Mein Vater hingegen hatte wenig Zeit sich zu kümmern und offen gesagt kümmerte ihn das alles reichlich wenig. Für ihn war es wesentlich und ausschlaggebend eine Familie zu haben, und Unstimmigkeiten waren keine Probleme, sondern Würze. Einen männlichen Erben hatte er auch aufzuweisen und somit würde der Name, die Familie weiter Bestand haben.
Seine Arbeit war seine ganze Leidenschaft und er ging vollkommen in ihr auf. Nur dann und wann - ließ er von ihr ab. Um Alltagsflucht zu betreiben, einfach so, spontan, wenn auch leider nur sehr sporadisch. Wer ihm in diesem seltenen Moment über den Weg lief, war chancenlos mit von der Partie. Nachtwanderung bei Neumond, Cross-Golf im Weinberg, Ballonfahrt über Perth, zu allem und zu jedem "Ja" sagen, Krabbenwettessen, Beach Kricket, Mitternachtspicknick mit Lagerfeuer, Kinotriathlon, Kamelritt am Strand … Da ich nie genau wusste, wann es soweit war, trieb ich mich gerne in seiner Nähe herum. „Flüchten“ mit meinem Vater konnte nämlich ganz schön schön sein.
Tim hatte eine, von der Natur bedingte, besondere Beziehung zu seiner Zwillingsschwester und war ein ausgesprochen zurückhaltender, in sich ruhender Junge. Nur reizen durfte man ihn nicht, denn dann kam seine ungeheuer aggressive Veranlagung zum Vorschein. Zur Enthüllung dieser, musste man allerdings einen gewissen Aufwand betreiben und sich dann allerdings am besten verstecken.
Lilly, als Gegenstück, gefiel es zu gefallen und pflegte keine Distanzen. Sie verfügte über eine ausgeprägte emotionale Intelligenz, welche sie vorzüglich zur Manipulation anderer einsetzte. Wir beide unternahmen nur selten etwas zu zweit. Unsere Ausflüge glichen dann allerdings auch eher einem Wettstreit, als einem gemeinsamen Abenteuer und wir beendeten sie gerne schmutzig, sowie hier und da lädiert.
Geradezu eingebrannt hat sich die Erinnerung an unsere letzte Mutprobe; dem Ersteigen eines schräg gewachsenen Baumes, welcher weit über ein munteres Bachbett ragte. Infolge eines Unwetters halb entwurzelt und brüchig, fristete er sein Dasein, in dem er sich immer mehr in Richtung Wasser neigte. Lilly stieg zuerst nach oben, den Wipfel fest im Auge. Ich folgte, hielt mich weiter rechts und brach sofort mit einem gewaltigen Ast ins Wasser. Zu Hause angekommen wurde ich, nass und mit blauen Flecken, für mein Benehmen gerügt, während Lilly, vor Tapferkeit glänzend und total trocken, Bewunderung erntete.
Nicht nur deswegen, aber vielleicht auch weil ich den entspannten Umgang mit meinem Cousin Jonah gewohnt war, fühlte ich mich eher zu Tim hingezogen. Wir beide verbrachten gerne und viel Zeit draußen, ohne zu reden, nur um zu beobachten. Tim entwickelte mit den Jahren ein wahres „Auge“, zeichnete, malte und fotografierte. Während ich mich, außer der Ästhetik, gerne der Konstruktion widmete, wie z. B. ein Baumhaus mit Waldmöbeln zu bauen.
Mit der Zeit wuchsen wir dann doch alle zusammen und jeder suchte sich den Platz, der ihm am besten passte. Ein leicht pendelndes Gleichgewicht hatte sich gefunden.
Der Besucherstrom auf unserem Gut floss ohne Unterbrechung. Ob nun Freunde, Angestellte, Käufer, Lieferanten, Künstler oder Reisende, alle kamen gerne und wieder. Meine Eltern liebten diesen Trubel, der sie mit Energie zu versorgen schien. Und wer dann doch den Wunsch hegte, gelegentlich einmal auszubrechen, fand in der Gegend rund um Perth nahezu unerschöpfliche Möglichkeiten.
All das machte mein Leben abwechslungsreich und anregend. Aber nichts und niemand konnte die tiefe Zuneigung, die ich von Sarah erhalten hatte, ersetzen. Manchmal träumte ich sogar von ihr und nur dann war ich fast glücklich.
Dass sie nicht mehr lebte, erfuhr ich nicht unmittelbar nach ihrem Tode, sondern erst viel später. Eines Morgens, während ihres täglichen Schwimmtrainings, soll sie im Starnberger See ertrunken sein. Ein tragischer Unfall. Sie nie wieder sehen zu können verunsicherte mich sehr und ich beschloss, nie wieder von ganzem Herzen zu empfinden.
Diese innere Überzeugung verteidigte ich lange erfolgreich und mit Resistenz. Das in der Liebe aufregende Wechselspiel von Melancholie und Euphorie fand in mir keinen Partner.
Daniele kannte ich da noch nicht, aber mit ihm sollte sich alles für mich ändern.
Mit einer Leichtigkeit setzte er sich über meine Vorsicht hinweg, rannte meine Klippen hinauf und Schranken hinunter. Er versetzte mich in einen, für mich exotischen, unkontrollierbaren Gefühlsstatus, den ich erst näher kennenlernen musste. Als ich gelernt hatte besser damit umzugehen, wurde mir dennoch schnell klar, dass sich eine gewisse Abhängigkeit eingeschlichen hatte.
Meine Geschwister Tim und Lilly teilten sich ihre große Liebe zu diesem Land und ich, Emma, liebte nur Daniele.
„Es gibt nur noch zwei Zeiten für dich“, meinte Tim, „m.D. oder o.D.“
Mit Daniele oder ohne Daniele. War er nicht da, fehlte mir mehr als die Hälfte, nur in seiner Anwesenheit fühlte ich mich ausgefüllt. Mein vorheriges Leben trat in den Hintergrund und ich sah meine Gegenwart und Zukunft nur mit ihm. Ich war mir so sicher und riskierte, Menschen dafür vor den Kopf zu stoßen.
Mein Vater beurteilte diese Situation ganz genau und daher auch seine Intention, mich zum Studium nach Deutschland zu schicken. Es sollte nur für ein Jahr sein.
„Was sind denn schon zwei Semester mein Schatz“, meinte mein Vater. „Patrick und Jonah freuen sich sehr auf dich. Wir haben doch immer schon darüber gesprochen.“
Ich versuchte mich herauszuwinden, aber in diesem Falle blieb er unempfindlich. Nicht wegen Daniele oder dessen Familie, sondern aufgrund der Tatsache, dass ich mich verändert hatte - weg von der Eigenständigkeit. Er wollte verhindern, dass ich meine Persönlichkeit auflöste, mich zu sehr anpasste.
Er wollte mir helfen.
Das ging nun wirklich schwer in meinen Kopf.
Ich konnte meinen Vater nicht verstehen und wollte dies auch nicht.
Seine Argumentation traf meinen Kopf hart, prallte aber ab. Ehrlich gesagt nahm ich ihm die Beschreibung meines neuen „Seins“ übel und war beleidigt - fast schon aufgebracht.
Gegen die Entscheidung meines Vaters konnte ich allerdings nichts mehr tun, da er meinen Onkel in München bereits informiert hatte. Sehr geschickt!
Aber, - ich konnte ihm im Gegenzug ein Schnippchen schlagen. Ja, das konnte ich! Ich beschloss, mit Daniele eine Alternativstrategie auszuarbeiten. Auch er sollte nach Europa reisen, nach Florenz.
Geheim, geheim.
Sein dunkelblondes Haar war immer leicht zerzaust, was auf eine gewisse Dynamik schließen ließ. Seine Augen waren hell und blau, was ihm Frische verlieh. Sein Körper verströmte Lebenskraft im Überfluss, seine Bewegungen aber waren behutsam, fast vorsichtig. Sein Blick stand niemals still, fragte neugierig. Die energisch geschwungenen, nach oben gerichteten Mundwinkel verliehen seinem Gesicht einen stets lächelnden Ausdruck.
Daniele!
Er war der Sohn unserer Nachbarn, italienischer und zugleich zweifelhafter Herkunft. Sie waren ausgesprochen wohlsituiert und vergrößerten ihr Gut kontinuierlich. Natürlich hatten sie meinem Vater auch etliche Angebote gemacht, welche er immer und bestimmt ablehnte. „So viel Geld kann auch der cleverste Geschäftsmann nicht mit Wein verdienen“, meinte mein Vater und so hatten alle bezüglich der Herkunft des Geldes eine Vermutung.
Als ich etwa 14 Jahre alt war, kauften seine Eltern das Nachbargut auf. Zwei Jahre lang verhinderten die großen Entfernungen jedes auch nur zufällige Treffen. Unsere Familien duldeten sich, wollten aber nicht über eine unvermeidbare Bekanntschaft hinausgehen.
Zur High-School wurden wir beide auf ein renommiertes College in Perth geschickt, wobei wir diese Gemeinsamkeit erst feststellten, als wir uns - auf dem Weg dorthin - im Bus zum ersten Male wirklich trafen.
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