Zu Beginn spielten sie ein paar Runden Kniffel . Lena war im Begriff, die Familie vernichtend zu schlagen, was ihr natürlich großen Spaß bereitete. Allerdings reichte dieser Spaß nicht aus, um ihren unterschwelligen Ärger völlig zu unterdrücken. Sie hatte sich wieder mal mit Marius gestritten. Dieses Mal, weil er bei dem Spieleabend unbedingt hatte dabei sein wollen, sie aber einmal etwas ohne ihn machen wollte. Auch wenn es nur ein Abend mit der Familie war.
Zu Anfang bemerkte sie nicht, wie ihre Eltern ständig Blicke mit Jens und Anna austauschten und das während des Spieles dahinplätschernde Gespräch peu à peu auf Viktor lenkten. Er würde später mit seinem Vater vorbeikommen, hatte Anna erwähnt, so ganz nebenbei.
Lena erinnerte sich, wie ihr Annas Worte einen Stich versetzt hatten. Eigentlich sollte es ein reiner Familienabend sein, nur zu fünft. Also fragte sie sich, was Annas Freund und noch dazu dessen Vater dabei zu suchen hätten. Da hätte sie Marius ja doch mit dazu einladen und sich den ganzen Stress mit ihm sparen können. …
Bei dem erneuten Gedanken an Marius verdrehte Lena die Augen, konzentrierte sich aber wieder auf den Abend:
… Selbst Jens’ Freundin Silvi, die sozusagen zur Familie dazugehörte, war nicht dabei.
Doch sie wäre ja nicht Lena, wenn sie den aufkeimenden Unmut nicht einfach hinunterschluckte. Und das hatte sie auch getan.
Allerdings begann ihr Vater mit einem Male damit, eigenartige Dinge zu sagen. Er sprach von übernatürlichen Kräften, anderen Welten und fragte sie tatsächlich, ob sie an solche Dinge glauben würde. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Lena traute ihren Ohren nicht. So was Bescheuertes aber auch! Sind wir hier auf der Enterprise und suchen in unendlichen Weiten nach neuen Welten?, dachte sie entrüstet. Hätte sie gewusst, dass die Science-Fiction-Liebe ihres Vaters diese Ausmaße annehmen würde, hätte sie ihm die DVD’s mit den alten Star-Trek -Schinken niemals zu Weihnachten geschenkt. Warum nur fragte er sie so schwachsinniges Zeug?
Lena spürte, wie ihr der Geduldsfaden riss. Erst die nervige Zankerei mit Marius und nun dieses eigenartige Gerede. Wütend pfefferte sie sämtliche Würfel in die Ecke und wollte wissen, was das ganze Gefasel sollte. …
Sie sah das Szenario wieder vor sich, hatte noch die Stimme ihrer Mutter und der anderen Familienmitglieder im Ohr:
… »Lena, Schatz, bitte reg dich doch nicht so auf«, versuchte Theresa, sie zu beschwichtigen. »Papa will dir doch nur was erklären.« Sie machte eine kleine Pause und sah Johannes dabei an. Dann sprach sie weiter: »Pass auf, hhm, es ist etwas schwierig und vielleicht glaubst du mir und den anderen auch gar nicht. Aber wir finden nun mal, du solltest es erfahren. Du sollst wissen, was los ist.«
»Mensch, Mama!«, rief Lena ungeduldig aus. » Was ? Was soll ich denn wissen? Ihr redet die ganze Zeit um den heißen Brei herum. Das macht mich ganz kirre. Also, was ist los, Herrgott nochmal?«
Theresa ergriff Lenas Hände und eröffnete ihr leise die vermeintliche Wahrheit: »Weißt du, Lena, es geht vor allem um Viktor, seine Schwester Viktoria und deren Vater. Nun …«, Theresa zögerte ein wenig, fuhr aber hastig fort, weil Lena ihr ungehalten die Hände entziehen wollte, »… die sind nicht so wie wir. Die verstorbene Mutter der Zwillinge war zwar eine ganz normale Frau, ja, aber Vitus, der ist kein Mensch, Lena. Vitus kommt aus einer anderen, uns fremden Welt.«
Sie räusperte sich. »Er stammt aus einer Elfenwelt. Er ist ein Elfe, sogar ein Elfenkönig. Viktor und Viktoria sind somit zumindest halbe Elfen.«
Lena sprang vom Sessel auf und zeigte ihrer Mutter einen Vogel.
»Elfen? Bei dir piept’s ja wohl, Mama! Entschuldige bitte, aber was soll denn der Scheiß? Habt ihr heute Abend vor, mich zu verarschen, oder seid ihr einfach nur sauer, weil ich so oft beim Kniffel gewonnen habe?«
»Lena!« Auch Johannes war aufgestanden. Er sah seine Tochter böse an. »Das hört sich bestimmt unglaublich für dich an und ich kann verstehen, dass du aufgebracht bist. Trotzdem redest du nicht in diesem Ton mit deiner Mutter, verstanden! Du setzt dich sofort wieder hin und hörst zu, was wir dir zu sagen haben! Und glaube mir, Lena, wir erzählen dir hier nichts, was nicht stimmt. Niemand will dich auf den Arm nehmen.«
Lena schnaubte, schüttelte das zurzeit platinblonde überschulterlange Haar nach hinten, strich es sich dann noch einmal aus dem Gesicht. Eigentlich hatte sie die gleiche helle, makellose Haut wie Anna, doch wusste sie, dass ihr Gesicht im Augenblick sicherlich rotfleckig vor Zorn und Unsicherheit war. Trotzig verschränkte sie die Arme vor der Brust, setzte sich widerwillig hin und funkelte die anderen angriffslustig an.
»Dann mal weiter mit der Märchenstunde«, meinte sie zynisch, schmollte und forderte danach ihre Schwester auf: »Na los, Anna, schließlich geht’s doch um deinen schönen Viktor. Erklär du mir, was Mama und Papa meinen.«
Stirnrunzelnd verfolgte sie, wie ihre Schwester verlegen die Brille zurechtrückte und das Gesicht verzog, als wollte sie gleich losheulen. Das passte gar nicht zu ihr. Jedenfalls seit einiger Zeit nicht mehr. Früher ja. Aber jetzt?
Anna hatte sich nämlich stark verändert, seit sie ihren Viktor kennengelernt hatte. Einen tollen, wirklich fantastisch aussehenden Typen, wie Lena fand. Manchmal war sie sogar ein kleines bisschen neidisch.
Viktor wirkte mit seinen fast neunzehn Jahren ebenso erwachsen wie Anna. Er war stets aufmerksam und liebevoll zu ihr. – Anders als dieser Idiot Marius! Zwar konnte Viktor ab und an auch ziemlich bestimmend sein, doch das nutzte ihm reichlich wenig. Anna ließ sich inzwischen nicht mehr einfach so bevormunden.
Ja, Anna hatte sich in den letzten Monaten wirklich erstaunlich entwickelt. Darüber hatte Lena sich gefreut. Doch jetzt beobachtete sie überrascht, wie ihre Schwester betreten rumdruckste und dann flink auf dem Boden herumkrabbelte, um nach den blöden Kniffel würfeln zu suchen, anstatt ihr zu antworten. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Deswegen ärgerte es sie auch, als Jens einfach an Annas Stelle das Wort ergriff: »Es ist genau, wie Mama gesagt hat, Lena. Vitus ist der König des westlichen Elfenreiches, wirklich. Ich war selbst schon einmal dort. Glaub mir, das gibt es echt. Wenn du willst, kannst auch du es kennenlernen. Aber erst wollten wir dir gerne erzählen, was an den Elfen so anders und so besonders ist, ja, und dass Anna und ich auch nicht ganz so normal sind.«
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