„Im Herbst 1950 wurde ich mit einigen Sportlern des Widerstandes gegen die Staatsgewalt in Westberlin angeklagt. Nach Beratung mit einem zuständigen Justitiar im Nationalrat der Nationalen Front nahm ich am Prozess teil und wurde aufgrund meines Alters freigesprochen." 14 Schalck wurde von der Westberliner Polizei verhaftet, weil er Wahlpropaganda für die SED gemachte hatte, Plakate geklebt hatte. Die Genossen hatten den robusten Boxer Schalck für diese Einsätze angeworben. Im Gegenzug, quasi als Auszeichnung für jene nicht ungefährlichen Politausflüge über die Sektorengrenze, durfte der parteilose Jugendliche am Parteilehrjahr der SED teilnehmen. "Hier stellte ich bereits meinen ersten Antrag zur Aufnahme als Kandidat der SED, der aufgrund einer Aufnahmesperre für Angestellte zu diesem Zeitpunkt noch nicht berücksichtigt werden konnte." 15
Die Kinder- und Jugendjahre Schalcks dürften sich im wesentlichen tatsächlich so ereignet haben, wie Schalck sich selbst mehrfach, in Nuancen zwar unterschiedlich, erinnerte. Alle Schilderungen verweisen auf einen zentralen Aspekt: aus eigenem Antrieb hatte Schalck die sozialistischen Ideale des Arbeiter- und Bauernstaates für sich verbindlich gemacht und der Partei die Führungsrolle zu dessen Errichtung und Festigung uneingeschränkt zuerkannt. In einem zentralen Punkt seines Lebenslaufes aber tauchen Widersprüche auf.
Es sind Zeitzeugen, Weggefährten Schalcks und ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, die darauf aufmerksam machen: als Alexander Schalck im Herbst 1950 von der Westberliner Polizei kurzzeitig verhaftet wurde, dann deshalb, weil er einträchtigeren Geschäften nachgegangen sein soll, als allein den Lebensunterhalt in einer schwierigen Zeit durch eine solide Berufstätigkeit zu erwerben. Schalck soll Lebensmittel von West nach Ost geschmuggelt haben, mit Zigaretten, Medikamenten und Alkohol einen schwunghaften Handel betrieben haben. Gewiss: private Tausch- und Schmuggelgeschäfte gehörten in dieser Phase des Nachkriegsdeutschlands zwar zum Existenzkampf vieler, in der Version des jungen Schalck jedoch soll der illegale Gütertransfer über die Sektorengrenzen nahezu perfekt organisiert gewesen sein. Tagelange Untersuchungshaft und stundenlange Verhöre durch Mitarbeiter einer Sonderkommission der Alliierten, die den Schwarzhandel zwischen den Besatzungszonen bekämpfen sollten, zeugten davon, so verschiedene Quellen übereinstimmend, dass Schalck in kurzer Zeit einen ansehnlichen Umfang mit seinen Schmuggelgeschäften erzielt haben muss. 16 Die Angst vor einer unsicheren Zukunft soll-
Schalck später auch dazu getrieben haben, den MfS-Verantwortlichen Personen und Strukturen seiner Schmugglerringe preiszugeben. Beeindruckt ob der präzisen, peniblen vor allem aber verlässlichen Angaben Schalcks über den illegalen Handel, wollen die Ost-Ermittler Schalck angeworben haben. In ihrem Auftrag soll er neue Partner und Schmuggelwege entdeckt und sich so in kurzer Zeit als loyaler Denunziant verdient gemacht haben. Diese Kreativität und die Fähigkeit Schalcks, seine Handelspartner zu täuschen, hatten sich danach frühzeitig auch im Ministerium für Staatssicherheit herumgesprochen. 17
Es ist letztlich zweifelhaft, ob der junge Schalck tatsächlich diesen Schmuggelgeschäften nachging. Einige Fakten jedenfalls sprechen für diese Darstellung. Schalck lebte in den Zeiten allgemeiner Not gut, sehr gut sogar, glaubt man den Berichten. 18 Er hatte es kurz nach dem Krieg zu Wohlstand in Form einer beheizten Wohnung, einem gebrauchten Auto, Kleidung und reichhaltigen Nahrungsmitteln gebracht. Er pflegte freundschaftliche Verhältnisse zu seinen Vorgesetzten, die ihn bevorzugt mit nötigen Arbeitsmaterialen ausstatteten, auf die seine Kollegen schon seit Tagen warteten, um ihre Arbeit erledigen zu können. Und er schwelgte mitunter in bescheidenem Luxus, dann nämlich, er in Nachtlokalen und Bars der Westzonen zu alkoholfreudigen Exzessen einlud, die für einige Begünstigte noch heute in bleibender Erinnerung sind. Schalck war begehrt, auch oder gerade bei dem anderen Geschlecht. Von mannhafter Statur und ausgestattet mit einer gesunden Portion Berliner Mutterwitzes, ließ es sich an seiner Seite aushalten. 19 Noch einmal: was von diesen Überlieferungen stimmt, was sich beispielsweise als Legende entpuppt, oder was Zeitzeugen aus der Jugendzeit eines der mächtigsten Männer der DDR an Anekdoten über vierzig Jahre glaubhaft überliefern wollen, ist nur schwerlich zu kontrollieren. Die Darstellungen gewinnen aber gerade deshalb an Bedeutung, weil sie selbst in Details so überraschend übereinstimmen, dass sie bei aller Subjektivität durchaus glaubhaft erscheinen. Auch die späteren Stationen Schalcks im nachrichtendienstlichen Gefüge des Staatsapparates, einer alles umfassenden Kaderpolitik, bedingten nahezu einen frühen Kontakt zum MfS, auch wenn Schalck zu diesem Zeitpunkt kein offiziell geführter MfS-Mitarbeiter war.
Wie auch immer die Darstellungen letztlich korrekt zu bewerten sind, entzieht sich profunder Kenntnisse. Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung jedenfalls betrieb auch der neu gegründete Ost-Staat den Schwarzhandel. Walter Ulbricht hatte diesen Weg der Deviseneinnahmen angeordnet, um in den westlichen Besatzungszonen so dringend benötigte Waren wie Stahl oder Textilien bezahlen zu können. Die „operative Abwicklung" dafür übernahm offiziell die Hauptabteilung „Handelspolitik" im Ministerium für Außenhandel und Innerdeutschen Handel, dahinter aber verbarg sich tatsächlich die Abteilung „U9" des ZK und das Ministerium für Staatssicherheit. 20 Chef der Berliner Verwaltung der Staatssicherheit war Hans Fruck, der spätere Stellvertreter von Markus Wolf. Unter Frucks Leitung und Führung sollte der junge Schalck seine einmalige Machtposition erreichen.
Bisweilen wurde das Bild vermittelt, immer wieder auch von ihm selbst, Schalck sei ein Zögling der DDR-Gesellschaft gewesen, der es auf geradezu geniale Art und Weise verstand, der maroden Staatswirtschaft Devisen um jeden Preis zu verschaffen. Zweifelsfrei verfügte er dabei über eine große praktische Intelligenz, doch Schalck war kein Analytiker. Den Prozess seiner politischen Sozialisation hat er vermutlich gar nicht wahrgenommen. Längere Zeit muss er gerade in seinen Berliner Jugendjahren daran gedacht haben, den Ostteil Berlins zu verlassen und sein Glück beim späteren Klassenfeind zu versuchen. Jedenfalls gehörte er nicht zu den Männern der ersten Stunde, die, wie etwa die Ulbricht-Gruppe, das politische und wirtschaftliche System des sowjetischen Kommunismus installierten. 21 Schalck dachte praktisch, organisierte sein Leben eigenständig und selbstbewusst, eher das eigene Wohl vor Augen, wie viele andere auch.
Weichenstellungen und Freundschaften
F. C. Gerlach, Export-Import, Parkstraße 76-77, Ost-Berlin: so lauteten Name und Anschrift der wohl wichtigsten Schaltstelle der finanziellen Überlebensstrategie ehemaliger SED-Wirtschaftsfunktionäre. Die traditionsreiche Firma betrieb den Außenhandel schon vor dem IL Weltkrieg. Während andere Betriebe dieser Art in der DDR verstaatlicht wurden, blieb F. C. Gerlach als eines von wenigen ausgesuchten Außenhandelsunternehmen privat. Am 2. Juni 1991 brannten Teile des Bürogebäudes, und die Feuerwehr rückte auf das Firmengelände. Mehrere hundert Aktenordner wurden durch den Löscheinsatz gerettet. 22 Vier Wochen später wurde der Geschäftsführer, Michael Wischnewski, verhaftet. Die Ermittler fassten damit einen der geistigen Väter des KoKo-Imperiums, Schalcks Lehrmeister und langjährigen Vertrauten. Michael Wischnewski, alias Hersz Libermann, alias Heinrich Libermann, alias Dr. Gebhardt begann seine Karriere nach dem IL Weltkrieg. Seine Erfahrungen hatte er im kriminellen Milieu gesammelt und war, protegiert von Walter Ulbricht bis zu Erich Honecker, von Markus Wolf bis zu Erich Mielke, zu einer der schillerndsten Gestalten im deutsch-deutschen Filz aufgestiegen.
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