Ohne weitere Umschweife gelangten ihre Gedanken nun wieder zu ihrer eigenen Familie. Wie konnte das alles nur möglich sein? …
»Lena, verdammt, ich rede mit dir!«, schnauzte Marius sie nun an. »Kannst du mir nicht mal zuhören, wenigstens ab und zu? Mann, da wär ich schon zufrieden«, murmelte er noch hinterher.
Sie schnitt den letzten Gedankenfaden ab und seufzte schwer. »Na, dann lass es halt.«
»Was? Was soll das heißen: Na, dann lass es halt?«
»Hhm?« So ganz war sie wohl doch nicht bei der Sache.
»Leenaa, was soll ich lassen?«
»Was du willst, Marius. – Mich verstehen, mit mir reden.«
Marius’ goldener Teint färbte sich leicht rötlich. »Ich hab mich den ganzen Tag auf dich gefreut. Nun sei doch nicht so zickig!«
»Zickig? Sag mal, geht’s noch?« Lena konnte es nicht fassen. Merkte er denn nicht, wie schlecht sie drauf war? Zu allem Überfluss würde er sie bestimmt gleich fragen, ob sie ihre Tage hätte. Das hatte er schließlich schon einmal gebracht. Am besten käme sie ihm zuvor: »Marius, ich bin einfach hundemüde und kaputt. Das war heute ein anstrengender Tag. Außerdem habe ich Kopfweh.«
»Ach nee! – Und heut Abend hab ich Kopfweh . – Na prima, das ist doch wohl nicht dein Ernst?«, maulte er. »Wir waren gestern schon nicht zusammen.«
Lena spürte die Hitze in sich hochschleichen und wie sie puterrot vor Ärger wurde. Wenn Marius glaubte, dass sie mit ihren neunzehn Jahren diesen Song von Ireen Sheer nicht kennen würde, dann irrte der sich aber gewaltig. Schließlich hatte sie eine Mutter, die das Lied nur zu gerne beim Kartoffelschälen in der Küche mitsang, wenn es im Radio lief, und sich dabei immer köstlich amüsierte.
»Also gut, Marius, hör mir zu. Du fragst mich nicht, wie mein Tag war. Ich dich schon. Du fragst mich nicht, wie es mir geht. Ich dich schon. Du fragst ja nicht mal, was ich nach Feierabend machen möchte oder was ich trinken will, sondern du bestimmst es mal wieder. Und wenn du jetzt auch nur ansatzweise glaubst, dass ich heute zu dir in die Kiste hüpfe, dann hast du dich aber geschnitten, mein Freund!«
»Sag ich doch: Kopfweh.«
»Ja, das habe ich. Und du hast nicht gerade dazu beigetragen, dass es mir besser geht, ganz im Gegenteil. Ach, was rede ich überhaupt?«
Sie kramte einen Zehneuroschein aus der Handtasche, knallte ihn auf den quietschroten Resopaltisch und schnappte sich ihre Jacke.
Noch während Marius mit Staunen beschäftigt war, meinte sie: »Für den köstlichen Drink. Mach’s gut, Marius. Tschö!«
»Lena, verdammt!«, brüllte er ihr hinterher.
Doch sie drehte sich nicht mehr um, sondern ging einfach weiter und machte ihrem Unmut mit einer rüden Geste des Mittelfingers ihrer erhobenen linken Hand Luft.
Sie hielt nicht mehr an, bis sie an der Bushaltestelle angekommen war, ignorierte das ständig nörgelnde Handy und stellte es dann kurzerhand aus. Glücklicherweise kam ihr Bus schon bald, brachte sie zum fünfzehn Kilometer entfernten Heimatörtchen und damit auch nach Hause. Endlich!
***
Eine Stunde später hatte Lena ein Aspirin geschluckt, sich die Zähne geputzt, gewaschen, sorgfältig abgeschminkt und eingecremt und ihr penibel gebürstetes Haar zu einem lockeren Zopf geflochten. Ihre Eltern schliefen bereits. Der zwanzigjährige Bruder Jens war bestimmt noch bei seiner Freundin Silvi. Also legte sie sich in der Hoffnung, möglichst bald einzuschlafen und zu vergessen, im kuscheligen Flanellpyjama ins Bett.
Das Handy hatte sie nicht wieder eingeschaltet. Mit dem Typen war sie endgültig fertig. Der war ihr bereits seit geraumer Zeit ziemlich auf die Nerven gegangen mit seiner bevormundenden Art. Sechsundzwanzig hin oder her, sie war mit ihren neunzehn Jahren ja auch kein Kind mehr und hatte es nicht nötig, sich so herablassend von ihm behandeln zu lassen. Gott sei Dank war sie ihn nun los. Punkt um!
Trotzdem war sie sauer, stinksauer! Allerdings nicht auf Marius. Der war Peanuts gegen ihre anderen Probleme. Nein, sie war sauer auf ihre Familie und das kam selten bei ihr vor. Eigentlich ließ sie sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen.
Nur die Erlebnisse des gestrigen Abends hatten sie komplett aus der Bahn geworfen. Sie hatte heute den ganzen Tag versucht, nicht daran zu denken. Die Arbeit im Friseursalon, sogar Marius hatten sie einigermaßen abgelenkt.
Aber jetzt gab es keine solche Ablenkung mehr und schon ging es wieder los: Die Gedankenschleifen zogen erneut ihre Kreise. Das war einfach zu viel, fand sie. Wieso Anna? Wieso Jens? Wieso nicht sie?
In dem Bewusstsein, sowieso nicht schlafen zu können, machte sie das Licht, das sie gerade erst gelöscht hatte, wieder an und hockte sich aufs Bett.
Gedankenversunken starrte sie in den runden Spiegel an der Wand, blickte geradewegs in ihre ausdrucksvollen grau-grünen Augen. Schnell wandte sie sich dem großen Gemälde zu, das über Annas Bett hing. Sie mochte dieses Bild. Viktoria, die Zwillingsschwester von Annas Freund, hatte es gemalt und Anna vor fünf Monaten zum siebzehnten Geburtstag geschenkt.
Lena gefiel das mystisch, geheimnisvoll anmutende Motiv, die warme, luftig sonnige Farbwahl. Es stellte eine Lichtung inmitten eines hellen Waldes mit einem kleinen Bach dar. Den Bach konnte man regelrecht plätschern hören, fand Lena. Über dieser sonderbaren Lichtung strahlten zwei Sonnen gleichzeitig. Das hatte auf Lena stets faszinierend gewirkt.
Doch auch dieses Bild erschien ihr nun anders als zuvor. Sie wusste nicht, ob es ihr überhaupt noch gefiel.
Trotz der immer noch bohrenden Schmerzen schüttelte sie vehement den Kopf. Bereits zum x-ten Mal dachte sie über diesen verflixten Abend nach. Den Abend, der ihre wohlgeordnete Welt ins Wanken gebracht hatte. Den Abend, an dem sie sowohl von ihren Eltern als auch von Anna und Jens hatte erfahren müssen, dass beide Geschwister anders waren als sie, dass einfach Alles anders war.
… Zunächst gestaltete sich das Familienzusammensein wirklich nett: Sie hatten es sich im Wohnzimmer mit Tee und Keksen auf Sofa und Sesseln so richtig gemütlich gemacht. Nur sie fünf. Das hatte es seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gegeben.
Im Grunde genommen fand sie ihre beiden Geschwister und sich schon etwas zu alt für so einen Familien-Spiele-Abend. Das galt selbst für Anna, die die schräge Teeniezeit vollkommen ausgelassen zu haben schien und sich mittlerweile von niemandem, auch nicht mehr von ihrem Bruder Jens, etwas sagen ließ. Dennoch waren sie für solch traditionelle Familienzusammenkünfte hin und wieder zu begeistern.
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