hinaus in die Straße verschwunden.
Joy machte sich wieder an die Abrechnung. Dass Mike am Abend nicht kam, enttäuschte sie. Oft hatten sie sich in letzter Zeit nicht gesehen. Irgendwie schien er immer in Eile zu sein, wie auf der Flucht. Aber wovor? Sie seufzte. Für seine Hilfe beim Hochwasser im Juni hatte er kurz seinen Posten verlassen, und dafür ein wildes Donnerwetter bei seinem kommandierenden Offizier erlebt. Jetzt war zwar alles überstanden, aber seiner Karriere hatte die Aktion sicher geschadet. Ob es daran lag? Sie bündelte die Rechnungen sorgfältig und legte sie in die Ladenkasse.
’Schluss für heute!’ Sie würde in ihrer kleinen Wohnung über dem Laden noch eine Tasse Tee trinken und dann mit dem Wagen zu Mrs. O’Brian fahren. Vielleicht konnte sie noch ein wenig behilflich sein.
Ein fröhliches Gesicht erschien plötzlich am Ladenfenster.
„Trish! Was machst du denn hier?“
Trish ein elfjähriges Mädchen mit wildem blondem Wuschelkopf, war die Enkelin von Mrs. O’Brian. „Grandma sagt, ich soll Sie abholen!“ Ihr Anorak reichte fast bis zum Kinn. Die Ohrenschützer ihrer Wollmütze verloren sich im Haarschopf. „Sie meinte, ein Spaziergang über die Wiesen würde ihnen gut tun.“ Das Mädchen strahlte sie an. „Und da hat sie mich ganz allein geschickt. Sie sagt, ich kann das!“
Joy musste lachen „Ja, ich denke du bist jetzt schon erwachsen genug dafür. Aber sind das nicht zwei Meilen?“
„Ja, so was, glaube ich. Nicht weit.“
Von ’weit‚ hatte Joy eine andere Vorstellung, aber sie machte gute Mine, holte ihren warmen Mantel, Mütze, Schal und schloss den Laden ab.
„Los geht’s.“
Die beiden folgten der schmalen Hauptstraße durch den Ort. Alle Läden hatten sich festlich herausgeputzt. Überall hingen Lichterketten und bunte Sterne in den Auslagen. Die Hanging Baskets des Sommers hatte man mit Efeu und Ilex gefüllt. Die Straßenlaternen waren schon hell. Ein Geruch nach Torffeuer lag in der Luft. Joy blieb einen Moment verträumt stehen. Sie liebte den kleinen Ort.
„Nicht trödeln, sonst wird es dunkel, bis wir bei Grandma sind“. Trish hatte recht.
„Ja wir sollten uns ein wenig beeilen.“
Schnell hatten sie die letzten Häuser hinter sich gelassen und kamen hinaus auf die freie Landstraße. Die Luft war frostig. Nahm einem fast den Atem. Joy zog ihren Schal über Mund und Nase.
„Frierst du?“ Trish warf ihr einen neugierigen Blick zu „Mir macht das nichts aus. Du musst öfter mal aus deinem Laden raus, dann wird dir nicht so schnell kalt. Grandma sagt das auch.“
Man redete über sie? „Ach, Trish … du weißt doch: Ich bin ein Bücherwurm und verdiene damit mein Geld.“
„Hm … trotzdem.“
Sie bogen in einen Feldweg ein. Der Boden war hart gefroren und das Eis knisterte leise unter ihren Schritten. Bäume und Hecken, die im Sommer mit ihrem überreichen Laub geglänzt hatten, ragten kahl und dunkel gegen den Himmel. Ein kalter Wind erhob sich.
„Da hinten. Siehst du das Licht? Da müssen wir hin.“ Beide schritten jetzt tüchtig aus. Die Bewegung tat Joy gut. Mrs. O’Brian hatte recht gehabt: So ein Spaziergang über die Winterfelder war herrlich.
Trish plauderte munter weiter über die Schule, ihre Katze, die im Herbst gleich zehn Junge bekommen hatte, über ihren Onkel, der jetzt in Neuseeland lebte, über ihre zwei Brüder, die immer Ärger machten, über Grandma und ihre Eltern, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Sie konnte sich kaum an sie erinnern, war erst drei Jahre alt gewesen, als es passierte. Und da war dann Onkel Mike .
Joys Herz begann unruhig zu pochen. Sie sah Trish sorglos vor sich herlaufen.
„Weiß du, er kommt dieses Jahr nicht zu Weihnachten, sagen sie. Kann nicht … wegen seiner Arbeit oder so. Das ist schade. Ich mag ihn. Er kümmert sich um uns. Wir sind seine Familie, sagt Grandma. Hat die richtige Frau noch nicht gefunden, aber wer will schon einen Soldaten, der nie zu Hause ist. Da würde die Frau aber sehr einsam sein.“
Joy fühlte einen seltsamen Stich.
Trish war stehen geblieben und sah Joy fragend an. „Du würdest das auch nicht wollen. Wer schon?!“ Dann sprang sie wieder davon.
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