Mit der Zeit gewöhnte sich mein neues Leben an mich und die Erinnerungen an Perth entfernten sich ganz allmählich. Ich begann mich wohlzufühlen.
Daniele fehlte mir anfänglich sehr. Aber ich durfte einfach keinen Gedanken mehr an ihn verschwenden – nachdem, was inzwischen vorgefallen war.
Ausgerechnet Lilly! Das hätte er mir nicht antun dürfen.
Meine Geschwister befanden sich mittlerweile im letzten Schuljahr und waren in Sachen kreativer Zukunftsplanung nicht zu übertreffen. Ich hatte gehofft, dass Tim sich auf jeden Fall für einen Aufenthalt in Europa entscheiden würde, wurde aber nur mit einer Urlaubsandrohung belohnt. Wir drei waren schon immer sehr unterschiedlich gewesen, was unsere gegenseitige Zuneigung nicht schmälerte, uns aber Grenzen setzte.
Jeden Montag flog mein Onkel nach Antwerpen oder London, wohin ich ihn ein paar Mal begleiten durfte. Lieber blieb ich allerdings am See. Vor allem, nachdem sie mir das Angebot gemacht hatten, einige architektonische Besonderheiten zu überdenken. Im Haus konnte ich mich frei bewegen, wenn auch ihre Privatbereiche absolut tabu waren.
Obwohl das Grundstück einsam und abgelegen lag, fühlte ich mich dort sicher. Das Gelände wurde durch ein ungewöhnlich modernes Alarmsystem überwacht und außerdem war da noch Sean, Jonahs Collie. Im Notfall konnte ich auch zu einer Waffe aus Patricks Sammlung greifen. Das durfte er allerdings auf keinen Fall wissen, denn ich hatte nur zufällig beobachtet, wie er den Waffenschrank verschloss.
Ich fühlte mich bei und mit ihnen sehr wohl, obgleich sie ungewöhnlich zurückgezogen lebten. Außer den geschäftlichen Reisen mieden sie jeden sozialen Kontakt. Allerdings war ich mir bei Jonah nicht ganz sicher oder vielleicht konnte ich mir auch nur nicht vorstellen, dass ein interessanter Mann, mit ausgeprägtem Beschützerinstinkt, so ganz ohne femininen Reiz auskommen sollte. Außerdem hatte ich ihn in der Münchener Innenstadt, im Lehel, in Begleitung aus einem Restaurant kommen sehen. Die Frau war auffällig und attraktiv, ihm sichtlich zugetan, wenn auch deutlich älter.
Nie wurde also jemand eingeladen, niemand kam sie besuchen und auch der Reinigungsservice hatte die Auflage das Personal ständig zu wechseln. Die Vorsichtsmaßnahmen waren schon fast paranoid und meine Verwunderung darüber wurde als schlichte Neugierde abgetan. Nur ein einziges Zimmer war stets verschlossen. Es lag im oberen Stockwerk und hatte einst meiner Tante Sarah gehört. In meiner Anwesenheit war es bisher nie geöffnet worden. Auch sprach man zu keiner Zeit über sie oder erwähnte ihren Namen.
Obgleich ich sehr klein gewesen war, konnte ich mich noch an sie erinnern, und wenn ich die Augen schloss, fast ihre Nähe spüren. Sie war liebevoll und geduldig mit mir umgegangen und kümmerte sich fast mehr um mich, als um Jonah. Knapp fünf Jahre älter als ich, bestand sein damaliges Hauptanliegen darin seinem Vater zu gefallen. Das alles konnte ich damals natürlich noch nicht begreifen, sondern war nur glücklich, Sarah neben mir zu wissen.
Jonah kam ich erst näher, als wir viel später, ich war etwa zehn Jahre alt, einen Sommer gemeinsam mit seinen Großeltern verbrachten. Patrick hatte mich ausdrücklich eingeladen. Warum, weiß ich nicht mehr. Endlich hatte ich wieder jemanden, der nur für mich da war. Völlig angstfrei ließ ich mich auf jedes Abenteuer mit ihm ein. Sechs Wochen lang erforschten wir die Natur, bauten Baumhäuser, steckten Geheimwege ab, dachten uns Geschichten aus, stellten Fallen auf, brachten Mutproben hinter uns und erfanden den Opferplatz.
Plötzlich dann eines Tages, viel zu früh, kam Patrick wieder nach Hause zurück und unsere Ferien nahmen ein jähes Ende. Mein Onkel wirkte damals sehr alt, ruhelos und leer auf mich. Das, was ich von ihm sah, entsprach nicht meinem Fantasiebild, gemalt aus Kindheitserinnerungen. Ich bemerkte wohl, dass er mich damals kaum beachtete, er schien mich gar zu meiden.
Sarah war nicht dabei. Sarah würde nie wieder dabei sein. Sarah lebte nicht mehr, schon lange nicht.
Man hatte sich nie wirklich erklären können, was mit ihr geschehen war. Es muss sich kurz nach meiner endgültigen Abreise nach Australien, damals war ich vier Jahre alt, ereignet haben. Man fand nur ihren Bademantel am Seeufer und musste daraufhin annehmen, dass sie ertrunken sei.
In den warmen Monaten hatte meine Tante es sich zur Angewohnheit gemacht, früh morgens mit den ersten Sonnenstrahlen in den See einzutauchen. Sie liebte diesen Moment, die Stille und das dunkle, kühlende Grün des Wassers. Als erfahrene Schwimmerin wusste sie die Gefahren genau einzuschätzen und dennoch forderte sie sich jeden Morgen aufs Neue heraus.
Ihr Verschwinden wurde erst am Abend festgestellt, da mein Onkel und mein Cousin das Haus ebenfalls früh verlassen hatten. Die Wasserpolizei bemühte sich trotz der Dunkelheit, konnte aber die eigentliche Suche mit den Tauchern erst am nächsten Morgen einleiten. Die Suche verlief ohne weitere Funde und so auch die kommenden Monate. Sie war also bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ihr schöner, toter Körper tauchte nie wieder auf.
Dieser unvorhersehbare Tod überschattete das Leben derer, die sie geliebt hatten. Schwer zu erklären, zu begreifen und zu akzeptieren.
Er hinterließ eine nicht endende Traurigkeit, die nur mit der Zeit an Intensität verlor.
Kapitel 5 Das Haus am See I
Schatten begannen meinem Leben erneut das Licht zu rauben, der Albtraum war wieder triumphal in mein Schlafzimmer eingezogen. Immer wieder der gleiche Schmerz, die gleiche Angst und Hoffnungslosigkeit, der gleiche Traum, die Hände klebrig und voller Blut.
Seitdem ich in München lebte, musste ich ihn nachts wieder und immer öfter durchleben, ohne für mich ersichtlichen Auslöser oder Grund. Es gab einfach keine einleuchtende Erklärung.
Aber jetzt, heute, an diesem sonnigen Morgen wollte und konnte ich keine Überlegungen mehr über die vergangene Nacht anstellen, wollte mich nur auf die kommenden beiden Tage freuen. Ich stand noch immer barfuß auf meiner Terrasse und genoss den Ausblick über die Dächer der Innenstadt.
Immer wieder hatte ich „mein geliebtes Wochenende am See” wegen anstehender Prüfungen verschieben müssen, aber heute würde nichts dazwischen kommen. Zurück in der Wohnung griff ich ganz automatisch zum Telefonhörer und wählte.
„Emma hier, schön Deine Stimme zu hören, bis gleich!“
„Vielen Dank für ihre Antwort, das Gerät …“
Der fast schon antike Anrufbeantworter meines Onkels gab mir immer die gleiche Antwort. Schon seit Jahren hatte dieser einen „Rund-um-die-Uhr-Job“ inne, blinkte getreu Aufmerksamkeit heischend grün vor sich hin und war von ihm persönlich besprochen worden. Das passte so gar nicht zu seiner gestrengen Anwaltsaura, wunderte mich und vergnügte ihn. Patrick nahm nur ab, wenn er wusste, wer auf der anderen Seite sprach und selbst dann nicht immer. Jetzt nahm er nicht ab, wie er so oft nicht abnahm.
Ich rief ihn manchmal einfach nur an, um seine Stimme zu hören, - und um das Band vollzuquatschen. Das wunderte ihn, vergnügte aber mich.
Ich war noch ein wenig unruhig, weil ich schlecht geschlafen hatte. Ungeduldig sah ich dem Wiedersehen mit Patrick und Jonah entgegen. Ins Herz geschlossen hatte ich sie beide, so fest. Schnell zog ich mir nach der Dusche etwas über, packte meine Sachen und hüpfte die vielen Treppen zu meinem Wagen hinunter.
Die Autobahn zum Starnberger See war faktisch wie leer gefegt, außer mir war kaum jemand so früh unterwegs. Die Natur zeigte sich wohlgestimmt und das fröhliche Flimmern und Flüstern der Blätter im Wind beruhigte mich, je näher ich meinem Ziel kam. Die Sonne streichelte sanft wärmend meine Hände und ich ließ meine Gedanken frei. Wettete zwischen mir und mir, welcher davon zuerst ankommen würde. Mit meiner Vermutung lag ich richtig und somit war mein Vorsprung, vor mir selbst, nicht mehr einzuholen. Gewinnen ist ein herrliches, Herrschen ein mächtiges und Macht ein göttliches Gefühl.
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