Zu meiner Überraschung ist Lena noch da. Sie fängt zwar immer erst um zehn Uhr an zu arbeiten, aber jetzt ist es schon fast zwölf. „Hi“, sage ich träge und es wäre mir echt lieber, wenn ich jetzt alleine wäre. „Hi!“, grüßt sie gutgelaunt zurück. „Was machst du denn hier?“, frage ich mürrisch und sie sieht von ihrem Kochtopf auf. Mmh, es riecht nach Gemüseeintopf. „Is was?“, fragt sie verdattert zurück. „Hab heut meinen freien Tag, muss dafür am Samstag ran!“ „Nee!“, antworte ich geknickt und setze mich auf einen von unseren Sperrmüllstühlen. Unsere Einrichtung ist tatsächlich eine kunterbunte Mischung aus alten, entsorgten Möbeln, die wir teils vom Flohmarkt, aus Haushaltsauflösungen oder auch auf der Straße aufgelesen haben. Eben, Sperrmüll! Eine alte Kommode, ein altes, rustikales Küchenbüffet, dass von einer längst verstorbenen Nachbarin stammt, alles liebevoll von Lena und mir aufgearbeitet und frisch gestrichen, im Shabbylook. Dazu haben wir uns noch einige moderne weiße Hängeschränke gekauft, klar, von einem SB-Möbelmarkt. Die alte Couch haben wir von unserem Vormieter übernommen, genau wie den klobigen Tisch, den Lena mit bunten Mosaiksteinchen beklebt hat. Selbst der kleine Küchentisch und die vier dazugehörigen Stühle, jeder in einer anderen Form und Farbe, haben wir vom Sperrmüll gerettet. Mich hat das nie gestört, im Gegenteil, unsere Wohnung hat einen ganz besonderen Charme dadurch, ist gemütlich und richtig liebevoll gestaltet und dekoriert. Ich schließe meine Augen. „Mäxchen?“ Lena kommt zu mir und setzt sich neben mich. „Was ist los? Ist jemand gestorben?“, fragt sie besorgt nach, ich schüttle meinen Kopf und berichte ihr zermürbt, was gestern Abend und heute Morgen alles geschehen ist. „Uff!“, macht sie und atmet schwer aus, während sie wieder die Suppe umrührt. „Tut mir echt leid, dass ich das jetzt sage, aber ich habe es dir gleich gesagt, dass mit dem was nicht stimmt!“ Muss das jetzt sein? Muss sie eigentlich immer recht haben? „Ja, du hattest recht! Bist du nun zufrieden?“, knalle ich ihr genervt hin. „So war das doch nicht gemeint, T`schuldige“, murmelt sie betreten. „Vergiss ihn, ist echt besser so! Ist doch auch noch nichts Weiteres passiert, zwischen euch und immerhin kanntet ihr euch doch erst seit kurzem“, faselt sie weiter und ich sehe sie warnend an. „Was hat das denn damit zu tun? Gar nichts! Zwischen mir und Nathaniel hat es sofort gefunkt! Vielleicht verstehst du das nicht, aber es ist so! Ich weiß, dass wir zusammengehören!“, schnauze ich zurück. „Ich, ich“, ja was, ich? Es durchfährt mich plötzlich wie ein Blitz, als mir klar wird, dass ich ihn wirklich liebe. Ja, ich liebe ihn und ich weiß, dass er ebenso für mich empfindet! Vielleicht gibt es Liebe auf den ersten Blick wirklich? Ich schnaufe tief durch. „Ich liebe ihn“, sage ich voller Überzeugung und sie starrt mich geradezu entsetzt an. „Ooooh Mäxchen, nein!“, kommt es gequält von ihr und sie lässt sich erneut auf den Stuhl fallen. „Nee, oder?“ „Doch! Ich weiß es, Lena, ich spüre es am ganzen Leib! Nathaniel und ich, wir sind wie füreinander bestimmt und ich kann ihn nicht einfach so vergessen“, erwidere ich nickend und tief betrübt. „Ja, aber anscheinend ist er da anderer Meinung“, sagt sie seufzend. Und wieder hat sie recht. „Was willst du jetzt tun?“, fragt sie mich vorsichtig. Keine Ahnung! „Weiß ich nicht“, antworte ich genervt, „aber ich werde, ich kann, ihn nicht einfach so aufgeben!“, raune ich entschieden und stehe auf. „Wo gehst du hin?“ „In mein Zimmer?! Wenn`s genehm ist?“, zische ich sie an. Ich will jetzt einfach nur meine Ruhe und vergrabe mich für den Rest des Tages.
Ich sitze schon seit Stunden auf meinem Bett und grüble vor mich hin. Male mir eine Zukunft, zusammen mit Nathaniel aus und dann wieder eine, ohne ihn. Vielleicht sollte ich ihn doch lieber abschreiben, vergessen, werde ich ihn jedenfalls nicht können. Seufzend lasse ich mich nach hinten fallen, umarme schwermütig mein Kopfkissen und sehe mich mal wieder einsam und allein in meiner Wohnung sitzen, umgeben von imaginären Katzen, die nur darauf warten, dass sie mich endlich fressen können. Da ist es wieder, liegt riesengroß und unüberwindbar vor mir, das Jammertal! Es klopft leise und Lena kommt mit einer Tasse dampfendem Tee und ein paar belegten Broten herein. „Hey“, sagt sie leise, „darf ich?“ Natürlich darf sie! Ich nicke und bin ehrlich froh, dass ich sie habe. Wieder einmal! Lena setzt sich neben mich und hält mir vorsichtig den Teller hin. „Guck mal, Bierschinken, mit Gürkchen drauf“, sagt sie liebevoll und ich lache kurz. „Danke“, raune ich, rapple mich hoch und nehme mir ein Wurstbrot. Eigentlich habe ich keinen Appetit, aber nach dem ersten Bissen spüre ich doch, wie sich mein hungriger Magen freut. Ich trinke den Pfefferminztee dazu und langsam geht es mir besser. Was so ein Bierschinkenbrot doch ausmacht, wenn es so liebevoll zubereitet wurde. „Weißt du was?“, fragt sie mich, während sie mir beim Essen Gesellschaft leistet, „wie wäre es, wenn wir beide morgen einen draufmachen?“ Oh nee! Denke ich gefrustet, doch sie setzt sich schon in Position. „Wenn du möchtest, könnten wir in diesen gemischten Club gehen, weißt schon, wo Frauen auch reindürfen?“, meint sie und sieht mich freudig an. Sie hat mich da schon mal hingeschleppt, ist eigentlich ein ganz netter Treff für Schwule und Lesben, aber ich stehe da nicht so drauf. Die Typen, die sich dort tummeln, sind mir ein wenig zu schwul und man sieht es ihnen schon auf hundert Metern Entfernung an. Entweder sind sie grell geschminkt, mehr als die Frauen, die dort verkehren oder sie sind gekleidet wie diese Typen von Village People! Nicht jeder schwule Mann steht auf sowas, ich jedenfalls nicht. Bin ich zu konservativ? Wahrscheinlich! Schließlich komme ich vom Land und mein bäuerliches Elternhaus ist stockkatholisch dazu! Hat wohl doch auf mich abgefärbt, irgendwie kommt man wohl doch nicht aus seiner Haut heraus. Ich weiß, dass sie es nur gut meint, aber darauf habe ich nun echt keinen Bock! „Sei mir nicht böse, Lenchen, aber eher nicht“, antworte ich deshalb. „Mann, Max! Willst du dich jetzt wieder hier eingraben und wochenlang Trübsal blasen?“, erwidert sie verständnislos. „Du musst dich ablenken, Herrgott nochmal! Reiß dir einen auf, morgen und lass die Sau raus!“, rät sie mir und stößt mich anspornend an. Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht, aber wenn schon, dann in einem anderen Club! Ich könnte mal wieder in unsere alte Stammdisco gehen, in der ich mit Mario früher fast jedes Wochenende abgetanzt habe. Unsere? Ich seufze leise und Lena sieht mich schief an. „Du denkst jetzt nicht wirklich, an Mario?“, kommt es tatsächlich über ihre Lippen. Woher weiß sie sowas nur immer? Kann sie Gedanken lesen? „Nee“, grummle ich und schiebe mir den letzten Bissen in den Mund. Lena verdreht ihre Augen. „Mäxchen, du bist echt eine harte Nuss! Mann o Mann, was soll ich nur mit dir machen?!“, sagt sie seufzend. „Und?“, fragt sie dann auffordernd. „Nee, Lena, echt nicht. Ist echt lieb gemeint, von dir, aber das ist irgendwie nicht meine Location, verstehst du?“, versuche ich ihr zu vermitteln. „Warum? Ein ganzer Stall voll heißer, süßer und scharfer Jungs! Was ist daran auszusetzen?“, kontert sie und ich weiß jetzt schon, dass ich verliere! Oh Mann, dann werde ich wohl den morgigen Abend zusammen mit meiner Heterofreundin in diesem Schuppen abhängen und sie wird die ganze Zeit über versuchen, mich zu verkuppeln!
*
Ich fühle mich hundeelend, seit Maxim fort ist. In meinem Kopf dröhnt und hämmert es pausenlos und ich schlucke zwei Paracetamol Tabletten. Hoffentlich habe ich mir nichts eingefangen! Eine Erkältung kann ich jetzt echt nicht brauchen, denn mein Terminkalender fürs Wochenende ist rappelvoll! Wie mir die Agentur mitteilte, bin ich mal wieder voll ausgebucht. Ich bin wohl das, was man als bestes Pferd im Stall bezeichnet und zurzeit so begehrt bei den Kunden, dass sie Schlange stehen, um sich mit mir zu verabreden. Das sagt mir Fred, er leitet die Agentur, auch immer wieder und meine Provision ist dadurch auch entschieden gestiegen. Kann sein, dass das daran liegt, weil ich so gut wie nie, nein sage. Auch nicht zu meinen Kunden. Ganz gleich, wie abgefahren ihre Vorlieben und Wünsche auch sein mögen, ich habe schon fast alles mitgemacht. Sex auf einem Friedhof, wollte mal einer, weil es ihn anmachte, dass ich mich dabei totstellte, oder verschiedene Rollenspiele, angefangen von harmlosen Schüler/Direktor-Sexspielchen, bis hin zur echten Hardcore SM Session und ich habe sogar mal bei einer schwarzen Messe, mit anschließender Orgie als Sexsklave, hergehalten. Wahrscheinlich verdient er sich eine goldene Nase an mir und in letzter Zeit macht er mir sogar hin und wieder kleine, aber exklusive, Geschenke. Mal zwei Karten für ein Konzert von meiner englischen Lieblingsband, er weiß, dass ich auf die stehe und vielleicht hat er auch damit gerechnet, dass ich mit ihm hingehe, aber Pech gehabt, ich fange nichts mit meinem Chef an und war stattdessen mit Alex dort und vor kurzem, eine hübsche und ziemlich teure Armbanduhr. Er sagte, dass ich es als kleine Sonderzahlung sehen soll und genauso halte ich es auch. Außerdem wäre Fred der letzte, mit dem ich etwas anfangen würde, er ist absolut nicht mein Typ und manchmal graust es mir sogar leicht vor ihm. Er sieht irgendwie aus, wie einer von diesen Siebziger Jahre Zuhältertypen, mit mehreren Goldkettchen um den Hals und pomadeverklebten, strähnigen, schwarzen Haaren. Mann, irgendwer sollte ihn vielleicht mal daraufhin weisen, dass wir mittlerweile im einundzwanzigsten Jahrhundert leben und Saturday Night Fever längst passé ist! Ok, hilft nichts, ich werde jetzt erstmal einkaufen gehen, danach nehme ich ein heißes Bad und verziehe mich für den restlichen Tag mit einer Kanne Tee auf die Couch. Alex wird sich mit einer Brotzeit zufriedengeben müssen oder ich bestelle uns einfach irgendwas. Nachdem ich wieder zu Hause bin, räume ich schnell noch auf, dann lege ich mich für eine halbe Stunde in die Wanne und entspanne in einem Erkältungsbad. Zwangsläufig muss ich dabei an Maxim denken, unentwegt! Ich war so furchtbar gemein zu ihm, dass es mir selbst körperlich wehtut. Wie konnte ich ihm das nur antun? Wie er mich angesehen hat! So voller Schmerz und so tief enttäuscht! Und doch weiß ich, dass es besser so ist, für ihn. Das Eduard dafür herhalten musste, ist mir einfach so eingefallen, gerade noch! Ich war wirklich schon drauf und dran, nachzugeben, doch dann hat sich Gott sei Dank, mein Gehirn wieder eingeschaltet. Was hätte ich sonst sagen sollen? Die Wahrheit? Nämlich, dass ich nichts weiter als eine Nutte bin? Nein, er darf das nie erfahren, ich würde mich in Grund und Boden schämen vor ihm! Ich schäme mich zutiefst dafür, was ich mache und doch bleibt mir keine andere Wahl! Ich bin, was ich bin und das wollte ich mir und ihm, ersparen! Besser er hasst mich, denn verachten, wird er mich nun so oder so. Später liege ich in einer warmen Decke gehüllt vor dem Fernseher, als Alex nach Hause kommt. Wie immer räumt er zuerst seine Schultasche auf, bevor er ins Wohnzimmer kommt und mich fragend ansieht. „Bist du krank?“, fragt er und sieht mich ablehnend an. „Weiß nicht, mir geht es nicht so gut“, antworte ich und hoffe wieder mal vergebens, dass er so was wie Mitgefühl oder Verständnis, zeigt. „Dann geh in dein Zimmer!“, schnauzt er mich an und wedelt mit seiner Hand, als wolle er böse Geister vertreiben. Ich nicke nur und wieder bin ich kurz davor, zu heulen. „Alex, ich kann dir heute nichts zu essen machen, ich kann einfach nicht. Können wir was bestellen?“, erwidere ich völlig erledigt. „Ok, chinesisch“, ist alles, was er antwortet und verzieht sich einfach. Ich wünsche mir doch nur, dass er einmal, nur ein einziges Mal, fragt, wie es mir geht, was ich empfinde oder ob ich irgendetwas brauche. Seufzend raffe ich mich auf und bestelle etwas beim Chinesen.
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