Somerset stellte sein halbtotes Pferd einfach in den Stall, neben dem Wehrturm. Er sattelte nicht einmal ab. Er sank nur neben dem Braunen ins Stroh und schlief sofort ein. Erst kurz vor sechs Uhr am Abend, Tommy Meadows wollte die zurückgebliebenen Pferde des Hauptquartiers füttern, denn der alte Dunn fühlte sich immer noch elend, fiel auf, daß ein Tier zuviel da war. Der Trommler des 33. Regiments fand den schlafenden Somerset im Stroh. Er hatte Marys kleinen Sohn Patrick dabei, denn seine Mutter war noch bei Lady Lennox im Lazarett. Tommy war schon lange bei den Soldaten: Zuerst schickte er das Kind fort. Vielleicht war Sir Arthurs Adjutant ja verletzt! Der Kleine brauchte schlimme Sachen nicht unbedingt mitanzusehen: „Paddy, lauf schnell zu Onkel John! Lord Somerset ist zurückgekommen!“, bat er den Rotschopf. Als der Bursche aus dem Stall verschwunden war, drehte Meadows den Offizier vorsichtig auf den Rücken. Er sah kein Blut, also war es wohl nur die Anstrengung!
„Sir, ich bin’s, Tommy! Wachen Sie auf! Ich bringe Sie ins Haus, damit Sie sich ausruhen können!“
Somerset rappelte sich mühsam hoch: „Wir haben die Adler geschlagen! Drei Mal haben wir’s ihnen gezeigt!“
„Dem Himmel sei Dank!“, entfuhr es Meadows. Er hatte wie alle anderen unter der Ungewißheit gelitten, und die schrecklichen Gerüchte waren einfach unerträglich. Er half Wellingtons Adjutanten auf die Beine und zurück ins Hauptquartier, wo er ihn Sergeant Dunns Fürsorge anvertraute. Dann rannte er wie ein Wilder durchs Dorf zum Lazarett. Außer den Chirurgen des Medizinischen Stabes gab es keine Offiziere mehr im Ort. Sie waren alle an der Front. Er wollte Sir James McGrigor Bescheid sagen und Lady Sarah und Miss Mary. Ein paar Sorgen weniger würden allen gut tun.
Lord Fitzroy Somersets Eintreffen befreite ganz Lesaca von den schlimmsten Ängsten. Zumindest wußte nun jeder, daß die schrecklichen Gerüchte, die man ihnen zugetragen hatte, falsch waren: Zwei Tage nach der Rückkehr von Wellingtons jüngstem Adjutanten verstummten plötzlich die Kanonen und kein Lärm ferner Kämpfe drang mehr – vom Wind getragen – in die Berge hinauf. Jeder vermutete, daß das letzte große Zusammentreffen zwischen den Leoparden und den Adlern stattgefunden hatte. Wer gewonnen, wer verloren hatte! Es war noch Rätselraten, doch aller Wahrscheinlichkeit war es Englands Feldmarschall und nicht der Herzog von Dalmatien, der die Ebene vor Pamplona gerade als Sieger verließ.
Sie hatten Fitz ins Bett stecken müssen, so zerschlagen und kaputt war der Offizier gewesen. Doch in seinem Enthusiasmus und jugendlichen Überschwang hatte er ihnen zwischen zwei Löffeln heißer Suppe und zwei Bissen Brot geradezu begeistert alles erzählt, was er wußte. Die französischen Verluste im Verlauf der drei ersten Zusammenstöße waren verheerend gewesen.
Als Nächste tauchten Campbell und Don Antonio in Lesaca auf. Sie waren im gleichen erbarmungswürdigen Zustand wie Somerset, doch sie hatten das zehntägige Ringen in den Pyrenäen aus anderen Perspektiven miterlebt: Der Eine war bei Picton gewesen, als der Waliser General Foys überlebende Adler in völliger Auflösung über den Paß von Roncesvalles zurück nach Frankreich getrieben hatte. Der andere hatte bei Sir Lowry Cole gestanden, nachdem die Vierte Divison einen riesigen, französischen Konvoi vom Maya-Paß abgeschnitten und bis zum letzten Mann zerstört hatte. Auch die zweite große Schlacht vor Pamplona, bei Sorauren, war ein überwältigender Sieg für Wellington gewesen! Soult hatte die Grenze nach Spanien am 25. Juli mit mehr als 65.000 Mann überschritten. Zehn Tage später konnte er nur noch 45.000 überlebende Adler nach Hause führen: Wellington und Hill hatten die Division Maucune vollständig zerstört. Dann hatten sie General Clausel und Reille so vernichtend geschlagen, daß beide nur noch panisch wegliefen. Campbells letzte Information über den Iren und Sir Rowland war es, daß sie gemeinsam mit der Sechsten, der Siebten und der Zweiten Division die Adler vor sich her, über Dona Maria, auf den Bidassoa zutrieben. Das war am 1. August gewesen.
Dann kehrte Oberstleutnant Seward mit seinen Kompanien des 33. Regiments nach Lesaca zurück. Sie hatten sich am 2. August bei Echalar gemeinsam mit der Leichten Division, Teilen der Siebten Divison und Byngs Brigade gegen General Reille geschlagen. Wellington war bei ihnen gewesen, er hatte die Franzosen an der rechten Flanke ausmanövriert, ihr Zentrum frontal in den Berg getrieben und zerstört und die Überreste dann über die Grenze vertrieben. Zeitweilig hatten britische Truppen auf französischem Boden gestanden. Gewissenhaft verschwieg Rob vor Lady Sarah, daß Sir Arthur an diesem nebligen Morgen beinahe seinem Schöpfer begegnet wäre, als er alleine zwischen die Scharfschützenschleier des 2. Legère geraten war und nur noch das rasche und beherzte Eingreifen einer halben Kompanie des 33. Regiments dem Oberleoparden die Haut rettete. Leutnant Fitzherbert hatte sich dabei einen kräftigen Schlag mit einem französischen Gewehrkolben eingefangen und ein paar Zähne aufs Schlachtfeld gespuckt, Will Howard humpelte mit den restlichen Kompanien und einem Streifschuß am Oberschenkel auf Lesaca zu. Trotz des furchtbaren Zusammenstoßes auf der Straße nach Sarre und St. Pé beklagte das 33. Regiment lediglich einen verwundeten Offizier: Oberst Dullmore hatte sich bei einem spektakulären Sturz mit seinem Andalusier das Schlüsselbein gebrochen. Er schleppte sich, voll mit grünen und blauen Flecken und laut fluchend, ein paar Stunden nach Robin Seward in sein Quartier. Das Schlüsselbein war eine ungefährliche, aber sehr schmerzhafte Angelegenheit. John Hume regelte alles mittels starker Sanitäter und martialischen Drohgebärden seinem unwilligen Patienten gegenüber. Dann verbannte er den Kommandeur der 33. Infanterie, wie zuvor schon Wellingtons Adjutanten, für eine lange, erholsame Woche in sein Bett.
Am nächsten Morgen quälte sich dann die nächste einsame Gestalt mit einem zu Tode erschöpften Pferd nach Lesaca. Der Fuchshengst hatte eine lange, blutige Schramme am Hals und eine weitere quer über der Brust. Seine Beine waren aufgeschürft. Er lahmte erbärmlich. Seinem Reiter ging es nicht besser, denn er hatte das Tier fast 20 Meilen weit durch unwegsames Gelände führen müssen. Obwohl Lord Wellington wie durch ein Wunder keine Verletzungen davongetragen hatte, konnte er sich nur mit großer Mühe auf den Beinen halten. Die dunkelblaue Feldjacke war völlig zerfetzt und bräunlich verfärbt: In den Bergen war es unvermeidlich, mit dem Pferd immer wieder schwer zu stürzen, wenn man feindlichem Feuer ausweichen mußte wie ein Kaninchen dem Jäger. Arthur hatte in den letzten zehn Tagen sein Quantum an Stürzen hinter sich gebracht. Er hatte nicht geschlafen und kaum gegessen: Er war immer überall gewesen und das fast gleichzeitig und mitten im schlimmsten feindlichen Feuer. Und er war nicht nur körperlich am Ende: Die Schlacht um die Pyrenäen war auf den ersten Blick und für Außenstehende eine verworrene und komplizierte Angelegenheit gewesen, auf den zweiten Blick allerdings hatte es sich um eine sehr logische und sorgfältig durchdachte Unternehmung gehandelt. Die Franzosen flochten ihre großen Strategien, wie feine Paradezaumzeuge aus allerbestem Leder. Man konnte sie gut dazu verwenden, um vor dem Invalidendom eine Truppenrevue abzureiten, und sie waren sehr hübsch anzusehen. Doch wenn ein Riemen brach, wurde plötzlich der ganze Zaum nutzlos. Arthur hatte seine große Strategie zusammengeknüpft wie einen rohen Ochsensaum: Stabile, feste Stricke! Wenn einer der Stricke riß, dann machte man einen großen, häßlichen Knoten und die Sache war repariert und alles lief weiter. Doch es kostete viel Kraft und Findigkeit, den Knoten fest und an der richtigen Stelle zu schlingen. Englands Feldmarschall war geistig vollkommen ausgelaugt. In dem Augenblick, in dem er den letzten Adler grob über die Grenze gejagt und festgestellt hatte, daß Spanien für den Augenblick vom Einfluß des Usurpators freigekämpft war, hatte er mit einem Schlag aufgehört zu denken. Den Weg vom Bidassoa nach Lesaca war er in einem Zustand vollkommener innerer Leere zurückgeritten und gegangen. Er hatte nur noch, wie ein Automat einen Fuß vor den Anderen gesetzt, ohne zu denken, ohne zu empfinden, ohne irgendwelche tieferen Gefühle zu verspüren: Kein Stolz des Siegers, keine Depression über den Tod so vieler guter Männer, keine Zufriedenheit über seine eigene militärische Leistung, keine hilflose Wut auf den Krieg und das Blutvergießen. Er hatte nicht einmal seine körperliche Erschöpfung gespürt, oder seinen Hunger oder die Schmerzen, die seine zerschlagenen Knochen ihm bereiteten. Nachdem er Soult besiegt hatte, kannte seine leere Hülle nur ein Ziel: Sie wollte zurück nach Lesaca! Sie wollte zurück zu Sarah! Er wäre, wenn er es nicht auf zwei Beinen geschafft hätte, sogar auf allen Vieren gekrochen – immer nur vorwärts und Richtung Westen. In einer Art Reflex sattelte er seinen Fuchs ab und verschloß die Stalltüre. Zwar hatte der Offizier sich bei seinen Stürzen nichts gebrochen, aber so gut wie jeden Knochen verstaucht und sein Rücken war eine große, offene und brennende Schürfwunde. Nachdem er sein Ziel erreicht hatte, verwandelte der Automat sich mit einem Mal wieder in einen Menschen: Ihm war vor Hunger schwarz vor Augen. Jede einzelne Faser, jeder Knochen, jeder Muskel bereitete ihm erbärmliche Schmerzen. Seine Knie waren weich wie Butter, seine Augen fielen ihm beim Gehen fast zu. Beim Gedanken an das schreckliche Blutvergießen der letzten zehn Tage liefen ihm eisige Schauer den Rücken hinunter. Wie in einem bösen Traum tauchten vor seinem inneren Auge verstümmelte Leiber, abgerissene Körperteile, schreiende Verletzte, sich gegenseitig totschlagende Soldaten für den Bruchteil einer Sekunde auf, nur um sofort wieder zu verschwinden und dann von neuem aufzutauchen. Irgendwie gelang es ihm noch, vom Stall bis in John Dunns Küche zu stolpern. Dort bat er seinen verschreckten Sergeanten mit letzter Kraft, sich um Kopenhagen zu kümmern. Dann fiel er ihm bewußtlos in die Arme.
Читать дальше