John hatte seinen Herrn schon in jedem Zustand der Welt erlebt, aber noch nie war Lord Wellington in Ohnmacht gefallen. Ähnlich wie Trommler Meadows bei Lord Fitzroy Somerset, überprüfte er zuerst sorgfältig, ob sich unter den Fetzen der Feldjacke nicht doch eine üble Sache verbarg. Als er außer unzähligen blauen Flecken, Kratzern, Schrammen und blutigen Schürfwunden nichts Beunruhigendes finden konnte, wuchtete er sich den schweren Körper über die Schulter, schleifte ihn drei Stockwerke höher bis ins Turmzimmer, ließ ihn aufs Bett fallen und humpelte dann zuerst in den Stall, um sich des halbtoten Kopenhagen anzunehmen und schließlich zu Sir James McGrigors Hospital, um einen Arzt zu besorgen. Durch das Ende der Kampfhandlungen war das große Gebäude völlig überfüllt. Nach den hoffnungslosen und verzweifelten Fällen der ersten Tage, tauchten nun Leoparden mit weniger schwerwiegenden Wunden auf, die die Feldscher bereits an der Front provisorisch zusammengeflickt hatten und die nun vernünftig behandelt werden mußten. Mit der Neuigkeit über den Sieg gegen Soult und die Quasi-Vernichtung der französischen Spanienarmee war die deprimierte Stimmung sogar aus dem Hospital verschwunden, obwohl die alliierten Verluste sich über zehn Tage Kampfhandlungen hinweg auf etwas mehr als 7000 Mann beliefen. Im Vergleich zu Marschall Soults Liste war die von Lord Wellington allerdings kurz.
In dem langen, niedrigen Steinbau schien es keine Luft mehr zu geben. Nach den grauenvollen Regenstürmen und Gewittern, die während der Schlachten in den Pyrenäen die Adler und die Leoparden heimgesucht hatten, war der Morgen des 4. August 1813 sommerlich heiß und sonnig. Das hölzerne Eingangstor stand weit offen, um die unangenehmen Gerüche aus dem Lazarett zu vertreiben. Doch damit drängten gleichzeitig Hitze und Fliegenschwärme hinein. Die Sanitäter hatten mit Kampferessig getränkte Schwämme an den Querbalken des Dachgestühls aufgehängt und Büschel aus Lorbeerzweigen, um die Fliegen und Insekten zu vertreiben. Im Gras, hinter dem Gebäude saßen diejenigen Leoparden, deren Verletzungen nicht sonderlich schwerwiegend waren. Manche warteten noch auf einen Arzt oder Feldscher, andere hatte man bereits behandelt. Immer wieder brachten Ochsenkarren Verwundete fort. Man quartierte sie irgendwo in der Umgebung ein, damit sie sich auskurieren konnten. Viele hatten Platz in den großen Lazarettzelten gefunden, die Lord Wellington für Sir James McGrigor während des letzten Winters besorgt hatte. Es ähnelte einer neuen, schneeweißen Stadt am Fuße der Anhöhe, auf der Lesaca selbst sich befand. John Dunn bahnte sich seinen Weg durch ein paar kleine Gruppen bandagierter Leoparden, die im Gras saßen und trotz ihres persönlichen Mißgeschicks mit kräftigem roten Landwein den Sieg über die Adler feierten. Die Küste war nahe, die Männer wurden durch die großen Transportschiffe der britischen Marine versorgt. Es fehlte ihnen an nichts: Verpflegung, Wein und Brandy waren überreich vorhanden.
Der Sergeant fand Lady Lennox und Dr. Hume auf einer kleinen Holzbank in der Sonne unter einem Obstbaum. Jeder hielt eine Tasse Tee in der Hand. Sie schienen sich ein wenig von ihrer anstrengenden Arbeit auszuruhen. Als Sarah Johns gewahr wurde, wurde ihr Gesichtsausdruck plötzlich unruhig und besorgt. Seit Jamie Dullmores Rückkehr waren die letzten Nachrichten, die sie von Wellington hatte, die, daß er immer noch zusammen mit Hill hinter den Franzosen herjagte. Zwei Brigaden der Zweiten Division hatten den Bidassoa nach Frankreich hinein überschritten. Ihr kleiner Bruder, Lord March, war gesund und munter. Sie hatte es von Oberst Fitzgerald erfahren, der eine von Hills Brigaden im Gefecht bei Dona Maria befehligt hatte und dort verwundet worden war. Sie hatte Fitzgerald einen Knochenbruch zusammengeflickt. Viele der Offiziere hatten gebrochene Knochen. Sie waren im schwierigen Gelände der Pyrenäen mit ihren Pferden gestürzt.
Dunn schenkte Dr. Lennox ein warmes Lächeln und nickte ihr aufmunternd zu: „Er ist gerade nach Hause gekommen, Mylady ... zwar in einem erbarmungswürdigen Zustand und total zerschlagen, aber unverletzt!“
Die junge Frau atmete erleichtert auf. Ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Sie hatte inzwischen von den Adjutanten, Sir James Dullmore und vielen verwundeten Offizieren eine genaue Schilderung der Kämpfe der letzten zehn Tage erhalten. Es war eine verwirrende, blutige Sache gewesen. Die Leoparden hatten jeden Quadratinch der Pyrenäen und Navarras fanatisch verteidigt, die Adler ohne Gnade in Stücke geschlagen und wieder nach Frankreich vertrieben.
„Vielleicht kommen Sie aber trotzdem mit und sehen sich unseren General einmal an. Er ist mir einfach ohnmächtig in die Arme gesunken, voller Prellungen, blauer Flecke, Schürfwunden und Gott weiß was ... Und er ist heiß vom Fieber!“
„Geh nur, Sarah! Ich kümmere mich um deine Patienten!“ Dr. Hume nahm Lady Lennox die Teetasse aus der Hand.
Gemeinsam mit Sergeant Dunn stieg die junge Frau in den dritten Stock des Wehrturms hinauf. Der alte Mann schleppte eine große Schüssel mit warmem Wasser. Eine Stunde später hatten sie Wellington mit einiger Mühe überredet, sich von den Reitstiefeln und der zerfetzten Feldjacke zu trennen, den schlimmsten Schmutz der Berge abzuwaschen und sich dann wieder brav und fügsam in sein sauberes, weiches Bett zu begeben und auszuschlafen. Im großen Kessel über dem Kamin von Johns Küche köchelte eine Gemüsesuppe vor sich hin. Das Hauptquartier, das eigentlich immer einem Bienenschwarm glich, war totenstill. Fitz, Campbell und Antonio rührten sich schon seit zwei Tagen nicht aus ihren Zimmern. Jeder hielt sich genüsslich an seiner Bettdecke fest und wartete faul darauf, bis John oder der kleine Meadows mit einem gefüllten Tablett auftauchten. Nach der siegreichen Schlacht in den Pyrenäen war nun die größte Sorge der jungen Herren Offiziere darauf gerichtet, zu schlafen und sich von Sergeant Dunn stopfen zu lassen, wie die Weihnachtsgänse: Gemüsesüppchen, heiße Milch mit Honig, süßer Milchreis mit Äpfeln; alles was ihre völlig aufgebrauchten Kräfte wieder zurückbringen konnte ...
Lady Lennox ließ sich am Küchentisch nieder. John schenkte ihr eine große Tasse heißen Kaffe ein und schöpfte eine Portion leckerer Gemüsesuppe in einen Teller. „Jetzt sind sie alle endlich wieder zuhause, Mylady! Ich hab mir noch nie solche Sorgen um unsere jungen Herren und Sir Arthur gemacht. Früher kamen sie immer gemeinsam zurück, wenn die Schlacht zu Ende war und die Dunkelheit eine Verfolgung des Feindes unmöglich machte. Aber dieses Mal“, nachdenklich sah er die Capitaine-Ferraris-Karte an der Wand an, „es ist eine verwirrende Ecke der Welt! Ein paar von meinen alten Freunden aus den Regimentern und Will Howard haben mir erzählt, was in den letzten zehn Tagen passiert ist. Ich kenne die Version von Lord Somerset, die von Sir Colin, die von Don Antonio und die von Robin ... Ich hab irgendwie gar nichts begriffen!“
Sarah ließ es sich schmecken. Immer wenn die Leoparden nach Blut und Ehre schrien, war sie so vollauf beschäftigt, daß sie sich ihren Magen nicht füllen konnte. Während die Kanonen und der Lärm der Kämpfe in die Berge gedrungen waren, hatte sie das Hospital immer nur verlassen, um drei oder vier Stunden erschöpft auf ihr Bett zu sinken und ein bißchen zu schlafen. Die Gemüsesuppe war ihre erste warme Mahlzeit, seit die Kämpfe am Paß von Roncesvalles den Auftakt zur Schlacht gegen Soult gegeben hatten. Sie schmeckte phantastisch. John hatte dicke Karotten, Kartoffeln, Steckrüben und Lauch hineingeschnitten, am Hühnerfleisch nicht gespart und zu guter Letzt noch sämtliche Kräuter Navarras dazu geworfen. Und dann hatte der alte Mann Brot gebacken! Es war noch warm und ganz frisch. Sehr undamenhaft brach sie es in kleine Stücke und warf es in ihren Teller: „Ich hab inzwischen auch so ziemlich alles gehört und kann mir keinen Reim darauf machen, was die Leoparden und ihr Oberleopard mit unseren französischen Freunden angestellt haben. Warten wir doch einfach ab, welche Version Arthur uns auftischen wird, wenn er aus den Federn kommt. Er sieht aus, als ob die Heilige Inquisition ihn verhört hätte! Er ist völlig überanstrengt. Darum hat er auch Fieber und ich bin mir sicher, er wird in dieser Nacht einen Alptraum um den anderen haben und Schüttelfrost und weiß der Himmel was noch ... Aber in ein paar Tagen legt sich das alles wieder.“
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