Jetzt war es endgültig genug, fand Lena, und machte Anstalten aufzustehen, wurde jedoch von Jens daran gehindert, indem er sie am Arm festhielt. »Halt, halt, Schwesterlein, du bleibst schön hier und hörst weiter zu, wie Papa es dir gesagt hat. Und weil du so bockig bist, ist es wohl am besten, wenn Vitus dir ab jetzt alles Weitere erklärt.« Er grinste wissend. »Der steht nämlich schon mit Viktor unten vorm Haus.«
Wie auf Kommando stand Anna auf, warf sich das lange goldblonde Haar über die Schulter und legte wortlos die Würfel auf den Tisch. Endlich sah sie Lena mit ihren hellblauen Augen ins Gesicht. Ganz traurig, fiel es Lena auf. Als es an der Haustür läutete, stürmte Anna hinaus. Lena wurde das Gefühl nicht los, dass ihre Schwester regelrecht flüchtete. …
Tatsächlich waren es Viktor und Vitus gewesen, die geklingelt hatten. Bei der Erinnerung daran, wie die beiden ins Wohnzimmer gekommen waren, kniff Lena gequält die Augen zu.
Insbesondere Vitus hatte sich nicht lange mit Höflichkeitsfloskeln aufgehalten, sondern nach einer knappen Begrüßung direkt mit ihr gesprochen. Ganz freundlich. – In ihrem Kopf! Ohne seine Lippen zu bewegen!
Noch dazu hatte Viktor sie bei der Hand genommen. Ihr war sofort wohlig warm geworden, gerade so, als würde die Sonne in ihrem Herzen scheinen. Mitten in ihr drin! Diese innere Sonnenwärme hatte sie seltsamerweise beruhigt. Im gleichen Moment war ihr überdeutlich klargeworden, dass alles, wirklich alles stimmte, was da an fantastischen Dingen erzählt worden war. Es schien verrückt, aber sie glaubte all das Unglaubliche. – Fast!
Okay, es gab also Elfen. Wesen mit außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten. Wesen aus einer anderen Welt, die direkt neben der ihren existierte. Wesen ohne spitze Ohren oder Flügel, aber mit dem Talent, die Gedanken anderer sehen und diese beeinflussen zu können. Und die anscheinend noch ganz andere paranormale Kräfte besaßen. Gut, gut, man könnte ja mal so tun, als wäre das akzeptabel.
Aber Anna und Jens? Wieso konnten die beiden auch in den Geist von anderen eintauchen und sich sogar auf diese Weise miteinander verständigen?
Theresa hatte gemeint, dass es eventuell an ihrem verstorbenem Vater, also Lenas Opa, liegen könnte. Vitus wäre wohl noch dabei, Erkundigungen darüber einzuholen. Doch das war Lena erst einmal völlig egal. Für sie ergab sich vorrangig nur die eine Frage: Warum besaß sie denn keine solch besonderen und aufregenden Gaben?
An sich widersprach es vollkommen ihrem Naturell, sich so aufzuführen. Noch nie im Leben war Lena derart missgünstig gewesen. Jetzt jedoch fühlte sie sich ausgegrenzt und minderwertig, obwohl ihr der gesunde Menschenverstand sagte, dass das Blödsinn war.
… Nachdem Vitus’ seine »Gedankenattacken« auf ihren oder besser in ihrem Kopf beendet hatte, und auch Viktor seine »sonnige Spezialbehandlung«, hörte sich Lena noch für ein Weilchen die weiteren Erklärungen ihrer Familie an. Kurz darauf stand sie allerdings wortlos auf und verschwand in ihrem Zimmer. Sie wollte einfach nur noch weg. Weg von diesen unfassbaren Dingen. Anna kam ihr zwar hinterher, um nochmals mit ihr zu reden. Doch sie drehte der Schwester den Rücken zu mit der Bitte, sie in Ruhe zu lassen, weil sie etwas Zeit bräuchte.
Das tat ihre Schwester. Die Weihnachtsferien gaben ihr die Gelegenheit, die nächsten Tage bei Viktor zu Hause oder bei Vitus auf dem Schloss zu verbringen. Wo nun genau, das interessierte Lena derzeit einen feuchten Dreck.
Anna war jedenfalls nicht mehr da. Und sie, was machte sie? Die Lena, die sich sonst für so tough hielt? Sie hatte einzig und allein im Sinn, so zu tun, als wäre nichts geschehen und alles ganz normal. Sie mied Eltern wie Bruder am Morgen danach, ging zur Arbeit, bediente die Kunden im Friseursalon wie immer freundlich und zuvorkommend und wurde nach Feierabend von Marius abgeholt. …
Ja, und hier schloss sich der Kreis.
Lena seufzte, um Kummer und Zorn zu unterdrücken, was nicht gelang. Sie war wirklich stinksauer, doch eigentlich mehr auf sich selbst. Das erkannte sie nun, nachdem sie das Ganze noch einmal hatte Revue passieren lassen.
Anna und Jens konnten schließlich genauso wenig dafür wie sie. Was war sie nur für ein Scheusal, so krass zu reagieren?
Jetzt hatte sie mit ihrer üblen Laune auch noch Marius vergrault. Obwohl, der hatte mit seinem eigenen schlechten Benehmen wohl eher sie vergrault und konnte sie deswegen mal kreuzweise. Trotzdem, sie hatte aus Frust gehandelt. Nun war sie solo – wieder mal. Schlagartig wurde sie traurig, denn plötzlich fühlte sich schrecklich allein. Das hatte allerdings weniger mit Marius zu tun. Nein, es war die Erkenntnis, nicht mehr richtig zur geliebten Familie dazuzugehören, die sie von einem Moment zu nächsten so schwer traf. Völlig aufgelöst warf sie sich zurück aufs Bett und fing bitterlich zu weinen an.
Tief in ihrem Gefühlssumpf versunken bemerkte sie zunächst nicht, dass es an der Tür klopfte. Deswegen war es für einen Protest zu spät, als ihr Bruder die Tür aufmachte und einfach hereinkam. Noch dazu setzte er sich zu ihr aufs Bett und streichelte ihr sanft den Rücken.
»Der Typ ist ’n echtes Arschloch, Lena«, meinte Jens. »Gut, dass du dem den Laufpass gegeben hast.«
Abrupt richtete sie sich auf. »Wieso weißt du davon? Hast du das etwa mit deinem komischen Elfenradar gesehen?«
Er lachte kurz auf. »Elfenradar? Gut gesagt, Lena. Aber nein, mein Elfenradar funktioniert nicht so wie Annas. Wenn überhaupt, dann am besten bei ihr. Sonst klappt es nur selten. Na, ist ja auch egal.« Er deutete auf Lenas Handy, das stumm auf der Kommode neben dem Bett lag. »Nee, Marius hat mich angerufen und ziemlich fies angemacht. Er sagt, du hättest dich total scheiße benommen. Es wäre peinlich gewesen, wie du aus dem Club gestürmt und einfach abgehauen wärst. Dann konnte er dich nicht erreichen. Tja, da musste ich wohl dran glauben.«
Jens bedachte sie mit einem bewundernden Blick aus seinen ruhigen grauen Augen. »Coole Sache, Lena. So, wie der mich am Telefon angeschnauzt hat, ist es wohl besser, dass du Schluss mit dem gemacht hast. Der hat sie ja wohl nicht alle! Das hab ich dem Blödmann auch sehr deutlich zu verstehen gegeben.«
Lena schniefte. »Das war’s dann wohl mit Marius.« Sie wischte sich die Tränen mit ihrem Taschentuch fort und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ach was, das wär ohnehin nicht mehr lange gutgegangen.«
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