Viktor war bereits geschickt abgesessen. Ohne den Blick abzuwenden von dem faszinierenden Schloss, das im blutroten Abendlicht vor ihnen lag, ließ Anna sich vom Rücken des Pferdes direkt in Viktors Arme gleiten.
Die dunkelgrauen Schieferschindeln vieler kleiner Türmchen, Zwischendächer und Bögen schimmerten in den schummrigen letzten Strahlen der Abendsonne. Das Schloss war teilweise aus wuchtigen hellrosa und grauen Natursteinen gebaut, zum anderen Teil im Fachwerkstil. Kein Disney -Schloss oder Neuschwanstein , dennoch atemberaubend schön.
Das Bauwerk erinnerte Anna an die Burg Eltz , die sie als Kind, während einer Klassenfahrt, besichtigt hatte. Nur dieses Schloss hier war größer und noch dazu viel, viel heller. Es überstrahlte den Sonnenuntergang.
Anna zitterten die Knie. Sie wusste nicht, ob es an der abenteuerlichen Anreise zu Pferde oder dem sich ihr bietenden, geradezu berückenden Anblick lag.
»Das ist einfach märchenhaft!«
Dicht an Viktor geschmiegt genoss sie das vor ihr liegende Bild und versuchte, ihre Sinne beisammen zu halten, so beeindruckt war sie.
»Ja, nicht wahr?«, stimmte er zu. »Deshalb hab ich Ariella angewiesen, uns hier absitzen zu lassen. Sie bringt unsere Tasche schon mal vor. So können wir den Aufgang zu Fuß nehmen und die Aussicht aufs Schloss noch ein bisschen genießen.«
Sein Blick glitt zu Annas Füßen. »Allerdings ist dein Schuhwerk nicht gerade für Kopfsteinpflaster geschaffen. Hm.«
Mit gespitzten Lippen tat er so, als müsste er angestrengt darüber nachdenken, wie dieses Problem zu lösen wäre. Dann hob er Anna kurzerhand auf seine Arme und trug sie lachend den Weg hinauf.
Als sie sich näherten, erkannte Anna, dass beinahe aus jedem der zahlreichen Fenster ein warmes Licht drang. Im Schutze des Schlosses sorgte nicht nur die Windstille für geheimnisvolle Ruhe. Anna glaubte, neben Viktors Atem auch das Flüstern der Mauern hören zu können – so, als wollten die sie begrüßen und ihr von den Jahrhunderten ihres Daseins erzählen. – Ein magischer Augenblick. Er wurde noch verstärkt, als Viktor sie vorsichtig absetzte und meinte: »Es mag dich, Anna.«
Lächelnd nahm er sie bei der Hand und führte sie durch einen hohen steinernen Torbogen auf den Schlosshof. Das Eingangstor hingegen bestand aus dunklem Holz. Seine zwei wuchtigen, beeindruckend großen Flügel waren weit geöffnet. Das edle Schnitzwerk in Höhe der ringförmigen goldenen Türklopfer ähnelte ein bisschen der Gravur auf Annas Armreif, den Vitus ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Keine Wachen?«, fragte sie.
»Oh doch, sogar sehr viele. Aber die brauchen nicht hier draußen herumzustehen. Du kennst doch ein paar von ihnen, insbesondere Ketu. Ihre Sinne sind so geschärft, sie bemerken Unregelmäßigkeiten aus weiter Entfernung und sie sind schnell.«
»Ja, ich erinnere mich.«
Drinnen ging für Anna das Staunen weiter. Sie traten in eine große Empfangshalle mit Kassettendecke aus dunklem edlem Holz. An den Wänden steckten brennende Fackeln in Messinghalterungen und tauchten den Raum in ein sonderbares, geheimnisvoll flackerndes Licht. Ihre Schritte hallten auf dem fast weißen, blankpolierten Marmorboden wider. Mit seiner imposanten Höhe und den zahlreichen schmalen hoch aufragenden Fenstern erinnerte Anna die Halle an eine Kathedrale und flößte ihr gehörigen Respekt ein.
Viktor schob sie am Arm weiter, klopfte dann an eine dunkle, wiederum reich beschnitzte Holztür und öffnete sie. Warmes Licht und viele Stimmen strömten ihnen entgegen. Am Ende des Raumes konnte Anna ein Feuer in einem gewaltigen Kamin aus hellem Marmor lodern sehen. Das Knistern und Knacken des Feuers drang, trotz des Stimmengewirrs, bis an ihr Ohr. An der weiß getünchten, mit kunstvollen Stuckarbeiten verzierten Decke funkelten sechs riesige Kronleuchter und mitten im Raum stand eine lange Tafel mit weißem Damast, Tafelsilber, feinstem Porzellan und Kristall – und unendlich vielen Kerzen darauf.
Sie waren alle da, saßen an dem edel gedeckten Tisch und sahen ihnen erfreut entgegen. Alle Fürsten: die Iren, die Norden, Jeomi und seine Söhne, Estra und Isinis nebst Kindern. Aber auch Viktoria und Ketu, Sistra und die übrigen vier Elitewachen, außerdem ein paar Elfen, die Anna nicht kannte.
Vitus strahlte übers ganze Gesicht. »Ah, da seid ihr ja! Herzlich willkommen!«
Mit ausgebreiteten Armen kam er ihnen entgegen. Er roch nach Wald, Tabak, Kaminfeuer und zudem schwach nach schlichter Seife. Dieser ihr bereits vertraute Duft und Viktors wärmende Sonne trugen enorm zu Annas Beruhigung bei, schlug ihr doch das Herz vor Aufregung bis zum Hals.
Ihre Gratulation tat Vitus mit einer lapidaren Handbewegung ab. »Ach danke, aber es ist keine große Leistung, älter zu werden. Das einzig Gute daran sind die Geschenke sowie Familie und Freunde, die zu Besuch kommen.«
… Anna wusste, dass Vitus seine wahren Gefühle zurückhielt, denn er hatte achtzehn Jahre lang keine Feier zu seinem Geburtstag mehr ausgerichtet. Immer war er unterwegs gewesen, um seine Kinder zu schützen. Nie konnte er Freunde zu sich einladen. Selbst die Zwillinge hatten vor ein paar Wochen das erste Mal den königlichen Schlossboden betreten. Diese Geburtstagsfeier war also sozusagen eine Premiere. Mit jeder Faser ihres Herzens nahm sie Vitus’ unbändige Freude darüber wahr. …
Auf das Stichwort »Geschenke« hin überreichten ihm Anna und Viktor die in buntes Papier eingeschlagenen Bücher. Sie freuten sich, als Vitus die Verpackung aufriss und den Inhalt mit glühenden Augen begutachtete.
»Das gibt ein paar wunderbare Stunden in der Bibliothek bei Rotwein oder Brandy und einer schönen dicken Zigarre.«
Er legte die Bücher auf einen kleinen Tisch zu den anderen Geschenken. Sein Blick aus meergrünen Augen wanderte von Viktor zu Anna.
»Vielen Dank, euch beiden.« Er umarmte sie noch einmal. Dann schob er Anna etwas von sich, um sie sorgfältig in Augenschein zu nehmen. »Du siehst bezaubernd aus. Atemberaubend.«
Anna stieg die Röte ins Gesicht und flüsterte rasch ein: »Oh, danke.« Ihr war bekannt, dass Vitus mit falscher Bescheidenheit nichts anfangen konnte.
Viktor lockerte die Situation auf, indem er auffordernd die Arme ausstreckte. »Hey, und was ist mit mir? Ich trage Lederschuh und feinen Zwirn.«
Lachend präsentierte der Vater dem Sohn seine nackten Füße. Als Viktor daraufhin schmollte, erklärte Vitus feierlich: »Das ist das Privileg des Königs und Geburtstagskindes. Jetzt kommt an den Tisch. Das Essen wird gleich aufgetragen. Ich hoffe, du magst Lammnierenragout, Kochfisch und saure Kutteln, Anna?«
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