Libermann wurde am 8. Mai 1928 im polnischen Szerzerzowie geboren. 14jährig wurde er von den Nationalsozialisten in ein Kinderlager deportiert, bis er schließlich, der Adoption für unwürdig erklärt, nach mehreren anderen KZ-Deportationen in Dachau gezwungenermaßen für die SS spionierte und so den Holocaust überlebte. Nach dem Krieg schloss er sich in Paris international operierenden Schmugglerbanden an, transportierte Medikamente, Gold, Falschgeld und Drogen durch ganz Europa. In kurzer Zeit wurde er zum Kopf einer kriminellen Organisation, die in Paris, Hamburg, Kopenhagen und schließlich auch in Ost-Berlin agierte. Libermann war der Mann fürs Grobe. Er ließ Alkohol, Lebensmittel und Kaffee über die Sektorengrenzen verschieben und organisierte Einbrüche. 23 Mit exklusiven Artikeln versorgte er bereits in den 50er Jahren Mitarbeiter der Staatssicherheit, des Politbüros und des Zentralkomitees. Libermann war begehrt, so begehrt, dass ihn ein Staatssicherheitskommando im Auftrag Frucks bei seiner Flucht aus dem Alt-Moabiter Untersuchungsgefängnis unterstützte. Da saß er seit dem 22. August 1949 ein, verurteilt zu dreieinhalb Jahren Gefängnis, weil er im Auftrag der DDR mit falschen Hundertmarkscheinen handelte. 24
Hans Fruck, zwischenzeitlich zum Stellvertreter von Wolfs HVA aufgestiegen, warb Libermann an, nicht für den Nachrichtendienst, sondern um dringend benötigte Devisen aller Art zu organisieren: bevorzugt West-Mark, Schweizer Franken und US-Dollar. Zu diesem Zweck wurde schließlich F.C. Gerlach eingebunden, gewissermaßen als erste „betriebseigene" Firma der HVA. Schon nach wenigen Jahren setzte das Unternehmen Millionen um, handelte mit allem, was gewinnbringende Aussichten besaß, von Metallen über Lebensmittel, von Industriegütern bis hin zu Schuhen. Auf den europäischen Finanzmärkten galt F. C. Gerlach als seriös und solide, schon bald wurden Niederlassungen in Liechtenstein und der Schweiz gegründet. Libermann war in der DDR unantastbar geworden, er war persona grata, denn Hans Fruck und Markus Wolf bedienten sich vor allem Libermanns glänzender Verbindungen zum israelischen Geheimdienst Mossad, die Libermann seinem engsten Freund, Simon Goldenberg, verdankte.
Die allgemeine nationalsozialistische Hetzjagd auf die jüdische Bevölkerung war immer erbarmungsloser geworden, die meisten Juden standen dem Terror hilflos gegenüber. Nur einigen wenigen Verfolgten gelang es, zudem vielfach gezwungen, sich soweit mit dem NS-Regime so zu arrangieren, dass die akute Lebensgefahr vorerst gebannt war. Zu solchen Männern dürfte wie Libermann auch Simon Goldenberg gezählt haben, auch wenn er den Nationalsozialisten seine Dienste freiwillig angeboten hatte. 1946 hatten sich beide in Paris kennen gelernt, verschoben gemeinsam Waren, tauschten Informationen. Libermann verkaufte in den Osten, nach Ost-Berlin, Goldenberg in den Westen.
Goldenberg kam 1976 in die Bundesrepublik. Er galt außerdem als Kontaktperson gleich mehrerer ost-europäischer Geheimdienste. 25 In einem Dossier des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz heißt es über ihn: „Wie vom Bundesamt für Verfassungsschutz und einem befreundeten Dienst mitgeteilt wurde, kam Simon Goldenberg als staatenloser türkischer Herkunft im Jahre 1921 nach Frankreich. Dort befasste er sich später mit diversen gewinnträchtigen Handelsgeschäften. Nach Unterschlagungen und Scheckbetrügereien flüchtete er 1951 aus Frankreich. Ab 1951 hielt sich Simon Goldenberg kurze Zeit in West-Berlin auf. Im Dezember 1953 zog er aus Ost-Berlin in West-Berlin erneut zu und wurde „(...) 1954 nach unbekannt verzogen abgemeldet." 26
Am 1. Mai 1976 traf Goldenberg im bayerischen Söchtenau ein, im Gästehaus von Josef März. Die Gebrüder März, die seit Anfang der 60er Jahre vor allem Rinder und andere Fleischprodukte aus der DDR zu Niedrigpreisen bezogen, leisteten logistische Aufbauhilfen. 27 So mietete Goldenberg im Haus der März KG Büroräume an und gründete die Firma „Großhandel -Export/Import sowie Industrievertretungen". Goldenberg hatte den bayerischen Fleischgroßhandel ins DDR-Geschäft gebracht, und mit dem Geschäftsvolumen wuchsen auch die privaten Kontakte. Ein ehemaliger Oberst der HVA charakterisierte die Treffen. „Da ging es nur ums Geld. Die Märzens hätten uns auch ihre Großmutter in Zahlung gegeben." 28 Der familiäre Umgang, großzügige Provisionen und gewinnträchtige Perspektiven gefielen auch Hans Fruck, der sich anlässlich eines Empfanges im Hause März „(...) unter falschen Namen an die Tafel begab." 29
Dass Goldenberg für das MfS tätig war, störte die bundesdeutschen Geschäftspartner nicht. Sie beteuerten ihr Unwissen. Als Goldenberg auch im Hause März geschäftlich aktiv wurde, informierte der Bundesnachrichtendienst das bayerische Amt für Verfassungsschutz über seine Erkenntnisse zur Person Goldenberg sowie über acht Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts gegen den Flüchtigen. Das Landesamt bat im „(...) Hinblick auf die Beziehungen des Vorsitzenden der CSU, Herrn Dr. Franz Josef Strauß, zu den Gebr. März (...)" seinen Dienstherrn, den bayerischen Innenminister Alfred Seidl, zu prüfen, ob „(...) weitere Klärungsmaßnahmen durchgeführt werden können." 30 Der antwortete prompt: „(k)eine Schritte gegen G." 31
Lange Zeit sind die Verbindungen des ehemaligen bayerischen Ministerpräsident, Franz Josef Strauß, zu KoKo- und MfS-Mitarbeitern in der bundesdeutschen Öffentlichkeit diskutiert worden. Sie sollten weitaus enger sein als bis zum Zusammenbruch der DDR vermutet wurde, und die Kontakte zu den Brüdern März sollten sich später als Rettung in erdrückender Not erweisen.
Wie Libermann verfügte also auch Goldenberg über zahlreiche Geschäftskontakte in aller Welt. Im Auftrag des MfS gründete er ab Ende der 50er Jahre mehrere Handelsgesellschaften in der Schweiz und Liechtenstein, darunter die deutsch-französische Ex- und Importfirma TRADIMEX. Die in dieser frühen Phase gegründeten MfS-Unternehmen waren die Grundlage für das spätere KoKo-Imperium Schalcks. Das Strickmuster beider war einfach: sie versorgten die MfS-Offiziere und SED-Funktionäre mit allem, was gewünscht, auf den heimischen Märkten aber nicht zu kaufen war. Großzügige Geschenke an bedeutende Persönlichkeiten eröffneten neue Beziehungen, schufen Vertrauen. Derartiger Geschäftssinn brachte neben persönlicher Anerkennung vor allem eins: Abhängigkeitsverhältnisse. Schon bald entwickelten sich zwischen den so Verbundenen „echte Männerfreundschaften", die auch Schalck begeistert haben dürften. Man half sich. So etwa geschehen, als Libermann wegen jener Geldfälschung der Hundertmarkscheine im Gefängnis saß. Er floh über die Schweiz nach Ost-Berlin. Von seinem Freund Goldenberg hatte er hier für den Notfall eine Adresse erhalten, die von Hans Fruck. Der zeigte sich wohlwollend und verschaffte dem Flüchtling eine Wohnung, Geld, ein Auto und eine neue Ehefrau. Helga Scheufler, Tochter eines MfS-Mitarbeiters, wurde auserkoren, Goldenberg zum Staatsbürger der DDR zu machen. Mit der Zeit pflegte auch Schalck persönliche Kontakte zu diesem Kreis. Der Umstand, dass auch Libermann einen Teil seiner Kindheit in Polen verlebte, mag beide noch ein bisschen näher gebracht haben.
Hans Fruck starb im Dezember 1990 und mit ihm „(...) ein echtes nachrichtendienstliches Genie." 32 In über dreißig Jahren hatte er einen der effektivsten Geheimdienste der Welt geschaffen. Bis 1977 war er Stellvertreter von Markus Wolf, dem Chef der HVA. Zeugen erinnern sich daran, dass Fruck den Umsturz „seines" DDR-Regimes seelisch nicht verkraftete. Der einstige sozialistische Kämpfer registrierte voller Enttäuschung, dass Bürgerkomitees und Ermittlungsbehörden sein Lebenswerk binnen weniger Monate enttarnten und auflösten. Der ehemals so mächtige Staatssicherheitsapparat zerbrach und mit ihm Hans Fruck.
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