"Was geschah weiter?" drängte Geralt.
"Am nachkommenden Tag schaffte mein Vater sein ganzes Hab und Gut aus der verfluchten Burg. Doch niemand konnte die Rosenhecke am Turm durchbrechen, um Rosalea zu befreien. Sie wuchs so dicht und die Dornen waren so lang, dass sich etliche Soldaten und Diener meines Vaters daran schwer verletzten. Nicht einmal Feuer konnte ihr etwas anhaben. Und als die erste Nacht hereinbrach tauchte da dieses zähnefletschende, blutdürst¬ende Ungeheuer auf. Da wusste jeder was geschehen war: Rosalea war zum Dasein einer Striege verurteilt worden. Eine magische Grenze hielt die Bestie innerhalb der Burgmauern, die mit den Jahren zu verfallen begann. Trotzdem ließ mein Vater eine weitere Mauer aus dornigen Rosen und Brombeeren um die Burg errichten und mahnte jeden, nie einen Fuß dahinter zu setzen. Und einmal jede Woche banden die Soldaten ein Rind, ein Schaf oder eine Ziege an den Burgbrunnen, damit die Striege Rosalea überleben konnte."
"Und ab und an versucht ein unwissender Reisender dort zu übernachten und erwacht in den tödlichen Fänger des Ungeheuers", vollendete der Hexer die Erzählung.
"Kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag traute ich mich ein einziges Mal innerhalb der Burgmauern hinein. Die Sonne stand hoch am Himmel und die Insekten summten über die unzähligen Rosen am Turm. Es war friedlich, übersah man die modernden Knochen, die überall im Hof verstreut lagen. Ich wagte mich nicht in die Innenräume des Hauses, aus Angst dem Ungeheuer zu begegnen. Nach einer Stunde des zitternden Gedenken an meine Schwester bin ich schließlich nach Hengfors zurückgerannt."
"Striegen verlassen nur in der Nacht ihren finsteren Unterschlupf, um sich auf die Suche nach frischem Blut zu begeben. Der Fluch kann gebrochen werden, wenn man verhindert, dass die Striege im Morgengrauen in ihre Grabstätte zurückkehrt."
"Aber das hieße ja, man muss mit ihr eine Nacht verbringen!"
"So ist es", gestand Geralt trocken.
3
Noch bei Tageslicht ritt Geralt von Riva hinauf zu der verfluchten Burg und marschierte suchend durch den mit abgenagten Knochen übersäten Hof. Der hohe Turm war vollends mit einer meterdicken Rosenhecke umschlossen, die auf den angrenzenden Mauern weitergewandert war und fast den gesamten Burgkomplex überwuchert hatte.
Das verfallene Herrenhaus stand wie ein gruseliges Mahnmal und der verwitterte Eingang grüßte ihn mit einem stummen Aufschrei. In seinem Innern fand der Hexer weitere Knochen und Fleischreste, die stinkend vor sich hin moderten. Durch den Staub am Boden zogen sich die bizarren Spuren eines nächtlichen Tanzes von einem klauengewehrten Ungeheuers.
Geralt verließ die Ruine wieder und trat an den Turm. Er untersuchte genau die Rosenhecke, die sich makellos bis unter das Turmdach über ihm ausbreitete. Nichts wies darauf hin, dass jede Nacht ein Ungeheuer den Weg hinab und hinauf nahm. Aber er musste sich vergewissern, dass das Mädchen Rosalea dort oben schlief.
Ihm blieben noch einige Stunden, bis die Sonne untergehen würde. Der Hexer rannte zu einer Steintreppe, die hinauf zu den Mauern führte. Je näher er dem Turm kam umso dichter wucherten die Rosenzweige über den Wehrgang. Mit seinem Stahlschwert bahnte er sich einen Weg nahe genug heran, bis er am verwunschenen Turm ein Fenster unterhalb des Daches ausmachen konnte.
Er entrollte ein Seil, an dessen Ende ein Haken befestigt war. Geralt stand sicher auf den schmalen Zinnen der Mauern und schwang das Seil. Als er genug Schwung geholt hatte, flog der Haken hinauf und verfing sich am Mauerwerk des Fensters. Der Hexer zog mit seinem ganzen Gewicht daran, als es hielt, sprang er hinauf und landete mit den eisenbesetzten Stiefeln an der dornenbesetzten Mauer. Seine kräftigen Arme zogen ihn Schritt für Schritt nach oben, während seine Beine sich durch das Geflecht der Rosen kämpften. Manchmal musste er sich aus dem Gestrüpp heraus kämpfen und viel zu oft drangen die langen Dornen durch das Leder seiner Kleidung und rissen ihm winzige Wunden. Mit jedem neuen Schmerz entfloh ihm ein kurzer Fluch über die verzerrten Lippen. Je höher er jedoch kletterte, umso schmaler wurde der unbarmherzige Rosenmantel, der sich wie ein abwehrender Panzer um den Burgturm gelegt hatte. Schließlich erreichte Geralt den rettenden Fenstersims und ließ sich erschöpft ins Turminnere gleiten. Er hoffte, dass sein kräftezerrender Aufstieg nicht umsonst gewesen war, und er im Innern etwas vorfand, was ihm der Lösung des Fluchs etwas näher brachte.
Er kämpfte sich auf die Beine und zog sich noch etliche abgebrochene Dornen aus den Armen und Hosenbeinen.
Die Sonne stand bereits sehr tief und so fiel wenig Licht durch das einzige Fenster. Der runde Raum beinhaltete nur ein einziges Mobiliar: ein Bett. Am hohen Baldachin hingen halbvermoderte Vorhangfetzen, durch die er ein Mädchen auf den muffigen Kissen ruhen sah.
Der Hexer näherte sich dem Bett, das inmitten des Raumes stand, und schob die Stoffstreifen beiseite, die bei seiner Berührung zu Staub zerfielen. Er blickte auf die schlafende Gestalt eines wunderhübschen blonden Mädchens in einem feingestickten blauen Kleid. Eine goldene Kette ruhte auf ihrem rosigen Dekolleté und nur bei sehr genauem Hinsehen war zu erkennen, wie sich ihr zarter Busen im flachen Atemzug hob und senkte. Geralt hatte die Herzogstochter Rosalea gefunden.
Gegenüber dem Fenster führte eine Treppe hinab in die Finsternis. Als er den Boden genau unter-suchte, stellte er fest, dass seine Schritte die ersten seit fast fünfundzwanzig Jahren waren, die den fingerdicken Staub aufgewirbelt hatten.
Der Hexer rollte das Seil zusammen und setzte sich unterhalb des Fensters auf den Boden. Er verstand nicht ganz, was er hier in der Rosenburg vorfand. Das Mädchen schien keine Striege zu sein, sondern hier die ganze Zeit schlafend zugebracht zu haben. Sie hatte diesen Rosen umwucherten Turm noch nie verlassen. Fluch und des Rätsels Lösung musste eine etwas andere Variante sein. Dass im Burghof ein Ungeheuer hauste, davon zeugten die unzähligen abgenagten Knochen. Der Hexer hatte das Monster riechen und in der Finsternis lauern gespürt. Da unten war etwas. Und Geralt glaubte zudem, dass die Dornenhecke dieses Etwas daran hindern sollte hier herauf zu gelangen.
Bis die Nacht hereinbrach würden dem Hexer noch drei Stunden bleiben, die er dazu nutzte, um zu schlafen. Er holte eines seiner Elixiere aus der Tasche und trank davon. Es sollte ihm bei der Heilung der unzähligen winzigen Dornenwunden helfen. Mit dem Silberschwert in der Hand legte er sich zu Seite und schloss die Augen. Er war auf der Stelle eingeschlafen.
4
Geralt erwachte beim ersten fernen Brüllen eines Ungeheuers. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass es bereits tiefste Nacht war. Geschützt durch die Dunkelheit setzte der Hexer sich auf und griff nach einem weiteren Elixierfläschchen, das er sich bereits vor dem Einschlafen hingestellt hatte. Das Gift tat schmerzvoll seine Wirkung und nur wenige Lidschläge später konnte er in der Dunkelheit sehen. In einem diffusen grauen Licht leuchtete seine Umgebung, nur der schlafende Körper des Mädchens auf dem modrigen Bett gab seine rote Wärme ab.
Geralt erhob sich und starrte aus dem Fenster. Über ihm der Sternenhimmel mit einer schmalen Mondsichel. Unter ihm graue Mauern zwischen dunklen duftenden Rosen und noch finsteren Schatten. Er lauschte und meinte im Herrenhaus Klauen über Stein wetzen zu hören. Minutenlang wartete der Hexer, dass sich das Ungeheuer hervortraute. Minutenlang tat sich gar nichts.
Der Krieger wandte sich dem Bett zu, trat an Rosalea heran. Was sollte er nun tun? Ein Kuss erweckt die schlafende Jungfrau. Geralt beugte sich über die Schlafende und drückte ihr einen zaghaften Kuss auf die Lippen. Es roch intensiv nach Rosen.
"Hätte mich auch gewundert, wenn es geklappt hätte", murrte Geralt, als das Mädchen unverändert weiterschlief.
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