Aus dem Leben kleiner Leute
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Texte und Bilder ©Dagmar Herrmann
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daherverlag 28237 Bremen 2019
Vorwort
Man stelle sich das Bild vor: An einem öffentlichen Platz mit dörflicher Prägung der ehrwürdigen Hansestadt Bremen sitzt tagtäglich auf einer bereits in die Jahre gekommenen Bank eine alte Frau. Die alte Frau – schlohweißes Haar, hellblaue wache Augen – sitzt wie ihr eigenes Denkmal und betrachtet das Geschehen um sich herum. Nicht wie ein Raubvogel angespannt, der auf Beute lauert, sondern in sich gelassen. Wie eben ein gereifter Mensch beobachtet, den kaum noch etwas wirklich zu überraschen vermag. Und dennoch scheint die alte Frau das Gesehene genauestens zu notieren, als ob sie, in die bescheidene Wohnung zurückgekehrt, ihre Notizen nebst den eigenen Gedanken dazu aus dem Kopf in ein Tagebuch übertragen wolle.
Die alte Frau sieht etwa einen Mantel ohne Knöpfe, der in einer Pfütze liegt, und überlegt sich sogleich, ob der Knopflose möglicherweise einem Zigarillos schmauchenden Taxifahrer gehören könnte, der, unentschlossen darüber, ob ihm geschlossene Knöpfe hinter dem Steuer behindern würden oder eher nicht, dieses Problem einfach auf den nächsten Sommer verschiebt, in dem er wohl weitere Zigarillos rauchen wird. Allerdings ohne Mantel.
Die alte Frau sieht Spatzen Gassenhauer von den Dächern pfeifen, und die Überlegung drängt sich ihr auf, ob diese schamlose Unterstellung den betroffenen Piepmätzchen tatsächlich nicht völlig piepe ist.
Oder die alte Dame schaut einer verbitterten Ehefrau zu, wie sie an einem nahen Gemüsestand grüne Erbsen einkauft. Die Alte gewinnt den Eindruck, daheim würde das Eheweib die Erbsen zählen – die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen –, Speck, Zwiebeln und durchpassierten Fliegenpilz sorgsam hinzufügen, anschließend eine Erbsensuppe köcheln, dass ihrem lieben Ehemann im wahrsten Sinne des Wortes Hören und Sehen vergeht.
All das und noch viel mehr beobachtet die alte Frau und schreibt es in ihr Tagebuch. Und zum guten Schluss auch etwas über sich selbst. Man stelle sich nur jene Gedanken, die überwältigende Flut an Bildern vor ... Nein, braucht man nicht. Man kann, muss diese Bilderflut lesen.
Hans-Dieter Heun, ein Fan.
Inhaltsverzeichnis
Am Straßenrand Am Straßenrand Unschlüssig stehe ich am Fenster, sehe, wie der Wind über den Marktplatz fegt die braun und rotorange eingefärbten Blätter, schon trocken, sich am Rande kräuselnd, fliegen eilig über den Boden und erzeugen ein Geräusch wie prasselnder Regen. Ich verfolge das Blattgestöber, das von dem Bauzaun auf der Straße aufgehalten wird und sich dort staut. Mein Blick geht hinüber zur anderen Straßenseite. Auf dem Bürgersteig steht ein Mann, ich vermute türkischer oder vielleicht auch bulgarischer Herkunft. Er steht mit verschränkten Armen, seine Lederjacke ist leicht geöffnet, krawattenlos, auch das Hemd am Hals weit offen, es ist noch mild für die Jahreszeit. Mit gespreizten Beinen, die Füße fest am Boden, verharrt und beobachtet er mit großem Interesse die Arbeit eines Straßenarbeiters, der Pflastersteine legt, der sich nicht eine Sekunde von seiner Tätigkeit abbringen lässt durch jenen Zuschauer, dem er in seiner gebeugten Haltung auf die Schuhspitzen sehen kann. Der Mann am Straßenrand verfolgt jeden Handgriff des Arbeiters beinahe andächtig, als wolle er von ihm lernen, wie kunstvoll ein Kopfsteinpflaster zusammengefügt wird. Gleichgültig mit stoischer Ruhe setzt der Straßenarbeiter Stein für Stein, er hebt nicht ein einziges Mal den Kopf, um dem beharrlichen Zeugen seiner Arbeit ins Gesicht zu sehen, vielleicht mit ihm ein Wort zu wechseln. Er arbeitet beständig weiter, pflichtbewusst, verlässlich, das Bild eines urwüchsigen deutschen Arbeiters abgebend, einer wie er im Buche steht, unerschütterlich, zuverlässig, pflichtgemäß seine Arbeit verrichtend, geradezu wie die Demonstration des Fleißes gegenüber dem Müßiggänger, der Maulaffen feilhält. Mag sein, das denkt so in seinem Kopf, unter seinem blonden, kurzgeschnittenen Haar, hinter seiner glatten Stirn, während er mit seinen starken sehnigen, braungebrannten Händen Stein um Stein setzt, Fuge um Fuge füllt. Jetzt nimmt er den Hammer und klopft die Pflastersteine fest und fester, nachdrücklich hämmert es, laut, der wuchtige Klang des Hammers hat etwas Beunruhigendes. Der Zuschauer rührt sich nicht vom Fleck, die Haltung unverändert. Mir ist seltsam zumute, ich wende mich ab, trete zurück ins Zimmer. Windböen wirbeln leergefegt der Bürgersteig ein Mann irrt umher. (Ein Haibun, das sein Format überschritten hat.)
Am Stand drehte er Zuckerwatte Am Stand drehte er Zuckerwatte Kleine Jungenstreiche machten die Rotzlöffel aus der Nebenstraße, die jetzt um die Ecke rennende Bande von kurzgeschorenen Morgenlandnachkömmlingen, die noch frisch hinter den Ohren, sich ohne Rücksicht, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, in den Straßen tummelte. Mit ihren dunklen, frech blitzenden Augen kamen sie vorbeigerannt, und er schenkte jedem einen gedrehten Zuckerwattestiel, und das Leuchten dieser glänzenden runden Kinderaugen brachte sein schwaches, nachgiebiges Herz zum Pochen. Die Freude nahm er wie ein Geschenkpaket an sich und drückte es unter die schäbige Jacke, und am Blumenstand, der noch bis spät abends geöffnet ist, kaufte er für die Schneiderin, die in Parterre eine Nähstube betrieb und gleichzeitig das Haus hütete, einen einfachen Strauß Margeriten, von denen er dachte, sie würden gut zu ihrem glatten freundlichen Gesicht passen. An der Imbissbude stand der Taxifahrer und schmauchte sein Zigarillo, und sie grüßten sich verhalten, denn der Georg, der das eigene Taxi seit kurzer Zeit erworben hatte und stolz durch die Straßen der kleinen Stadt steuerte, hatte seitdem einen Dünkel, und er dachte, er verachte seine ziellose Unentschlossenheit, seinen Mangel an Willen, es zu mehr zu bringen als jeden Tag diesen kleinen Stand und dann gelegentlich auf den Märkten und dabei diese lächerliche Figur abzugeben mit schlotternden Hosen und dem mageren Ziegenbärtchen und einer bescheidenen Mansarde, in der er wohnte, nach Georgs Meinung hauste; aber es war blitzeblank und man hätte, wie die Frau Schneiderin immer sagte, vom Fußboden essen können, und niemals kam ein böses Wort über seine Lippen. „So ein Depp, der Anton,“ sagte der Georg und dann warf er den Zigarillostummel in den Gully und riss für eine aufgedonnerte Dame mittleren Alters die Wagentür auf, und Anton pfiff ein Liedchen und dachte an die leuchtenden Augen und an das rundliche schimmernde Gesicht der Schneiderin, die Lieselotte hieß, und er klingelte an ihrer Wohnungstür. Vorbeigegangen ein Mantel ohne Knöpfe lag in der Pfütze (Haiku)
Wenn der Papagei im unteren Stockwerk krächzt und schreit Wenn der Papagei im unteren Stockwerk krächzt und schreit als ginge es um sein Leben. Es geht um sein Leben Vielmalig die Schreie in anders gearteten Käfigen Eingezwängter unhörbar. Weit weg nicht dicht unter dem Fenstersims, an dem die lustigen luftigen behüteten Köpfe der Sommersehnsüchtigen vorbeiflanieren Ein Sonntag wie dieser auch der letzte Obdachlose findet heute eine Bank, seine Beine lang zu strecken. An den Ecken lümmeln sich die Schlingel aus der Nachbarschaft kopfnickend und handzeichengesprächig: Bald ist kiffen erlaubt Lachend! Wir haben bisher auch nicht gefragt und die Omis mit ihrem Rollator unterwegs die Haare sind weiß und der Buckel krumm. Nein, sagen die wackligen Köpfe: Wir gehören nicht zu der Sorte Alter die lustig ist das Rentnerleben behaupten Skipisten bezwingen oder sich in Malle noch mal richtig was gönnen Auch der Hund am strengen Gängelband über den Gehweg gerissen hat keine Wahl treublickend, die Augen empor zu dem Quälgeist und Schinder So ein Sonntag am Morgen: Noch ist alles offen für mich aber alles ist auch so wie sonst
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