Wir spielen und machen Sachen, die uns Freude bereiten. Ich saß oft stundenlang auf einer blumenübersäten Wiese im Sonnenschein und spielte Geige, um mich herum schwirrten Vögel und flügelten Schmetterlinge. Nun, das nur nebenbei.
Doch trotz allem plagte mich die Neugier, wie es dort unten bei den Menschenkindern wohl sein möge.
Darüber wurde ich ganz schwermütig, und der Oberengel Ursula begann, sich Sorgen zu machen. Eines Tages sagte sie zu mir:
„Jeremiah, ich habe mit dem Großen Geist gesprochen, der die Erlaubnis erteilt, deine Sehnsucht und Neugier zu stillen. Du darfst für eine befristete Zeit, deren Dauer du selbst bestimmst, zur Erde zurückkehren.“
Voller Erwartung und Freude trat ich die große Reise an, ausgestattet mit den nötigen Gaben, über die nur Geistwesen verfügen, die mich vor Gefahren schützen und mich zu gegebener Zeit wieder zurückbringen sollten.
Ich verlor jedoch wegen der vielen Raumflugkörper und den Unmengen von Müll, die den Weltenraum unsicher machen, die Orientierung. Deswegen weigern sich mittlerweile die meisten Engel, die Erde zu besuchen, wie sie es eh und je getan hatten, um braven frommen Menschen Trost zu spenden und Erleuchtung und Wegweisung zu erteilen.
So schlug ich anstatt wie vorgesehen an einem friedlichen Ort, einer Kirche, einem Park oder einem Friedhof, etwas unsanft auf dem Pflaster einer belebten Straße auf, durch die Autos dröhnten und rasten, Bahnen bimmelten und Massen von Menschen wimmelten.
Dort befand sich ein großes, recht hässliches rechteckiges Gebäude, in welches all diese Leute strömten, und ich folgte ihnen in der Annahme, dort müsse etwas recht Schönes und Erbauliches geschehen.
Ich war ziemlich verwirrt, denn drinnen gab es nur allerlei Läden, aus denen sie sich Kleider und Schuhe und Schmuck holten und dann in großen Tüten herumtrugen. Als ich vor einem Fenster mit Spielwaren stand, kam eine Gruppe von Mädchen und Jungen heran.
Sie schubsten mich und sagten:
„Was bist du denn für ein Spasti? Woher hast du die Klamotten, vom Müll? Rück mal dein Händie raus“, sagten sie, und ich wusste nicht, was gemeint war. Da haben sie mich geschüttelt und zu Boden geworfen und meine Taschen durchsucht.
„Voll das Opfer!“, riefen sie und ließen von mir ab. Es hat aber niemanden von den Leuten gekümmert.
In einem Laden stand eine lange Schlange von Menschen. Ich ging hinein und stellte mich hinten an. Ich wusste nicht, was passieren würde. Alle warteten, bis sie an einen Tisch mit einer Frau kamen. Dort stellten sie Sachen, die sie in einem Wagen spazieren gefahren hatten, ab, und die Frau nannte Zahlen. Da begriff ich, dass sie Waren kauften und bezahlten.
Da stieß mich ein großer Mann mit einem gewaltigen Bauch von hinten an und sagte:
„Zwerg, was hast du hier verloren. Du hast ja nichts dabei, nimm den Leuten nicht den Platz weg.“
Er hatte ja recht, und ich wusste auch wirklich schon gar nicht mehr, was ich hier wollte.
Ich wollte schon gehen, als ich hörte, wie die Frau am Tisch ein sehr altes Weiblein in grobem Ton anfuhr:
„Nun machen Sie schon, wir können ja nicht ewig warten.“
Mit zitternder Hand versuchte die Alte aus ihrem Täschchen die Münzen zusammenzuklauben, da fielen sie ihr aus der Hand und die Frau hinter dem Tisch wurde fuchsteufelswild.
„Wir sind doch hier kein Altersheim. Mit was für ein Gesocks ich mich rumschlagen muss, das glaubt kein Mensch!“
Da bin ich hingegangen und habe sie ganz ernst angesehen und ihre Hand genommen und gesagt:
„So spricht man nicht mit einer alten Frau, Sie sehen doch, dass sie hilflos ist.“
Da ist sie ganz aus der Haut gefahren und hat geschrien:
„Was willst du denn, du Windei? Scher dich weg, bevor ich dich fortblase.“
Da lachten die Umstehenden und murmelten:
„Ach Gott ja, die Kinder wollen heute auch immer mitreden.“
Schnell bin ich weitergegangen und kam an einen Stand mit bunten Heften.
Da dachte ich mir, da wären vielleicht schöne Bilder von den Menschen mit Häusern und Gärten, und wie sie so lebten, denn ich glaubte nicht, dass alles so wäre auf Erden wie hier in diesem Gebäude.
Aber ich wurde so traurig und habe heftig geweint, als ich ein Bild von unserem lieben Herrn Jesus sah, eine brennende Zigarre im Mund und ein Glas Wein in der Hand und an seiner Seite eine Frau mit entblößtem Oberkörper, und es stand darunter auch etwas geschrieben, aber meine Augen waren voller Tränen.
Ich wandte mich ab und rannte so schnell ich konnte fort. Als erstes stieg ich in diese Bahn, die gerade vorbeikam. Da traf ich dich und dir vertraue ich alles an.
Ich weiß nicht, was du damit anfangen wirst, wahrscheinlich wirst du auch genauso traurig werden wie ich. Aber vielleicht kannst du versuchen, etwas zu ändern.
Jeremiah, der für dich ein gutes Wort im Himmel einlegen wird.“ –
Ich war zutiefst erschüttert und konnte gar nicht schnell genug meine rollenden Tränen aus dem Gesicht wischen. Mich wunderte nur, dass alles auf eine Seite des Papiers gepasst hatte.
Des Schicksals Fügung
Inspiriert von einer Geschichte aus dem
Buch „Madita“ von Astrid Lindgren.
Margot bettet Jockel in eine der großen Zigarrenkisten, die sie von Onkel Friedrich abgestaubt hat. Die Unterlage aus weicher blauer Watte aus Mutters Kosmetikbeutel dient als Matratze. Liebevoll deckt sie ihn mit einem hellbraunen Stückchen Samt zu, das sie aus einem abgelegten Sofakissen geschnitten und gesäumt hat. Margot liebt ihren Jockel unsagbar.
Caroline tut es immer mehr leid, dass sie Margot den Jockel zum 12. Geburtstag geschenkt hat. Sie hat die kleine Holzpuppe selber geschnitzt, die sogar ihre Gliedmaße bewegen kann und ihm die Sachen, die er trägt, geschneidert und gehäkelt: ein spitzes hellblaues Mützchen aus Baumwolle, kariertes Hemd und Sepplhose, weiße Baumwollstrümpfe mit roter Bordüre und braune Schühchen aus einem Stück Leder. Er sieht aus wie ein kleiner lustiger Junge. Und so hat Margot ihn ins Herz geschlossen, und jetzt heißt es: Jockel hier und Jockel da. Jockel sitzt mit am Tisch, Jockel auf Margots Schoß, Jockel in der Schultasche, Jockel im Kino. Margot hat keine Augen mehr für ihre allerbeste Freundin.
Caroline fühlt einen brennenden Schmerz und schließlich einen törichten, abgrundtiefen Hass auf die kleine Holzpuppe.
Eines Tages jedoch, als Margot von ihrer Mutter mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, in die Küche gerufen wird, ist sie mit Jockel ganz allein in der Wohnstube. Der sitzt ihr gegenüber auf dem Sofa, sorgfältig an ein Kissen gebettet, Caroline am Wohnzimmertisch ihm Aug in Aug gegenüber. Caroline blickt Jockel unentwegt an. Es scheint, als bewege er seine Lider, was doch ganz unmöglich ist. Es scheint ihr, als blicke er sie aus den aufgemalten hellblauen Augen höhnisch an. Caroline kocht vor Wut. Sie beugt sich über den Stubentisch, um ihm direkt in das alberne hölzerne Gesicht zu starren.

Ich kann doch nichts dafür
Nun gerät die brennende gelbe Kerze, die im Kerzenhalter aus Murano-Glas auf der bestickten kostbaren Brokattischdecke steht, ins Wanken. Vor Schreck erstarrt sieht Caroline zu, wie sie einen kleinen Bogen zu beschreiben scheint, um eigens auf Jockel zu landen, der unverzüglich Feuer fängt. Caroline glaubt an eine Fügung des Schicksals!
Plötzlich greift das Feuer um sich, die Tischdecke brennt und aus den Sofakissen züngeln die Flammen. Caroline stürzt aus dem Haus und rennt so schnell sie ihre Beine tragen durch den Garten auf die Straße, immer weiter die Landstraße hinauf. Außer Atem kommt sie auf einer kleinen Anhöhe zum Stehen. Erst hier dreht sie sich ganz langsam und zögernd um: Das Haus brennt lichterloh.
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