Goll-Teja rauchte vorsichtig in einer selbstbewussten und bedeutsamen Art, die ich lächerlich fand. Auf einen Streit mit Goll ließ sich aber keiner von uns gern ein, seinen galligen Spott, seine Ironie ertrugen wir nicht. Düster blickten die dunklen, etwas trüben Augen auf das glimmende Ende der Zigarette. Sein Bein würde sich nicht mehr bessern, er hatte oft starke Schmerzen und musste deshalb Tabletten nehmen. Irgendwie hob ihn das alles heraus und prägte ihn. Er trat ans Klavier, die Zigarette im Mundwinkel, und unterhielt uns mit Schlagern aus jener Zeit. Er spielte nicht mehr so exakt wie früher. Wir kamen uns ziemlich erwachsen vor.
Jendokeit war seiner Querflöte treu geblieben. Er paffte jetzt hastig, ohne den Rauch einzuatmen, und Tränen rollten aus seinen Augen.
»Schlappe Sau«, bemerkte Schott, »du musst den Rauch einatmen.«
Er machte es vor, aber Jendokeit war so vernünftig, ihm dieses Kunststück nicht nachzumachen.
Bruchner rauchte besser, was ihm Schotts Lob eintrug. Bruchner hielt sich jetzt an uns. Sein Vater war eingezogen; Jendokeits Vater war eingezogen, Schotts Vater war eingezogen, nur Gons Vater, der Schriftleiter, stand an der Heimatfront. Zwar trug er eine Uniform, nannte sich Frontberichterstatter und war oft wochenlang abwesend, aber ein Soldat war er trotzdem nicht.
Ich tat, als verstünde ich was vom Rauchen, und es gelang mir, Schott zu täuschen. Mein Körper sperrte sich gegen die Zumutung, dass ihm statt Luft Rauch zugeführt werden sollte. Hustenanfälle würgten mich, wenn ich einen Lungenzug riskierte, und schließlich drückte ich den Stummel aus und war froh, dieses Männerspiel hinter mich gebracht zu haben.
»Weiber sollen auch mitfahren«, bemerkte Schott.
Mit unserem Transport sollten Mädchen nach Oberschlesien gebracht werden. Mädchen begannen uns zu fesseln; manche waren sichtlich entwickelt. Schott erbot sich, seine Männlichkeit zu beweisen. Goll sagte kühl; »Lass deinen Penis, wo er ist.« Er lächelte. »Sera juvenum venus, eoque inexausta..., und so weiter. Tacitus, Germania.«
Schott stöhnte gequält.
»Spät erst lernen die Jungen die Liebe kennen - ich nehme an, wir werden demnächst wieder auf Tacitus verwiesen werden. Ich habe mich vorher umgesehen.«
Er war uns voraus, Tacitus hätte keiner von uns übersetzen können; es hieß, wir würden wieder Unterricht in Latein bekommen.
Später langte Goll in sein Bücherregal und legte uns den Band Tacitus vor. Er enthielt eine Übersetzung, sie war handschriftlich kommentiert, ich nahm an, von Golls Vater.
»Mein Großvater hat mich heute gefragt, was ich werden will«, ein Themawechsel schien mir fällig, und auf die Frage des Alten hatte ich mir überlegt, was ich werden könnte, und wollte hören, wie die anderen darüber dachten.
»Und was hast du gesagt«, fragte Bruchner.
Bruchner hatte unter uns wenig Gesicht. Er tat, was man von ihm verlangte, ohne zu meckern, aber ihm fehlte Begeisterung, wie uns schien. »Nichts, keine Ahnung.«
Die anderen stimmten zu.
»Was soll diese Scheißfrage«, sagte Schott. »Solange Krieg ist, gehen wir sicherlich zur Penne - wie lautet der Lehrsatz, nach welchem im Dreieck die Kathetenquadrate gleich ...«
»Ganz recht«, pflichtete Goll bei, »wir haben sechs Jahre vor uns. Da ist der Krieg zu Ende, und Europa sieht anders aus.«
»Und wenn, er länger dauert«, fragte Schott, »dreißig Jahre?«
Es ging über unsere Vorstellungskraft, was wäre, wenn der Krieg so lange dauerte.
»Ich frage mich«, sagte Goll, »ob ich eigentlich gern nach Oberschlesien fahre. Ich meine, was machen sie denn da mit uns?«
»Wir sollen doch wegen der Bomben aus Berlin weg«, warf ich ein.
Bruchner sagte: »Mein Vater ist vermisst, bei Leningrad.«
»Seit wann weißt du das?«, fragte Goll sachlich.
»Seit gestern.«
»Du musst dich auf alles gefasst machen«, meinte Goll. »Gefangene machen die Bolschewisten nicht.«
»Wenn mein Vater gefallen sein sollte, nimmt mich meine Mutter von der Schule sagt sie.«
Die Schule kostete monatlich zwanzig Mark, außerdem kamen fast alle halbe Jahre die Kosten für Schulbücher hinzu und Lernmittel, Rechenstäbe, Atlanten. Die hohe Schule stellte auch höhere Kostenforderungen bei den, freien Veranstaltungen, den Radtouren, den gemeinsamen Ferien und Theaterbesuchen.
»Wo hat dein Vater gelegen?«
Goll breitete die Karte aus, wir suchten den Ort, wo Bruchners Vater vermutlich gefallen war. An seinem Tod zweifelte keiner.
Dann fragte Schott: »Was sind denn eigentlich Bolschewisten?«
»Die sind anders als wir«, Jendokeit griff in das Gespräch ein, »mein Vater sagt, sie erscheinen uns nur als Menschen, in Wirklichkeit sind sie tief unter Menschen stehend.«
»Die haben wahnsinnig viel Land.«
Jendokeit zeigte die leeren Hände. »Wir haben ja gesehen, wie es im Sowjetparadies zugeht. «
Er spielte auf eine Ausstellung an, die in einem Zeltbau auf dem Berliner Lustgarten von sich reden gemacht hatte. Natürlich waren wir hingegangen. Folter- und Verhörmethoden der GPU waren dort geschildert, Menschen in gewöhnlichen Lebenslagen wurden gezeigt: abgehärmt, mangelhaft bekleidet, schmutzstarrend und bösartig.
»Genau«, sagte Jendokeit, »stellt euch vor, die kommen zu uns her. Die schlachten alles ab.«
Bestätigend nickte Goll. »Mein Vater ist ja da gewesen, er hat erzählt, dass er manchmal entsetzt war über den Dreck und die Armut.«
Schott: »Wieso nennen sie diesen Misthaufen dann selbst ein Paradies?«
»Vielleicht war es vorher noch dreckiger«, sagte Goll. »Wisst ihr, was Pfordte gesagt hat?« Pfordte gab Geschichte. »Dieses Land hat noch nie einer besiegt.«
Auf mich hatten weniger die Worte, mochten sie eine Tatsache ausdrücken oder nicht, Eindruck gemacht, als der Tonfall der Sorge. Pfordte hatte beide Hände auf die Karte gelegt; das Gebiet von der Weichsel bis an den Pazifischen Ozean umspannend.
»Wir wissen sogar noch mehr«, wandte sich Goll an mich, »mein Vater hat anfragen lassen, wie Pfordtes Äußerung zu verstehen sei. Darauf hat der Herr Oberlehrer eine schriftliche Erklärung abgegeben, er zweifle selbstverständlich nicht daran, dass der Führer Stalin in die Knie zwingen
werde.«
»Sieg heil«, sagte Schott, »Pfordte ist ein Arschloch. Warum hatten wir eigentlich einen Pakt mit Stalin?«
Wir verquatschten den Nachmittag.
Die anderen gingen, ich blieb und aß mit den Golls zu Abend.
»Ihr werdet ein schönes Stück von der Welt sehen«, sagte Herr Goll.
»Du musst noch einen Brief schreiben«, sagte die Mutter, »Ludwig kann nicht alles mitmachen mit seinem Bein.«
»Ich werde schreiben, beruhige dich. Und Ludwig wird wohl allein entscheiden können, wozu er körperlich imstande ist und wozu nicht.«
Goll-Teja nickte.
Der Vater redete weiter. »Es ist vielleicht ein bisschen hart für euch, schließlich seid ihr noch keine Erwachsenen, aber im Lager ist es jedenfalls besser als hier. Die Luftangriffe dieser Gangster zwingen uns zu Evakuierungen. Vor allem müssen wir die Jugend vor Schaden bewahren.«
Der Schriftleiter flößte mir viel Respekt ein.
»Bruchners Vater ist bei Leningrad gefallen, Vater«, sagte Goll.
»Die arme Frau.« Es war das erste Mal, dass sich Golls Mutter am Gespräch beteiligte.
»Der Krieg wird spätestens in einem Jahr zu Ende sein.
Dann sind die Kräfte der Russen erschöpft. Sie müssen einen Waffenstillstand anbieten. Das entlastet die Westfront - kurz gesagt, ihr seid noch zu wenig mit Wissen ausgerüstet, um alle Einzelheiten zu erkennen, aber in spätestens einem Jahr trägt Europa ein anderes Gesicht, das Gesicht des Deutschtums. Natürlich ist jeder Gefallene ein Toter zu viel, Ludwig.«
Wir schwiegen und aßen weiter.
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