Eines Tages kam ich zu seinem Haus und er zeigte mir seine neue Schallplatte. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich die Musik von Guns‘n Roses.
Das war so anders, so viel besser als alles, was ich je zuvor gehört hatte. Ich war zwar noch sehr jung, aber ich wusste schon, wie gute Musik klang. Gut, das könnte dann noch ein schöner Moment in meiner Kindheit gewesen sein. Besonders war er definitiv.
Ein halbes Jahr später musste ich wieder ein Mal von einem sehr engen Freund Abschied nehmen, denn wir zogen ein weiteres Mal um. Mika kam mich zwar ein paar Wochen später in unserem neuen Wohnort besuchen, aber auch das letzte Mal.
Wieder ein neues Bett, ein neues Haus, ein neuer Garten, eine neue Stadt, eine neue Schule, eine neue Klasse, wieder neue Gesichter, andere Gesichter. Aber sie schienen alle ganz ok zu sein. Ich hatte definitiv mehr Freunde in dieser Zeit.
Mein bester Kumpel Karl lebte auf der anderen Straßenseite in einer großen Gärtnerei. Mit seinen beiden besten Kumpels Leo und Stefan wurden wir eine ziemlich coole Gruppe, während wir so jeden Tag in der Gärtnerei auf der Suche nach neuen Abenteuern waren und versuchten, die Welt zu entdecken.
Stefan musste immer früh nach Hause, zum Abendessen, sagte er. Wir haben uns immer über ihn lustig gemacht. Aber seine Mutter war einfach sehr besorgt, sie arbeitete viel und war alleinerziehend. Manchmal musste er auch nach der Schule zu seiner Großmutter gehen.
Sie tat mir sehr leid, nachdem ich realisiert hatte, dass er immer Geld von ihr stahl. Ich fühlte mich schrecklich, dabei zu zusehen, wie er dieser alten, verwirrten Frau erzählte, dass die fünf Brötchen fünf Mark gekostet haben oder die Flasche Cola 4,50 Mark.
Ich habe mich eigentlich nie wohl gefühlt in der Gegenwart der Familien meiner Freunde. Ich hatte immer das Gefühl, dass sie mich auf eine seltsame Art und Weise ansahen und ich wusste nie warum. Ich fühlte mich nie willkommen. Ich hatte immer das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben.
Später wurde Angela eine sehr gute Freundin von mir. Sie war wirklich lieb, das totale Gegenteil von mir und so waren ihre Eltern. Christen. Ich habe bis ich sieben Jahre alt war nicht einmal gewusst, wer Jesus ist. Die Beiers beteten immer vor jeder Mahlzeit. Das war mir immer so unangenehm, aber Angelas ältere Schwester mochte es auch nicht. Sie glaubte nicht an Gott und so fühlte ich mich etwas besser.
Sie war das erste Mädchen, das viel älter war als ich, mit dem ich mich richtig gut verstand. Ich fing an, mehr und mehr mit älteren Mädchen abzuhängen. Ich war immer ein bisschen reifer als die Freunde in meinem Alter. Ich habe mich manchmal stundenlang mit Sabine in ein Gespräch verwickelt, während Angela leise in der Ecke saß.
Das Gleiche geschah mit Karls Schwester, die drei Jahre älter war als ich. Wir sollten sehr enge Freunde bleiben. Wir fingen an, uns morgens im Bus zu unterhalten, nachdem ich mich wie auch schon Julika einige Jahre zuvor entschieden hatte, in der Stadt auf eine bessere Schule zu gehen. Das war ein sehr wichtiger Schritt in meinem Leben. Ich kam endlich aus diesem Dorfleben raus und bekam die Gelegenheit, etwas mit meinem Leben anzufangen. Ich liebte es, weg von meinem Dorf zu sein.
Diese Jahre in der Schule waren die besten Jahre meines Lebens. Damals hasste ich es manchmal so sehr, aber jetzt ist mir bewusst, wie cool es eigentlich war.
Es ist immer das gleiche von einer Generation zur nächsten. Die Älteren sagen immer zu den Jüngeren, wie sehr sie die Schulzeit vermissen und wie sehr sie doch diese Zeit zu schätzen wissen sollten. Aber während man diese Zeit tatsächlich erlebt, hat man nicht das Gefühl, dass alles so einfach ist.
Man versteht nicht, wie viel mehr Verantwortung man zehn Jahre später haben wird. Man weiß nicht, wie stressig es ist, jeden Tag auf die Arbeit zu gehen oder zu studieren oder sich mit formellen Dokumenten rumzuschlagen,
Rechnungen zu zahlen, sicher zu gehen, dass immer genug Geld auf dem Konto ist. Nein, man hat viel mehr Probleme, größere Probleme.
Man weiß nicht, wer man ist, man mag sich selbst nicht, man weiß nicht, wie man sich vor dem anderen Geschlecht verhalten soll. Man muss erkennen, dass die Welt grausam und hässlich sein kann, dass die Gesellschaft langweilig ist, kontrolliert, auf zig Regeln basiert und dass es das ist, mehr kommt nicht.
Man weiß nicht, warum man in die Schule geht. Dafür, was vor einem liegt? Nicht wirklich.
Warum ich das ganze hier erzähle? Ich weiß es selbst nicht so genau. Vielleicht um zu zeigen, dass sich manche Dinge nie ändern oder nur die Verpackung.
Ich glaube, jeder kennt das Gefühl, genau zu wissen, dass jemand sein Versprechen nicht einhalten wird.
Ich wusste, dass Sam mir nicht die Hälfte meines Flugtickets bezahlen würde wie er es zwei Monate zuvor versprochen hatte. In einer unserer Lieblingsbars, in der in dieser Nacht viel Tequila fließen sollte.
Ich wusste auch, dass er nie wieder ein Wort darüber verlieren würde. Er hatte es sogar aufgeschrieben, ein Mal für mich und ein Mal für ihn, damit er sich am nächsten Tag daran erinnerte. Unbedingt wollte er, dass ich wieder komme und vielleicht sogar Managerin in seinem Hostel werde.
Aber gut. Mir war klar, dass man Sam nicht für voll nehmen konnte und eigentlich wollte ich nur wieder weg. Weg von den Orten, die nur Erinnerungen hochbrachten, die ich nicht ertragen konnte.
Nun stand ich da, mit meinen 22 Jahren, einem Hotelmanagementabschluss in der Tasche, am Flughafen in Sydney, sieben Uhr morgens und kein Sam, der im Übrigen auch versprochen hatte, mich abzuholen.
Ernüchtert zog ich ein Ticket für den Zug und machte mich auf zu Circular Quay, um mich von der süßen alten Fähre mit runtergekommenen Sitzen und abblätterndem Anstrich eine halbe Stunde nach Manly durch einen vielversprechenden, trotzdem noch kühlen Morgen schippern zu lassen.
Es war ein überwältigendes Gefühl, als ich am Hafen ankam und die gewaltige Harbour Bridge erstreckte sich auf der linken Seite. Ich setzte mich auf eine Bank und die berühmte Sydney Opera lächelte mich verschlafen an.
Was ich in diesem Moment sah, kannten andere nur von der Postkarte. Und wie wunderschön diese Stadt wirklich war.
Ich war tatsächlich wieder in Australien.
Ich kam zurück nach Manly und es schien sich nichts verändert zu haben. Das Hostel, das vier Monate mein neues zu Hause gewesen war, schlummerte ruhig und still vor sich hin. Der Schatten lag tief auf dem weinroten Gebäude, das sogar durch die grauen Säulen der Balkone immer noch edel auf mich wirkte. Mein Schlüssel funktionierte sogar noch, bemerkte ich, als ich die weiße Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz im Türschloss schob und mir ein kurzes Klick-Geräusch mit einem gleichzeitig grün aufleuchtenden Lämpchen signalisierten, dass ich eintreten konnte. Keine Menschenseele war zu sehen, die Rezeption war leer.
Wo sind die denn alle? Ob Sam noch in Nr. 40 wohnt?, fragte ich mich.
Geschafft von dem langen Flug und der schweren Tasche, schleppte ich mich in den zweiten Stock und klopfte an die Tür von Nr. 40.
„Sam, bist du da? Hallo? Sam?“, fragte ich vorsichtig.
Niemand hörte, da schaute ich doch einfach mal nach. Da mein Schlüssel ja für alle Türen im Haus funktionierte, machte ich einfach auf und fand einen total fertigen, die ganze Nacht durchgemachten Sam halbtot im Bett vor. Nach ein paar Rüttlern konnte ich ihn zur Besinnung bringen und wie immer stand der blond gelockte Kerl innerhalb von zwei Sekunden top fit vor mir. Wie konnte man immer so guter Laune sein?
„Hey, Sonja, du bist schon da? Wie bist du denn hier her gekommen? Man, du siehst gut aus, lass dich umarmen.“, rief er freudestrahlend.
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