»Eine Möglichkeit?«
»Na ja, eigentlich verstößt es gegen die elfischen Gesetze, einem Menschen die Schlüssel zu überlassen. Das liegt ja wohl auf der Hand.«
Bis zu diesem Moment hatte Anna sich nie Gedanken darüber gemacht. Überhaupt hatte sie in letzter Zeit wenig über die Elfen nachgedacht. Nach der ganzen Aufregung um Kana und Kaoul hatte sie ihre Neugierde sozusagen auf Eis gelegt, wollte einfach nur mit Viktor zusammen sein. Alles andere erschien ihr zweitrangig. Jetzt aber drängten sich ihr die Fragen regelrecht auf.
»Das liegt also auf der Hand?«, hakte sie nach.
»Klar, die Elfenwelt ist für Menschen sozusagen tabu. Für gewöhnlich möchten Elfen unter sich sein.« Er lachte. »Vitus war seinerzeit wohl eine Ausnahme.«
Weil er kurz verstummte, erkannte sie, dass ihn das Gespräch gedanklich zu seiner ihm unbekannten verstorbenen Mutter getragen hatte, weshalb sie ihm mitfühlend mit dem Handrücken über die Wange strich.
»Menschen sind nicht immer friedlich«, fuhr Viktor ernst fort, »und viele sind gewinnsüchtig. Wenn sie von unserer Welt erführen, würde die kurz über lang von Goldgräbern und Glücksrittern überschwemmt werden.«
»Na ja, an sich gebe ich dir recht. Allerdings sind auch nicht alle Elfen friedliebend, wie wir neulich erst erfahren mussten.«
»Das stimmt natürlich. Allerdings kämpfen wir lieber nur an einer ›Böse-Elfen-Front‹. Schließlich sind die Wachen dafür ausgebildet. Es zusätzlich mit der gesamten Menschheit aufzunehmen, das wäre allerdings so gut wie unmöglich. Gegenüber den Menschen ist die Anzahl der Elfen geradezu verschwindend gering. Deshalb ist es Gesetz, den Menschen die Existenz der Elfen zu verschweigen. Weil Vitus damals selbst dagegen verstoßen hat, hat er die Regeln hierzu ein wenig gelockert. Doch es obliegt nach wie vor seiner alleinigen Erlaubnis, ob Elfen mit Menschen verkehren dürfen. In den anderen Reichen wird es ähnlich gehandhabt. Tja, also werden wir ihn wegen der Schlüssel zur Elfenwelt fragen müssen.«
»Aber du hast ihn doch gar nicht um Erlaubnis gefragt, als du mir von dir erzählt und mich zur Elfenlichtung mitgenommen hast. Ach ja, und was sind das für Schlüssel?«
»Erstens: Ich bin ein halber Mensch. Vergiss das nicht, Anna. Deshalb verschwimmen die Grenzen bei den Regeln und Normen bei mir ein bisschen. Außerdem wusste ich von Anfang an, dass das Geheimnis bei dir sicher ist.«
Er verzog seinen schönen Mund zu einem Schmunzeln. »Bis auf deinen Ausrutscher bei deinem Bruder, doch Jens gehört ja quasi mit dazu. Und zweitens: Die Schlüssel sind mit Codes vergleichbar, verbunden durch Gedanken und Worte. Jeder Eingang hat seinen eigenen. So wie man verschiedene Passwörter und Pin-Nummern für den Computer, Online-Shops oder für Konten und Kredit- oder Scheckkarten braucht.«
»Das klingt ganz schön kompliziert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann und so einer Verantwortung gewachsen bin.«
Viktor schüttelte den Kopf. »Das ist wieder mal typisch für dich. Du bist so ziemlich der schlauste Mensch, den ich kenne, auch wenn deine blöden Lehrer anderer Meinung sind, jedenfalls ein paar davon. Aber du glaubst wieder mal, du kannst das nicht.« Er machte eine Pause und setzte den Blinker, um von der Autobahn abzufahren. »Wieso solltest du es nicht können, wenn Viktoria und ich es können, he? Deine Fähigkeiten sind fast genauso ausgebildet wie unsere, wenn nicht sogar gleich.«
Sie wurde rot, als er sagte, dass er sie für schlau hielt, und atmete tief durch. »Na ja, vielleicht hast du ja recht. Aber du fragst Vitus nicht heute, nicht an seinem Geburtstag, ja?«
»Nein, nicht heute. Doch später werden wir ihn fragen, gemeinsam.«
Es dauerte erheblich länger, zum Schloss zu gelangen, als Anna angenommen hatte. Da reichte es nicht aus, mal eben über einen Bach zu springen. Nein, das war erst der Anfang! Schiere Panik überfiel sie, als Viktor sein schneeweißes Pferd Ariella zu sich rief, sich auf den Rücken des riesenhaften Tieres schwang und sie hinter sich hinaufzog.
Offenbar teilte er Annas Sorge keineswegs, Kleid, Seidenstrümpfe und Schuhe während der Anreise zu ruinieren. Er machte in Allerseelenruhe die kleine Reisetasche an einem seitlich verlaufenden Gurt fest, den Anna bislang gar nicht bemerkt hatte, beugte sich dann tief hinab und flüsterte dem Pferd so leise ins Ohr, dass Anna es gerade noch verstehen konnte:
»Hör gut zu, Ariella. Anna hat Angst um ihre Garderobe. Also reite wie der Teufel, aber reite sanft.«
Danach richtete er sich auf, drehte sich um und musterte Anna mit vergnügt blitzenden Augen, weil sich ihr Kleid weit hochgeschoben hatte und den Blick auf den spitzengesäumten oberen Rand der Seidenstrümpfe freigab. »Oh jaa«, gab er gedehnt von sich, »solche Strümpfe sind eindeutig schöner.«
»Perversling!«
Nachdem sie vergeblich versuchte, das Kleid ein wenig zurechtzuzupfen, wickelte sie sich resigniert fester in Viktors warme Jacke ein. Er lachte amüsiert und hielt Anna dazu an, sich gut festzuhalten. Sie tat aufgeregt, wie ihr geheißen, und klammerte sich mit rasendem Herzen an ihm fest.
»Ogottogott! Ich und reiten! Grundgütiger!«
Anna versteifte sich vor Angst, als sich das Pferd in Bewegung setzte, entspannte sich allerdings bereits nach wenigen Minuten. Ariella schien eher zu gleiten denn zu galoppieren. Es war, als würde das Pferd den Boden kaum berühren, als flögen sie auf ihm dahin. In Viktors dicke Jacke eingehüllt fühlte Anna sich warm und wohlig, trotz ihrer entblößten Beine. Sie kuschelte sich eng an Viktor und genoss in vollen Zügen den kühlen Wind auf ihrem Gesicht.
Sie ritten dem Abendrot entgegen, das sie, stetig näher rückend, zu verschlucken schien. Diese leuchtenden Farben, verbunden mit dem mystischen Dunst der Dämmerung und dem sanften Dahingleiten auf Ariella, versetzten Anna regelrecht in Verzückung. Vor Freude stieß sie Juchzer aus, in die Viktor fröhlich einstimmte.
Allmählich veränderte sich die Landschaft. Die sanften Hügel gingen nach und nach in weite offene Felder und Wiesen über. In der Ferne sah Anna einen See im restlichen Sonnenlicht glitzern.
Nachdem Viktor aufs Neue magische Worte vor sich hin murmelte, die Anna nicht verstand, schwebten sie mit einem Mal an einem breiten Fluss entlang. Ariella schlug einen Bogen und setzte zum Sprung an.
»Himmel, was kommt denn jetzt wieder? Sie kann doch nicht über den Fluss springen!«
Viktor hielt sich nur mit einer Hand an Ariellas Mähne fest und drückte mit der anderen beruhigend Annas Arm, der sich eisern um ihn schlang. Sie kniff die Augen zu und spürte, wie das Tier ganz sacht aufsetzte. Ariella blieb in dem Moment stehen, in welchem Anna die Augen wieder öffnete – und schlagartig stürzte eine weitere neue Welt auf sie ein.
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